Klartext

Der beste Wein kommt zum Schluss!

Text: Nicole Harreisser nicole.harreisser@vinum.ch, Foto: VINUM

In trauter Weinrunde zu sitzen, hat schon was. Feinste Kochkunst des Gastgebers, vorzügliche Weine, von den Gästen zum illustren Abend beigesteuert. Wenn die Augen klein werden und man schon fast das Taxi für den Heimweg geordert hat, springt der Gastgeber auf und stürzt nochmals in den Keller...

Die hohe Kunst der Abendeinladung mit exklusiver Weinbegleitung: ein schöner Tisch, liebevoll mit blank poliertem Tafelsilber und allerbestem Porzellan eingedeckt, mundgeblasene Gläser und ein im Kerzenlicht schimmernder silberner Weinkühler. Herrlich! Seit Stunden schon steht der Hausherr fleissig in der Küche. Dampfwolken entweichen dem Ofen, anregenden Brotduft verströmend, genau rechtzeitig ist das Natursauerteigbrot fertig gebacken, bevor der Fisch aus Wildfang in Salzkruste in selbigen hinein muss. Jetzt ist Zeit, die eine oder andere Flasche vorzubereiten, natürlich nur zur Sicherheit, denn eigentlich bringen die geladenen Freunde Raritäten aus ihren Kellern und Klimaschränken mit. Und die lassen sich normalerweise so gar nicht lumpen, und so versammeln sich peu à peu mit dem Eintreffen der Gäste hervorragende Gewächse aus Deutschland, Österreich, Italien und natürlich Frankreich auf dem speziell vorbereiteten Beistelltisch. Eine wahre Freude dieser Anblick, der sich einem nicht alle Tage bietet, auch nicht in dieser Runde! Der Abend ist noch recht jung, als man mit einem ersten Glas Jahrgangschampagner, natürlich einer der besten Jahrgänge, auf einen gelungenen Abend anstösst und der Gastgeber mit wehender Schürze erneut in die Küche wandert, um letzte Hand an die Vorspeise zu legen. Kurz darauf versammelt man sich am Tisch, die Vorspeise wird gekonnt serviert, und es sind nur noch verzückte Laute zu hören und ein dezentes Schlürfen an den neu gefüllten Gläsern. Herrlich, dieser Meursault, fein abgestimmt, als hätte ein Sternekoch mit seinem Sommelier die Auswahl getroffen und nicht bei der Einladung ein lapidarer Hinweis auf die Vorspeise den Ausschlag für diese eine Flasche gegeben. Und schon folgt der Hauptgang. Wiederum fein abgestimmt und auf den Punkt aus dem Rohr geholt. Begeisterter Applaus für den Koch! Die Gläser werden erneut gefüllt, sogleich erhoben, und das Tischgespräch wird immer angeregter und engagierter. Ein bisher sehr gelungener Abend! Welch eine Freude, in dieser auserwählten Runde beisammenzusitzen und zu geniessen. Die Magnum aus erneut französischer Provenienz begleitet den Fleischgang, ein Lammkarree mit delikater Kräuterkruste, und so langsam kehrt eine gewisse Träge am Tisch ein. Man ist satt und zufrieden, und ein zarter Schwips macht sich langsam bemerkbar. Es wurde ja nicht nur ein Wein zu jedem Gang auf den Tisch gebracht. Einfach wunderbar! Und der Abend ist noch nicht zu Ende…

Je später der Abend…

Es ist der Moment, um innezuhalten und den vielfältigen Aromen der bereits genossenen Weine nachzuspüren. Die Flaschen kreisen am Tisch, und es wird gefachsimpelt. Eigentlich der richtige Moment, das Taxi oder den Uber zu bestellen und nach Hause zu fahren. Aber weit gefehlt: Der von der illustren Gesellschaft, dem äusserst gelungenen Essen und den zahlreichen hervorragenden Weinen beflügelte Gastgeber ergreift das Wort: «Einen Wein kredenze ich euch noch, bevor ihr nach Hause geht. Ein echter Jahrhundertwein, glaubt mir das! Den habe ich für eine GANZ besondere Gelegenheit gelagert, und heute ist der Abend dafür. Ein Jahrhundertwein, ganz speziell für euch!» Die Schürze fliegt in hohem Bogen über den Stuhl, und er eilt zur vorbereiteten Magnumflasche. Mit leuchtenden Augen kehrt er zurück an den Tisch und giesst jedem, egal ob er denn nun noch will oder nicht, schwungvoll ein Glas ein und beginnt dann mit schon etwas schwerer Zunge über den Jahrhundertwein Jahrgang XY, ein absolutes Ausnahmegewächs, zu schwadronieren. Und das ist dieser Wein wirklich, ein Jahrhundertwein aus einem grandiosen Jahrgang, eine perfekt gereifte und gelagerte Flasche. Ein Genuss, der sich einem vielleicht nur einmal bietet und der einem Ehrfrucht lehren sollte. Doch es gibt ein «Aber». Zwei Tage später dann, beim Telefonieren mit einem der anderen Gäste dieses so aussergewöhnlichen Abends, fragt dieser ganz erstaunt: «Wie jetzt, den haben wir auch noch getrunken?» Ist es nicht traurig, wenn so ein Jahrhundertwein im finalen Strudel eines gelungenen Abends so sangund klanglos untergeht? Man soll aufhören, wenn es am schönsten ist, besagt ein Sprichwort, das so abgedroschen klingt, dass man sich gar nicht mehr traut, es zu zitieren. Auch wenn es doch immer wieder mal nötig wäre…