Queen Mary 2
Spaziergang auf hoher See
Text & Fotos: Miguel Zamorano
1. Seetag
Samstag
Gestern hatten wir zu Steuerbord noch das englische Festland in Sicht, doch nun passieren wir Bishop Rock, den letzten Leuchtturm der britischen Inseln. Der Atlantik liegt vor uns. Wir entfernen uns mit steten 20 Knoten Geschwindigkeit von der Alten Welt. Die Queen Mary 2 (QM2) ist der letzte Oceanliner der Welt, der noch in Betrieb ist. Jene Schiffe, die einst Menschen und Waren von Europa nach Amerika brachten. Wir befinden uns somit auf den Spuren unendlich vieler Reisender vor uns, die diese Fahrt auf sich nahmen, um auf dem amerikanischen Kontinent ein besseres Leben zu finden – Iren, Deutsche, Juden, auf der Flucht vor Hunger und Verfolgung. Heute werden vorwiegend nur noch Waren über die Weltmeere transportiert, eine Reise auf einem Oceanliner ist eine luxuriöse Angelegenheit für Nostalgiker mit viel Zeit geworden.
Die QM2, Baujahr 2004, macht diesen Wunsch möglich. Gemeinsam mit 2400 weiteren Passagieren und 1300 Angestellten sind wir von Southampton aus in See gestochen, auf eine Reise, die bis nach New York sieben Tage dauert. Im Britannia-Restaurant studiere ich aufmerksam die Weinkarte der QM2, die hier in den zahlreichen Restaurants ausliegt: 450 Positionen, insgesamt 35 000 Flaschen stehen zur Verfügung. Am Mittag öffne ich eine Flasche Pomerol 2018 von Jean Pierre Moueix. Den Wein muss ich nicht sofort komplett leeren, obwohl seine Textur und die Trinkreife dazu einladen. Die angefangene Flasche wird mit meinem Namen und meiner Kabinennummer versehen und verstaut. Ich kann sie morgen wieder geniessen.
3. Seetag
Montag
Der Wind jagt mittlerweile mit 60 Knoten über Deck 7, wer mutig ist, kämpft sich gegen die peitschenden Böen voran. Die obersten Decks sind gesperrt. Gut, dass im Inneren des Schiffes enorm viel geboten wird: Tanzkurse und Chorstunden, Bridge wird unterrichtet, im «Lions Pub» findet ein Dartwettbewerb statt. Dort ist die Stimmung so urig, wie man es aus den besten britischen Pubs kennt. Und die «Fish and Chips» sind so delicious, wie ich sie in London selten zuvor gegessen habe. Mein Ziel heute ist aber der Taste Room auf Deck 3. Dort führen der indische Sommelier Jugal und sein südafrikanischer Kollege Renzi eine kleine Gruppe von Weinliebhabern durch eine Chardonnay-Verkostung. Das Thema: Neue und Alte Welt. Auf den Tisch kommen vier Weine aus Frankreich, zwei aus den USA und jeweils einer aus Australien und Italien. Jeder Chardonnay ist ein Universum für sich. Der 2016er Far Riente aus Napa Valley zeugt von zeitloser Eleganz. Dagegen zeigt sich der Meursault 1er Cru 2016 von Faivley von seiner komplex-kernigen Seite und auf dem Weg zum Zenit. Viele Anwesende wundern sich, dass dieser Wein «nur» 160 US-Dollar in den Schiffsrestaurants kostet. Als der Yattarna 2012 ins Glas kommt, geniessen alle im kleinen Verkostungsraum die Weine in auffälliger Stille. Die Sommeliers hätten den Zeitpunkt für eine solche Verkostung nicht besser wählen können: Um Mitternacht überquert die Queen Mary 2 den Mittelatlantischen Rücken und lässt somit den europäischen Kontinentalsockel hinter sich. Wir haben die Alte Welt endgültig verlassen.
4. Seetag
Dienstag
Die Sonne ist wieder da. Die Passagiere nutzen die Chance, um auf den oberen Decks frische Luft zu schnappen. Die Schwimmbecken sind geöffnet, bald entspannen Frauen und Männer in Bikini und Badehose auf den Liegen. Wer seinen Hund mitgebracht hat, darf ihn nun auf dem obersten Deck im Freien Gassi führen. Um sich zu erleichtern, haben die Tiere einen Hydranten aus London oder aus New York zur Verfügung. Sie verbringen die Fahrt getrennt von ihren Herrchen, das Wiedersehen sorgt für viel Schwanzwedeln und lautes Bellen. Pünktlich zum Mittagessen eröffnet im Steakhouse «Verandah» Chef-Sommelier Dinesh Vijayan eine Verkostung mit einem Fünf-Gang-Menü, zubereitet von Küchenchef James Abilash. Das Thema: Weine aus Amerika. Es ist eine Reise durch den ganzen Kontinent, von Feuerland bis zu den Great Lakes in Nordamerika: Zu Lachs wird Chardonnay aus Kanada von Norman Hardie serviert, als Konterpart kommt Catena Altas Chardonnay aus Argentinien ins Glas. Das Dry-aged Angus Steak erhält als Begleitung einen Zinfandel von Seghesio – ein Klassiker – und den Caballo Loco Number Seventeen von Valdivieso aus Chile. Dass dieser durchaus komplexe und kräftige Rotwein zum Essen serviert wird, zeugt davon, dass Chef-Sommelier Dinesh Vijayan seinen Gästen etwas zutraut. Vijayan, aus dem südindischen Chenai stammend, stellt gleich klar, warum er diesen Job mit Leidenschaft macht: «Ich bin mit Ingwer, Knoblauch und Tamarinde aufgewachsen.» Eine dem Food-Pairing zuträgliche Erfahrung, wie ich finde.
