Unterwegs in der Rioja
Märchenhafte Winterreise
Text: Thomas Vaterlaus, Fotos: z.V.g.
Mit ihren sanft dahinrollenden Hügeln im milchigen Dezember-Licht ist die Rioja die perfekte Winterlandschaft. Auch weil in den Dorftavernen immer ein Feuer im Kamin knistert. In den Kellern der grossen Bodegas dagegen, schlummern Topweine fern der Jahreszeiten ihrer Trinkreife entgegen. In diesen Kathedralen des Weines ist immer «Gran Reserva-Time».
Der letzte Glockenschlag hoch oben vom Turm, den sie poetisch «Die Dame der Rioja» nennen, hallt lange nach. Es ist acht Uhr morgens in Santo Domingo de la Calzada. Ein einzelner Pilger zieht an diesem Dezembermorgen bei klammen drei Grad Celsius und Nieselregen über das Kopfsteinpflaster in Richtung Westen. Doch James, der pensionierte Lehrer aus dem englischen Bristol, ist glücklich: «Im Sommer ist der Pilgerweg nach Santiago zum Massen-Phänomen geworden. Wenn du aber über das Land und dich selber wirklich etwas erfahren willst, musst du einsam, das heisst im Winter pilgern», sagt er. Am Tag zuvor sei er in der Abenddämmerung nahe der Rioja-Metropole Logroño einem alten Rebberg entlang gelaufen. «Die knorrigen alten Rebstöcke mit ihren bizarr verdrehten Armen haben mich an Silhouetten von Menschen erinnert und die Zwiesprache mit ihnen ist erhellend gewesen», sagt er. Abends im Parador von Santo Domingo de la Calzada, einem Pilgergasthaus aus dem 12. Jahrhundert habe er dann eine Rioja-Reserva von alten Reben genossen, und: «Im Charakter dieses Weines erkannte ich die Individualität der alten Rebstöcke am Wegesrand wieder».
Nirgends wirkt die spezielle Aura der winterlichen Rioja so stark, wie im Winzerstädtchen Lagurdia, dem Hauptort der Subregion Rioja Alavesa. Die kompakte Altstadt mit den sechs Toren in der Ringmauer thront von weither sichtbar auf einem Hügel in der Ebene. Wer hier an einem Wintertag auf der alten Stadtmauer spaziert, sieht im Norden die oft weiss gepuderten Kuppen der Sierra de Cantabria und im Süden den träge dahinmäandernden Ebro, also jene beiden zentralen Elemente, die das Terroir der Rioja prägen. Dazwischen liegen die kleinparzelligen Rebberge wie ein riesiger Teppich aus unzähligen Flicken. Wenn einem die starken Windböen beim Spaziergang auf der Mauer zu sehr auskühlen, kann man sich schnell in die eng verwinkelten Gassen zurückziehen, am besten in eine der Tapas Bars, wo auch heimische Winzer mit einem Glas Crianza den Beginn des Abends feiern. Wer der spanischen Sprache mächtig ist, wird hier schnell die eine oder andere Episode aus Familiengeschichten hören, die fast immer mit dem Weinbau verbunden sind. Es sei an einem kalten Wintertag gewesen, als ihm klar geworden sei, dass er über eine sensible Nase verfüge, erzählt da etwa ein gestandener Kellermeister, denn schon als Kind habe er es geschafft, die Mäntel seiner Verwandten allein anhand ihres Eigengeruchs zu erkennen…
«Reserva» zu Lamm - ein Traumpaar
Natürlich gibt es auch die moderne, ja die avantgardistische Rioja. Von der Stadtmauer von Laguardia aus fällt der Blick rasch auf das kühn geschwungene, metallisch glänzende Dach der Bodega Ysios, gebaut von Stararchitekt Santiago Calatrava. Und nur wenige Kilometer entfernt befindet sich auch der verwegen verschachtelte Hotelbau, denn Frank O. Gehry für Marques de Riscal geschaffen hat, der übrigens auch ein Sterne-Restaurant beherbergt, das eine modern-avantgardistische Rioja-Küche pflegt. Und doch zieht es einem an kalten Wintertagen hier immer wieder in die traditionell gemütlichen Asadors, wo in den Feuerstellen die Glut hellrot schimmert, auf der die «Chuletóns de Carne Roja» gebraten werden, während im Holzofen daneben behutsam das Cordero lechal asado schmort. Es brauche eigentlich nur drei Dinge für ein gutes Milchlamm, wird einem der Wirt erklären, nämlich «gutes Fleisch, einen guten Ofen und gutes Holz». Das beste Fleisch stammt von 20 Tage alten, ausschliesslich von Milch ernährten Lämmern der Rasse Churra. Der Mann am Feuer, der Asador unterteilt die Tiere in vier Teile und legt diese, die innere Seite nach oben, in irdene Schalen. Diese legt er dann für eineinhalb Stunden in den auf 220 Grad Celsius erhitzten Ofen. Dann werden die Fleischstücke gedreht und etwas kaltes Wasser in die Schalen gegossen, bevor sie nochmals für eine halbe Stunde im Ofen verschwinden.
