Jahrgang 1540 im Weinkeller des Bürgerspitals

Text: Arthur Wirtzfeld | 12. April 2016

DEUTSCHLAND (Würzburg) - Er ist wohl der älteste Wein der Welt. Dieser Weinschatz, überzogen von einer dünnen Staubschicht und leicht gekrümmt vom Alter, so scheint es, wurde gefüllt zu Zeiten von Anne Boleyn, Martin Luther, Nostradamus, Johannes Calvin, Kaiser Karl V. und zu Beginn der Renaissance, die sich damals endlich auch nördlich der Alpen ausbreitete. Das heutige Zuhause dieser kostbaren Weinflasche mit unverändertem Inhalt ist der weitläufige Weinkeller des Würzburger VDP Weinguts Bürgerspital. Hier, in einem Holzkasten mit Glasscheibe, weitgehend geschützt in einer Mauernische, verweilt dieser Wein leihweise neben weiteren historisch alten Weinen schon fünf Jahrzehnte.

Aus der berühmten Würzburger Spitzenlage "Stein" stammten einst die Trauben, die im Herbst des Jahres 1540 geerntet und dann in den Kellern vom Staatlichen Hofkeller vinifiziert wurden. Damals, es herrschte der heißeste Sommer seit Menschengedenken (Hitze-Jahr 1540*), dachte mit Sicherheit niemand daran, dass dieser Wein einmal das Prädikat "Jahrtausendwein" erhalten würde. Vor Kurzem hatte ich die Gelegenheit, diesen kostbaren Wein, der meist unter Schloss und Riegel weilt, näher zu betrachten und fotografieren zu dürfen. Dabei erzählte mir der Weingutsleiter Robert Haller von der beschwerlichen Reise dieses 1540-igers.

In den Wirren des 2. Weltkrieges nahm die jüdische Familie Simon die heute nachweisbar letzte Flasche des 1540er Steinweines mit auf die Flucht nach England. In den 1960-iger Jahren bot Henry G. Simon, Nachfahre der geflohenen Wiesbadener Winzerfamilie den Wein erst dem Staatlichen Hofkeller an, doch dort hatte niemand Interesse an einem Kauf, obwohl der Wein vom Hofkeller stammte. Als Nächstes wandte sich Simon an das Bürgerspital. Dort erfuhr der damalige Winzermeister und spätere Weingutsleiter des Bürgerspitals Rudolf Fries davon. Fries schaffte es in den Verhandlungen mit Simon, den Weinschatz als Leihgabe zu erhalten und somit übergab Simon fünf kostbare Weinflaschen, darunter auch die Flasche des Jahrgangs 1540 an Fries und dem Weingut Bürgerspital zur Obhut. "Der Wein", so verfügte damals Simon, "soll zurück in seine Heimat und in Würzburg aufbewahrt bleiben."

Henry G. Simon ist mittlerweile verstorben. Seine ihn überlebende Frau und seine zwei Töchter müssten nun den Verbleib der wertvollen Leihgaben im Weingut Bürgerspital genehmigen - eine Entscheidung ist noch nicht gefallen. "Ob wir die Weine auch weiterhin oder auf Dauer bei uns aufbewahren dürfen, ist also nicht sicher", sagt Haller. Im Weingut hat man sich auch schon eine Lösung überlegt, sofern diese kostbaren Flaschen eines Tages von den Eigentümern selbst verwahrt oder sogar verkauft werden sollten. "Sollte dieser Fall eintreten, denken wir an eine Kopie, um zu mindestens die Geschichte dieser Weinraritäten, die ja in Würzburg in der berühmten Lage Stein geboren wurden und in unserem Keller schon 50 Jahre verweilen, aufzubewahren", sagt Haller.

Und wie schmeckt dieser legendäre Jahrgang? Was für eine ungehörige Frage, die ich aber dennoch im Ansatz beantworten kann. Im Jahr 1961 fand eine Raritätenprobe in London statt, wo der "Weinpapst" Hugh Johnson eingeladen war. Aus dem Glas konnte Johnson zwei kleine Schlucke aus der damals noch vorhandenen zweiten Flasche des 1540-igers probieren. Johnson notierte: "Ehe der Wein durch die Berührung mit der Luft verging, war er noch erstaunlich lebendig. Nichts hat mich bisher so klar vor Augen geführt, dass Wein wahrhaftig ein lebendiger Organismus ist." 


*Hitze-Jahr 1540: Wenn wir heute von Hitzewellen sprechen, so ist dies nicht vergleichbar gegen das Katastrophenjahr 1540. Die Wetterdaten, jüngst ausgewertet von einem Forscherteam, enthüllen Europas größte Naturkatastrophe. 

Nichts hatte das Desaster angedeutet. Das Klima hatte sich zu Beginn des 16. Jahrhunderts erholt, milde und regenreiche Jahrzehnte ließen in Europa meist üppige Ernten gedeihen, die Bevölkerung mehrte sich rapide. Medizin, Kunst und Wissenschaft erblühten. Das Jahr 1539 verabschiedete sich mit stürmischem, mildem Westwind. Es regnete viel im Dezember, die Leute flüchteten in ihre Häuser. Sie ahnten nicht, wie kostbar der Niederschlag in Kürze werden sollte. 

Im Januar 1540 begann eine Trockenphase, wie sie Mitteleuropa seit Menschengedenken nicht erlebt hat, berichten die Wissenschaftler, die ein riesiges Archiv an Wetterdaten heben konnten. Mehr als 300 Chroniken aus ganz Europa werteten die Forscher aus, die grausame Details einer gigantischen Hitzekatastrophe im Jahr 1540 enthüllen. Elf Monate fiel kaum Niederschlag - die Forscher sprechen von einer "Megadürre". Das Jahr brach alle Rekorde: Entgegen bisheriger Einschätzung von Klimaforschern ist nicht der Sommer 2003 oder der Sommer 2015 der heißesten bekannten - 1540 habe diese bei Weitem übertroffen. Zu diesem Schluss kommt eine internationale Forschergruppe um Oliver Wetter von der Universität Bern, veröffentlicht im Fachblatt "Climate Change". 

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