Wein im Zeitraffer
Im Gespräch: Weinstile im Wandel der Zeit
Text: Arthur Wirtzfeld | Veröffentlicht: 30. Dezember 2018
DEUTSCHLAND (Würzburg) – Zum Ende des Jahres wünscht man seinen Freunden frohe Weihnachten und übermittelt Neujahrsgrüsse. Während dieses Procederes telefonierte ich mit Joe. Joe ist ein Pseudonym für meinen Weinfreund aus den USA. Er ist für mich so eine Art «Deep Throat» – Sie erinnern sich? Deep Throat war der geheimnisvolle Informant, der Bob Woodward und Carl Bernstein in der Watergate Affäre in die richtigen Bahnen lenkte. Joe ist ein erfahrener Weinkenner, lebt in Kalifornien und ist extrem gut vernetzt. Wir lernten uns schon in 2008 kennen, kurz nachdem ich mein Weinmagazin YOOPRESS online lancierte. Damals erhielt ich eine Mail von Joe. Darin stand sinngemäss in perfektem Deutsch der Hinweis, dass ich ein Detail in einem Beitrag über ein kalifornisches Weingut noch präzisieren könnte. Der ergänzende Textauszug wurde gleich mitgeliefert.
Daraufhin rief ich den mir Unbekannten an. Joe sagte, dass ihm mein Beitrag gefallen habe, nur ein Detail hätte ihn gestört, was man noch ausführlicher texten könnte. Ich bedankte mich artig für seinen Vorschlag und fragte ihn, was ich als Gegenleistung tun könne. Nun, meinte Joe, ich könnte ihm ab und an Details zu Weinthemen, Europa betreffend, verifizieren, die er aus der Entfernung nicht eruieren könne. Auf diesem Weg könnten wir gegenseitig Hintergründe prüfen, meinte Joe. Und so gingen die Jahre ins Land. Wenn ich investigativ in Nord- und Südamerika recherchieren musste, wenn ich Details überprüfen musste, dann kontaktierte ich Joe, umgekehrt er mich zu Themen in Europa.
In dem jüngsten Telefonat mit Joe erzählte er mir, dass er über die Weihnachtstage mit Weinfreunden diskutiert habe, wie sich der Wein im Laufe der Zeit verändert hätte. Die Meinungen hierzu interessierten mich. Diese Fragestellung hatte ich auch schon für mich notiert, also auf dem Radar für einen späteren Artikel. Insofern war dies für mich eine Steilvorlage für ein spontanes Gespräch.
IM GESPRÄCH
Können wir darüber reden, kann ich dich in einem Artikel zitieren?
Klar, wenn es bei der Nennung ‚Joe‘ bleibt können wir beginnen.
Womit?
Also, wir diskutierten darüber, dass sich der Wein im Laufe der Jahrhunderte konstant verändert hat. In unserer Runde waren wir uns einig, dass dies bis zu einem gewissen Grad zutrifft.
FRANKREICH
Hast du ein Beispiel?
Ja, nehmen wir Frankreich. In Frankreich wurden Rotweine erst im Laufe des 17. Jahrhunderts dunkler in der Farbe und reichhaltiger im Geschmack, bedingt durch die sogenannte Cuvaison, also die Fermentation, die langanhaltende Vermischung von pigment- und geschmacksreichen Schalen mit dem gärenden Traubensaft. Die davor vinifizierten Rotweine waren eher Rosés, wie wir sie heute nennen würden. Sie überdauerten kaum einen Jahrgang und waren danach zumeist ungeniessbar.
Gut, das war vor langer Zeit. Der Weinstil mag seit dem 17. Jahrhundert lange Zeit im Wesentlichen gleich geblieben sein. Interessant wäre es aber das letzte Jahrhundert zu betrachten.
Ja, dazu komme ich jetzt. In der Mitte des 19. Jahrhunderts kam es zu weiteren Veränderungen. Rote Bordeaux und Burgunder wurden zunehmend kraftvoller, tanninhaltiger und erforderten eine längere Lagerung in Flaschen. Aber solche Veränderungen betreffen nicht nur Frankreich. Überall in den Weinländern gab es allmähliche Veränderungen.