Fertig ist das Kunstwerk, wohlduftend, mit schöner goldbrauner Kruste und butterzartem Fleisch. Zusammen mit einer edlen Rioja Gran Reserva ist es eine der perfektesten Mariagen, die man sich vorstellen kann. Egal wo man in der Rioja gerade weilt, der nächste Asador ist immer nur ein paar Kilometer entfernt. Nach einem Besuch in Laguardia lohnt sich etwa ein Abstecher ins «Mesón Chuchi» im zehn Kilometer entfernten Fuenmayor. In diesem behaglichen Gasthaus ist auch der geringste Anflug von Winterblues vorbei, wenn man sich an den Tisch setzt. In den «Kathedralen der Rioja», den riesigen Kellern der traditionellen Bodegas im Bahnhofsviertel von Haro gib es sowieso nur eine einzige Jahreszeit. Die Temperatur liegt hier auf natürliche Weise konstant bei 14 Grad Celsius und alte Lampen sorgen für das immer gleiche, spärlich gelbliche Licht. Was einem aber am meisten in Bann zieht ist der einzigartige, diskrete aber wohltuende Duft nach trockener Erde, Stein und Holz. Und obwohl nur wenige Meter vom Treiben im Stadtzentrum entfernt, befindet man sich in einer völlig eigenen, abgeschiedenen, ja immer noch geheimnisvollen Welt. Einer Welt, fern aller Irrungen
und Wirrungen, von denen die TV-Nachrichten laufend berichten. Einer Welt, die einzig dafür geschaffen wurde, um die Rioja-Weine zur perfekten Reife zu führen. Es ist wohltuend still zwischen den endlosen Fassreihen, fast wie bei einer Andacht in einem Kloster, ausser die Kellerarbeiter sind gerade dabei, die Weine «umzuziehen». Wenn eine Gran Reserva drei Jahre im Holz reift, wird sie mindestens sieben Mal umgezogen, um den Wein vom Depot zu befreien. Bei Weinen, die fünf bis zehn Jahre im Holz liegen, finden entsprechend mehr Umzüge statt. Bei jedem Umziehen sprudelt der Wein zuerst in ein trichterförmiges Gefäss, die sogenannte «Embudo», und fliesst dann von dort in ein gereinigtes Fass zurück. Dabei nimmt der Wein jedesmal ein wenig Sauerstoff auf, was ihn animiert und gleichzeitig reifen lässt. Ein ur-traditionelles Prozedere.
Auch Tradition ist ein Prozess
Wer aber nun denkt, die Produktion der «Reservas» und «Gran Reservas» sei ein durch und durch altertümliches Unterfangen, liegt falsch. Ohne die Tradition zu verleugnen, werden auch in den konservativsten Bodegas laufend kleine Optimierungen vorgenommen. So verwenden viele Bodegas tendenziell mehr neue Eichenholzfässer, was den Weinen mehr Frucht und frische Würze verlieht. Verschiedene Kellereien arbeiten auch daran, ihre Reservas und Gran Reservas mit weniger Umzügen, vor allem mit reduktiveren Umzugs-Techniken in die Flaschen zu bringen, was die Weine merklich frischer erscheinen lässt. So zeigen die Klassiker aus der Rioja noch immer ihren höchst eigenständigen, ja einzigartigen Charme, verfügen aber Dank solchen akribischen Verbesserungen gleichzeitig über eine Spur mehr Charme und Finesse. Es sind Dinosaurier mit Frischzellenkur. Und sie schmecken ausgezeichnet!
Zurück am Tageslicht, reibt man sich verwundert die Augen und kontrolliert die Uhr, weil einem in den Keller-Katakomben der Rioja eben gerne das Zeitgefühl abhanden kommt. Doch eine frische Brise Winterluft holt einem schnell wieder in die Realität zurück und bald weiss man gar nicht mehr so recht, ob der Ausflug in diese faszinierende Unterwelt womöglich nur ein Traum war... Zeit für die nächste Etappe der Winterreise durch die Rioja. Vielleicht führt der Weg nun ins Städtchen Nájera. Hier befindet sich das aus dem 11. Jahrhundert stammende Kloster Santa María la Real, mit einem der schönsten Kreuzgänge in ganz Spanien. Die durch ihre filigrane Weise fast zerbrechlich wirkenden Säulen bescheren dem Ort eine ganz spezielle, lichtdurchflutete Aura. Wer die Kulinarik der Historik vorzieht, dem sei ein Bummel durch das lebendige Zentrum von Logroño empfohlen. Die Tapas-Bars zelebrieren hier auch neue Mariagen, etwa mit weissen Rioja-Crus zu Meeresfrüchten vom nahen Atlantik.