5. Seetag
Mittwoch
Wir schippern mittlerweile südlich von Nova Scotia entlang. In der Nacht sind wir mit 135 nautischen Meilen der Unfallstelle der Titanic nahegekommen, wie uns Kapitän Aseem Hashmi in seinen täglichen Navigationsansprachen um 12 Uhr informiert. Das verunglückte Schiff mag am Meeresgrund liegen, doch der Geist der Titanic ist allgegenwärtig. Dass liegt auch daran, dass man verwöhnt wird wie auf einer Schiffsreise vor 100 Jahren. Am besten zeigt sich das beim Afternoon Tea, jeden Tag um 15.30 Uhr im Queens Room. Hier reichen die Butler in weissen Handschuhen das britische Gebäck Scones mit Clotted Cream. Wer mag, gönnt sich dazu noch Champagner von Laurent-Perrier. Ich teile die Scones und schmiere die butterartige Cream drauf, dann kommt noch eine Schicht Erdbeer-Marmelade dazu. Prompt komme ich mir wie in der TV-Serie Downton Abbey vor. Banoffee Pie und eine kleine Zitronen-Tarte gibt es auch noch. Ach, ist die Welt schön. Am Abend gibt es dann zum Nachtisch Baked Alaska, ein Klassiker der Transatlantikfahrt, wie ein kundiger US-Amerikaner mich in Kenntnis setzt. Dazu wird ein groschengrosses Milcheis mit Baiser ummantelt und das Ganze dann kurz in den Ofen geschoben. Aussen ist dieser Nachtisch heiss, im Inneren noch kalt. Wer nicht aufpasst, wird am Freitag in New York nicht an Land gehen, sondern von Bord rollen. Dagegen kämpft man beim abendlichen Tanz auf dem Parkett an. Der Mittwoch ist einem Maskenball gewidmet. Ich schlüpfe in meinen Anzug und fühle mich mit der Maske wie beim Karneval in Venedig.
6. Seetag
Donnerstag
Die Passagiere an Steuerbord wachen mit Sonnenschein in der Kabine auf. Das Schiff hat den Kurs gewechselt, wir fahren auf Halifax zu. Die Queen Mary 2 steuert den kanadischen Hafen an, weil ein Crew-Mitglied einen Herzinfarkt erlitten hat. Er wird in Halifax in das nächste Hospital gebracht. Dass der Kapitän wegen eines medizinischen Notfalls das Ruder herumreisst, passiert auf dieser Fahrt nicht zum ersten Mal. Kurz nachdem wir Southampton verlassen hatten, eilt die britische Küstenwache mit einem Schnellboot an das im Ärmelkanal stehende Schiff heran. Ein erkrankter Mann und seine Frau mussten von Bord gehen. Die meisten Gäste nehmen es nun mit Gelassenheit. Viele müssen zwar ihre Ankunft in New York neu organisieren und Flüge umbuchen. Doch nun können wir den Afternoon Tea in Ruhe geniessen und müssen nicht den Nachmittag mit Packen verbringen.
Gleichzeitig kann ich die Zeit mit den Gästen ausdehnen, die ich hier kennengelernt habe. Denn eine Schiffsreise ist auch eine Gelegenheit, in Ruhe Menschen zu begegnen und neue Lebensgeschichten zu entdecken. Im Britannia-Restaurant sind viele Paare zugegen, eins aus Florida feiert seine goldene Hochzeit. Daneben sitzen Gäste aus Frankreich, die Frau seufzt zu ihrem Mann hinüber: «Chéri, da müssen wir noch 20 Jahre machen.» Andere Personen machen diese Seereise aus anderen Gründen. Eine junge Frau aus Deutschland hat zwei Mal den Krebs bezwungen. «Ich haue hier meine Altersvorsorge auf den Kopf. Die werde ich eh nicht mehr brauchen.» Ihr Ziel nun, bevor der Krebs zum vielleicht letzten Mal zuschlägt: über New York den amerikanischen Kontinent betreten und endlich Kanada sehen. Morgen wird sie diesem Traum einen Schritt näher sein.
7. Seetag
Freitag
Wir haben wegen der Halifax-Notfall-Anfahrt knapp acht Stunden Verspätung. New York werden wir somit am Nachmittag erreichen und nicht wie ursprünglich geplant um 7 Uhr morgens. Viele der Passagiere haben die gesamte Woche auf die Ankunft in New York hingefiebert: das Einlaufen in den Hafen, die Freiheitstatue Lady Liberty im Hintergrund, die Skyline in Manhattan. Ich fiebere ordentlich mit. Wo am besten das Einlaufen erleben? Auf dem obersten Deck oder doch vom Zimmer auf der Backbord-Seite? Die Tage davor bin ich die Decks rauf- und runtergelaufen, um den möglichst besten Platz zu erkunden. Knapp 22 Seemeilen vor dem Ziel kommt der Lotse an Bord, der die QM2 sicher in den Hafen führen soll. Auf der Steuerbord-Seite taucht langsam Long Island auf, zur Backbord-Seite mehren sich nun Segel- und Containerschiffe. Es ist 13.30 Uhr, als die Queen Mary 2 unter der Verrazzano-Narrows-Bridge durchfährt. Die zweistöckige, 211 Meter hohe und 2039 Meter breite Hängebrücke verbindet Staten Island mit Brooklyn. Auf den dortigen zwei Etagen herrscht solch ein Wahnsinns-Verkehr, dass er uns schlagartig aus der Sieben-Tage-Ruhe und Besonnenheit reisst. Stück für Stück taucht im Smog der Hafen von New York vor uns auf. Nach 3372 Seemeilen sind wir angekommen. Sie ist da, die Neue Welt, nicht nur im Glas, sondern auch ganz real endlich vor uns.