Was waren die Gründe?
Die Technologie. Erste wesentliche Änderungen brachte die ‚industrielle Revolution’, etwa ab Mitte des 19. Jahrhunderts. Das war aber nichts gegen den technologische Schub, der ab den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts mit Edelstahltanks für temperaturgesteuerte Fermentationen, neuen Pressen, fortschrittlichen Filtrationstechniken einhergehend mit wissenschaftlichem Know-how, grosse Revisionen einleitete. Seither gehen Veränderungen rasend schnell und seither waren Winzer nicht mehr nur Bauern oder Handwerker, sie liessen sich grundlegend ausbilden, sie wurden in der Folge zu Önologen mit Universitätsabschluss.
Ja, das wirkte wie ein Turbo in der globalen Weinbereitung. Die 70er Jahre kann man als Wendejahre bezeichnen. Was ist der Schlüsselpunkt für dich? Was belegt für dich die Veränderung des Weins?
Der Schlüsselpunkt, besser gesagt, die verblüffende Tatsache ist, dass sich nahezu alle Weine der Welt, im Zeitraffer betrachtet, sich meist erheblich unterscheiden – in den überwiegenden Fällen sind sie nicht mehr erkennbar von dem was sie vor drei oder vier Dekaden waren. Ich selbst kenne nur eine Handvoll Weine, die sich in dieser Zeit nicht verändert haben.
Ich verstehe, was du meinst. Wenn man Vertikalen verkosten darf, die bis in die 70er Jahre oder sogar noch davor zurückreichen, dann ist dies zu spüren. Einerseits die stilistische Veränderung, andererseits aber auch zuweilen eine Kontinuität, die aber für sich gesehen auch wieder interessant ist.
Dem pflichte ich bei. Ich will ja nicht sagen, dass Kontinuität im Weinstil schlecht sei, auch nicht altmodisch oder uninteressant. Aber dennoch sind Weinstile von vor 30 oder 40 Jahren heute eher selten anzutreffen. Frage mal einen Liebhaber des Bordeaux, ob er sich noch an den Geschmack der 60er oder 70er Jahre erinnern kann oder ob er diesen noch bevorzuge.
Nun, es wird wohl wenige geben, die den Bordeaux der 70er Jahre den heutigen vorziehen würden.
Eben. Die heutigen roten Bordeaux kannst du dem gleichen Châteaux von vor 40 Jahren nicht mehr zuordnen, sofern du nicht vorher auf das Etikett schielst.
Jetzt müssen wir aber erst mal die Stilistik klären. Vielleicht anhand der roten Bordeaux?
Also, gerade rote Bordeaux sind als Beispiel bestens geeignet. Im Wesentlichen ist der eine oder andere große rote Bordeaux heute wohl so tief wie nie zuvor. Der heutzutage gefeierte rote Bordeaux ist höher im Alkohol, tiefer in der Farbe, raffiniert in Holztönen, reichhaltiger und voller im Geschmack als in den 70er Jahren. Analoges gilt für die weißen Bordeaux.
Nur Sauternes hat sich nicht verändert, jedenfalls meiner Überzeugung nach.
Finde ich auch. Aber vielleicht sagen diejenigen, die sich als Sauternes-Experten sehen, etwas anderes.
Wenden wir uns mal von Bordeaux nach Burgund. Wie sieht es hier mit Veränderungen aus?
Hier hat eine große Veränderung stattgefunden. Überaus wenige rote Burgunder sind heute so wie sie vor 30 oder 40 Jahren waren. Bis zu den 70er Jahren waren die roten Burgunder wegen zu hoher Erträge sehr hell in der Farbe, man bezeichnete Burgunder damals als ‚zart‘. Dann ab den 80er Jahren wurden die roten Burgunder immer reicher, dunkler, holziger. Ab den 90er Jahren war dann zu bemerken, dass die Burgunder weniger aufdringlich wurden, was positiv zu bemerken ist.
Bei den weissen Burgundern, produziert bis in die 90er Jahre, störte mich stets die vorherrschende Holznote. Wie siehst du das?
