Stationen der Weingeschichte
Schlossgespenster
Das erste Weinschloss der Welt? Natürlich Schloss Johannisberg im Rheingau. Oder doch nicht? Weinschlösser sind böhmische Dörfer, Fassaden, die mit unserer Fantasie spielen.
Das erste authentische Weinschloss der Welt ist gar keines, nämlich Cos d’Estournel in Saint-Estèphe. Eine orientalische Fassade aus den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts, ein Tor, die Porte de Sansibar, die von einem Palast in Tansania stammen soll, in Wahrheit aber hundert Jahre später bei einem Antiquitätenhändler aufgestöbert wurde, und dahinter nichts als Keller und Wein. Denn das, was wir heute für ein Weinschloss halten, ist lediglich ein Symbol.
Der erste perfekt durchorganisierte Weinbaubetrieb der Welt ist das römische Latifundium. Dazu gehören eine Villa («pars urbana»), in welcher der Herr haust, Kornacker, Felder für das Vieh, Gemüsegarten sowie der eigentliche Gutsbetrieb («pars rustica») inklusive der Kelteranlagen. Korn, Vieh und Gemüse dienen der eigenen Ernährung, einzig mit Wein schafft man Mehrwert.
In der Kellerei der Villa Loupian bei Sète im Languedoc etwa, die in gallo-römischer Zeit erbaut und genutzt wird (bis etwa ins sechste Jahrhundert nach Christus), lagern 1500 Hektoliter Wein in Tongefässen, mehr, als der Gutsbetrieb verbraucht. Dieser Mehrwert erlaubt es, die Villa auszuschmücken. Der Empfangsraum wird zum reichsten Zimmer der Besitzung, zum Statussymbol für den Reichtum des Eigners und damit für seinen Stand.
Das Castellum, das im Mittelalter zum Château wird, hat mit Weinbau nichts am Hut. Es ist eine Verteidigungsanlage, ungemütlich, wenig komfortabel, feucht. Bewohnt wird es vom Adel, der ursprünglich nur eine Beschäftigung kennt: das Kriegshandwerk. Die Organisation des Burgbetriebs gleicht aufs Haar der einer römischen Villa. Mehrwert schöpft man mit Plünderei – oder mit dem Anbau von Wein, ursprünglich das Privileg der Klöster (Schloss Johannisberg und Clos Vougeot gehören dazu, bis Napoleon Bonaparte sie verweltlicht) und später des Adels.
In der Renaissance werden die ungemütlichen Schlösser zu komfortableren Villen umfunktioniert –oder dienen dem Verwalter oder den Angestellten, während sich der Hausherr eine wohnliche Villa errichten lässt: auf Französisch ein Maison Noble. Das «Schloss» des Clos Vougeot besitzt Stilelemente der italienischen Renaissance – es wird 1549 von den Zisterziensermönchen von Citeaux als Wohnstätte für den Abt errichtet, über der Kellerei, Quelle des Reichtums und der Macht des Klosters, und dient als Symbol für beides. Bewohnt wird es nie. Der reich gewordene Bürger strebt nach oben und wird vielleicht gar in den Adelsstand gehoben. Zwei Statussymbole sind ihm unerlässlich: der Weinbau und das dazugehörende Schloss.
Die Pontac sind Weinhändler in Bordeaux. Auch ihnen dient das Schloss, das sie mitten in ihrem Bordeaux-Weinberg errichten lassen, nicht als Wohnstätte, höchstens als Wochenendhaus. Hundert Jahre später wird es zum Symbol des grossen Weins und zum Vorbild aller künftigen Weinschlösser. Die meisten davon erblicken erst im 19. Jahrhundert das Licht der Welt: Château Latour etwa 1866. Die damalige Besitzerfamilie entschliesst sich schweren Herzens zum Bau eines solchen (und spart dabei an jeder Ecke), weil alle Konkurrenten mittlerweile Schlossbesitzer sind.
Schloss Johannisberg wird «schon» 1716 hochgezogen: durch den Fürstabt von Fulda, der die alte Klosteranlage zerstören lässt. Und wenn neureiche Bauherren nicht ausgestorben sind, die von altem Adel träumen, bauen sie noch heute Luftschlösser für Wein.