Bordthäusers Sensorikschule
Mit allen Sinnen
Folge 8: die visuelle Wahrnehmung
In dieser letzten Folge unserer Sensorikschule treten Nase und Gaumen einen Schritt zurück. Sie werden sehen, mit Tomaten auf den Augen schmeckt der Cabernet Sauvignon gleich völlig anders.
In den letzten sieben Folgen haben wir drei sensorische Systeme kennengelernt, die beim Verkosten von Wein zum Einsatz kommen: das gustatorische, das olfaktorische und das trigeminale System. Schmecken, Riechen, Fühlen – diese drei Sinne sind das Basisrüstzeug, das uns mitgegeben ist. Einen Sinn haben wir bislang jedoch weitestgehend ausser Acht gelassen, der selbst bei optimal geschulten, sehr sicheren Verkostern alles ins Wanken bringen kann: die visuelle Wahrnehmung.
Gehen wir einmal davon aus, dass jegliche Verkostung mit tadellosen Gläsern in einem sonnendurchfluteten, gut gelüfteten Raum mit weissen Tapeten und geputzten Fenstern in einer Runde netter Menschen stattfindet. Dieser Raum liegt üblicherweise in einem Gebäude auf einer Höhe irgendwo zwischen null und 800 Metern über dem Meer. (Mit zunehmender Höhe sinkt der Luftdruck, was unsere Wahrnehmung beeinflusst liegt der Ort der Verkostung zu hoch, das kennen wir aus dem Flugzeug, schmeckt alles etwas fader beziehungsweise muss kräftiger abgeschmeckt sein, um einen wahrnehmbaren Eindruck zu hinterlassen. Filigrane Saar-Rieslinge eignen sich folglich nicht für die Business-Class. Ähnliches gilt übrigens für die Seefahrt: Weit auf dem Meer schmeckt der buttrige, fassgeküsste Chardonnay irgendwie knackiger als zu Hause. Doch das ist ein anderes Thema.)
Zurück zu unserer Verkostung. Der visuelle Eindruck ist die letzte grosse Variable in der Weinbewertung. Betrachten wir einen Wein in der optischen Prüfung, zielt die Beurteilung zunächst in Richtung Qualitätssicherung, das heisst, wir schauen, ob der Wein klar ist, ob er strahlt und nicht trüb ist oder Kohlensäure hat. Gehen wir davon aus, dass der Wein in unserem Glas in Ordnung ist, und machen uns einen Spass: Wir verkosten ihn im Dunkeln. Sie werden zu völlig anderen Ergebnissen kommen. Oder stellen Sie sich eine Verkostungsreihe von Cabernet Sauvignon vor. Verkosten Sie ihn zunächst in unserem weissen, gelüfteten Raum. Dann hängen Sie rote Bilder an die Wände, vielleicht mit Paprika, Chili und Tomaten darauf. Wiederholen Sie die gleiche Probe in einem Raum mit braunen Bildern, zum Beispiel von Kaffee, Schokolade oder Tabak. Ihre Verkostungsnotizen werden sich lesen, als ob Sie zwei verschiedene Weine probiert hätten, obwohl die einzige Konstante der Wein selbst war.
Zu ebenso unterschiedlichen Ergebnissen werden Sie gelangen, wenn Sie Lebensmittelfarbe kaufen und Weisswein rot färben oder blau. Selbst solide Verkoster reissen Sie damit aus dem Sattel. Unser Hirn spielt uns einen Streich, weil Gerüche immer mit Bildern verknüpft sind. Erinnern Sie sich an die «Memory-Karten» aus Folge 6, die wir mental ablegen, um Düfte zu visualisieren und abrufen zu können?
Aber ist eine objektive Verkostung überhaupt möglich, wenn alle die gleichen Voraussetzungen haben, ein bisschen Farbe aber alles über den Haufenwerfen kann? Läuft es letztlich nicht doch wieder auf ein «schmeckt mir – schmeckt mir nicht» hinaus? Nein. Denn die einzige Konstante in unserem Spiel ist und bleibt der Wein. Der Wein ist alles, Sie sind nichts. Ganz egal, wie es Ihnen schmeckt, ob gut oder schlecht, das sagt erst mal nichts aus über die Qualität des Weines, sondern es sagt etwas aus über Ihren geschmacklichen Status quo und Ihre individuelle, hedonistische Bewertung. Und dies gilt auch nur für den Moment. Denn die Flasche Wein, die wir vor drei Jahren mit grosser Freude probiert haben, hat sich in der Zwischenzeit weiterentwickelt wie wir selbst auch. Hinzu kommen Variablen wie die eigene Stimmung (die ein entscheidender Parameter bei der Verkostung ist), die Mondphase, die Lagerbedingungen sowie letztlich die Gesellschaft, in der wir den Wein probieren. Sie sehen, es ist alles recht komplex.
Kann also die Verkostungsnotiz zu einem Wein, den man in kleinen Schlucken probiert und ausspuckt, wirklich festlegen, ob er mit 97 oder doch nur mit 95 Punkten zu bewerten ist? Ist es nicht sinnvoller, die ganze Flasche zu einem Zeitpunkt optimaler Reife oder zumindest in anderer Umgebung als bei einer Verkostung (die im schlimmsten Falle in einer Messehalle stattfindet) einfach mit Freunden leerzutrinken? Sollte man nicht alle verkopften Herangehensweisen über Bord werfen und stattdessen schauen, wie sich ein Wein anfühlt? Ist es sinnvoll, Aromen wie Apfel, Pfirsich oder Kirsche riechen zu wollen?
Wir haben in der letzten Ausgabe gelernt, dass die trigeminale Wahrnehmung eine grosse Rolle spielt bei der Verkostung. Wein hat also auch eine haptische Qualität, ist etwas Fühlbares. Und wenn sich ein Wein gut anfühlen kann, können wir ihn dann nicht auch ähnlich wahrnehmen wie Musik? Wie etwas, was Schwingungen in uns auslöst? Nun, über diese Fragen kann man lange diskutieren. Fest steht: Das sensorische Rüstzeug ist bei allen Menschen gleich, den Rest übernehmen Sie. Probieren geht immer noch über Studieren. Darauf öffne ich eine Flasche Champagner zur Feier des Tages, natürlich Brut Nature, und trinke auf Ihr Wohl. Salute!