Genauso. Die weissen Burgunder wurden ihrerseits in den letzten drei Jahrzehnten dramatisch eichenhafter, vor allem ab Mitte der achtziger Jahre. Zum Glück ebbte dies kurz vor der Jahrtausendwende langsam wieder ab. Die Erträge von französischen Chardonnay sind jedoch durchgehend hartnäckig hoch. Und, immer weniger weisse Burgunder bieten die mittlere Dichte, die sie früher mal hatten.
ITALIEN
Lasse uns mal über andere Weinnationen sprechen. Wie sieht es in Italien mit Veränderungen aus?
Ah, Italien ist ein gutes Beispiel. Hier hat das ganze Weinland eine Transformation durchlebt. Nahezu jeder Wein in Italien, von Sizilien bis zu den Alpen, unterscheidet sich heute von dem, was er um 1970 war. Die Umwandlung von italienischen Weinen, egal ob rot oder weiss, ist absolut. Alles, was du dir vorstellen kannst, hat dazu beigetragen: Edelstahltanks, kleine neue Eichenfässer, Anforderungen des Exportmarktes, die Einbeziehung von ‚fremden‘ Rebsorten in einst traditionelle Gemische, der Ausschluss von weissen Trauben in Rotweincuvées, neue Klone, Wiederbelegung alter Sorten, Konzentration auf authochtone Sorten, lokale und überregionale Pressearbeit, biologischer Anbau und vieles mehr.
SPANIEN
Und wie betrachtest du im Tenor Spanien?
Ich bin versucht zu sagen: siehe Italien. Auch hier ist die Weinumwandlung weitreichend und nahezu total. Alte, nein, sagen wir besser, rückständige Traditionen sind fast ausgerottet.
DEUTSCHLAND
Kommen wir zu Deutschland …
… stopp, das musst du jetzt übernehmen.
Okay. Es gibt sie nach wie vor, die klassischen deutschen Rieslinge, für die Deutschland einst weltweit hohes Ansehen genoss. Wusstest du, dass der deutsche Riesling mal teurer war als Burgunder und Bordeaux?
Ist lange her, glaube ich.
Ja, aber der Riesling kommt wieder, sein Image steigt. Jedenfalls der Stil der Rieslinge ist moderner geworden. Ich erinnere mich noch an die Rieslinge, die mein Vater in den 70er Jahren so gerne genoss. Trittenheimer Ältärchen und Kröver Nacktarsch haben sich bei mir eingebrannt – für meinen Geschmack waren die damaligen Rieslinge picksig in der Säure oder zu süss. Dem ist längst nicht mehr so. Mir fällt heute allerdings ein Manko auf, was ich im Kreise ausländischer Kollegen immer wieder feststelle: man spricht in der Regel über Mosel- und Rheinrieslinge. Was das Ausland noch nicht vollends auf dem Schirm hat, sind die Rieslinge der 13 deutschen Anbaugebiete, die sich heute sehr unterscheiden. Es sind nicht nur die Gebiete entlang der klassischen Flüsse wie Mosel und Rhein, die Riesling können, andere Gebiete wie beispielsweise Baden, Franken oder auch Saale-Unstrut vinifizieren besondere Qualitäten.
Mir gefallen die Rieslinge aus Baden. Sie sind weicher im Geschmack, subtiler in der Frucht. Aber Deutschland hat neben Riesling noch eine grosse Sortenvielfalt, nicht wahr?
Richtig. Deutschland hat sich im Hinblick auf die Rebflächen in den Letztzen drei Dekaden neben Riesling zu einem bemerkenswerten Burgunderland entwickelt. Weiss-, Grau- und Spätburgunder erreichen Qualitäten, die es heute mit den Weinen aus dem französischen Burgund aufnehmen können. Und der Silvaner, mit dem einst grosse Teile deutscher Weinberge bestockt war, kommt wieder.
Ist Deutschland ein klassisches Weinland? (…ein breites Grinsen durchs Telefon ist spürbar)
He! Und ob. Hinsichtlich der über 2000-jährigen Historie auf jeden Fall. Gerade in der Zeit, über die wir jetzt sprechen genoss der Süden Europas aber mehr mediale Aufmerksamkeit. Dies hat sich indes gewandelt. Heute beeindrucken junge und junggebliebene Winzergenerationen in Deutschland mit Experimentierfreude und Innovationskraft. Weine aus Amphoren oder Granitfässern entstehen, man vinifiziert zum Beispiel leichtere Weine mit hoher Aromendichte und besinnt sich auf das eigene Terroir, was der Geschmacksvielfalt und der Qualität zugutekommt. Deutschlands Weinmacher professionalisieren sich immer weiter und nutzen den Spannungsbogen zwischen Tradition und Moderne für ihren Erfolg im globalen Wettbewerb.
Was ist mit der Technik.
Auch in Deutschland haben sich Philosophie und Technik in der Weinbereitung stark verändert. Seit den 70er Jahren wurde nach und nach so gut wie alles technische umgekrempelt. Heute ist die deutsche Weinbergs- und Kellertechnik oftmals eine Blaupause für andere Weinnationen. Sicher auch für Kalifornien, aber dazu musst du jetzt Stellung nehmen. Welche Änderungen gab es im Sonnenstaat.
Bis auf wenige Traditionalisten haben sich alle kalifornischen Weine seit den 70er, 80er Jahren stark verändert. Die Gründe sind vielfältig: Neupflanzungen, Klone, moderne Weinbergs- und Kellertechnik, modische Geschmacksstile und so weiter.
ANDERE WEINLÄNDER
Schon etwas zeitversetzt, aber irgendwie gleichen sich die Veränderungen in den Weinländern.
Ja, stimmt. Egal welches Weinland wir betrachten, ob Australien, Neuseeland, Österreich, Chile, Griechenland, Argentinien, Ungarn, Südafrika, Portugal – mit Ausnahme von Vintage Port, Kanada und andere. So gut wie kein Wein aus diesen Ländern gleicht noch denen aus den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts.
FRAGEN & ANTWORTEN
Was schliessen wir daraus?
Nun, einigen wir uns darauf, dass die Auswirkungen zahlreich sind. Zum einen ist die heutige Weindiskussion von einer transformativen Kluft geprägt, wenn man die 70er Jahre in Vergleich setzt. Es stellt sich die provokante Frage: Wenn sich Weine so radikal verändert haben, können diejenigen unter uns, die sich an ältere Weinstile erinnern, die Zukunft der kommenden Weinstile zuversichtlich vorhersagen?
Nein, keinesfalls.
Richtig. Da stellt sich die nächste Frage: Ist alles, was wir heute schmecken, wirklich überlegen gegenüber dem, was vorher existiert hat?
Das ist schwierig zu beantworten, denn hiermit begeben wir uns in den Bereich des persönlichen Geschmacks. Mein Versuch einer Antwort wäre: Die Vergangenheit war alles andere als überlegen und man kann damalige Weinstile den heutigen nicht gleichsetzen.
Genau, das ist auch meine Meinung. Ich ergänze dies noch und ich weiss, da spreche ich auch für dich. Wir bevorzugen einen sauberen, gut gemachten Wein. Wir honorieren auch das heutige Wissen der Winzer, deren Weinbergs- und Kellerarbeit, wir freuen uns über die Erhaltung autochthoner Rebsorten und allgemein über die Geschmacksvielfalt. All dies ziehen wir der Vergangenheit vor.
Dabei sollten wir nicht vergessen, dass es heute auch Nachteile gibt: Übermässig hohe Erträge, technische Spielereien, die nur dazu dienen, zunehmend künstlich schmeckende Weine zu vinifizieren. Und dann kommen noch so Produkte hinzu, die kommerzielle Mischungen enthalten und vorgeben, Wein zu sein.
Ja, das sind unschöne Details, die auch mich aufregen.
DAS STATEMENT
Joe, lasse uns auf ein abschliessendes Statement einigen: Es gibt Gutes und Schlechtes in der Vergangenheit und in der Gegenwart. Das wird auch in Zukunft so sein. Wir beide tun weiterhin unser Möglichstes, dass Wein auch zukünftig Wein bleibt, so wie wir ihn lieben.
Ja, Arthur, das ist ein schönes Schlusswort. Und das war wieder ein interessantes Gespräch mit Dir. Hat mich sehr gefreut. Mache es gut, wir bleiben in Kontakt.