Der Weinflüsterer
Winzerlegende Jean-Louis Chave, Hermitage, Frankreich
Text: Birte Jantzen, Fotos: z.V.g., Christophe Grilhe

Trotz Kultstatus gehört Jean-Louis Chave zu den diskretesten Winzern Frankreichs. Mondänitäten sind nicht sein Ding. Lieber hört er im Weinberg den Reben zu, folgt den Nuancen der Bodenbeschaffenheiten, spielt im Keller die Partitur alter Weinfässer und liebt es, wenn Weine zu Tisch Geschichten erzählen.
Im Weinbaugebiet des nördlichen Rhône- Tals fliesst die Rhône an den östlichen Ausläufern des Ardèche-Gebirges entlang, stets Richtung Mittelmeer. Über Jahrtausende erodierte die Kraft des Wassers das hiesige Granitgestein und schuf zwischen Lyon und Valence ein recht enges, tiefes Flusstal in Nord- Süd-Ausrichtung. Am rechten Ufer entstanden aussergewöhnliche, zum Grossteil sehr steile Hanglagen. Seit gut 2000 Jahren von mutigen Winzern mit Reben bepflanzt, erobern kleine, von Steinmauern gestützte Parzellen die besten Lagen. Von morgendlicher Sonne gebadet und dem Mistral-Wind erfrischt, reifen die Trauben hier in kühleren Bedingungen als im südlichen Rhône-Tal. Der Weinbau ist herausfordernd, und wer in den steilen Terrassen arbeitet, sollte besser sportlich, schwindelfrei und trittsicher sein. Die Rebstöcke werden hier, anders als in den meisten anderen Regionen Frankreichs, zum Grossteil noch traditionell als Pfahlrebe erzogen, eines der ältesten Erziehungssysteme überhaupt: Dicht aneinander gepflanzt und als niedrige Buschrebe getrimmt, bekommt jede Rebe ihren eigenen Pfahl, an dem die jungen Triebe hochranken und festgebunden werden, bevor sie im Winter für die kommende Saison komplett zurückgeschnitten werden. Es schafft ideale Lichtverhältnisse für die Traubenreifung. Für die windempfindliche Rebsorte Syrah ist dieses arbeitsaufwändige System ein Segen, da es ihren zarten Trieben während der Vegetationsperiode ermöglicht, den kräftigen Winden des Mistrals zu trotzen. Im Herzen dieser in vielerlei Hinsicht erstaunlichen Weinbauregion liegt das Zuhause von Jean-Louis Chave, Jahrgang 1968 und Winzer in 16. Generation. Unkompliziert und zurückhaltend, liebt er die Herausforderung von Hermitage und Saint-Joseph, die mit den Rebsorten Syrah (rot), Marsanne und Roussanne (weiss) bestockt sind. Gehören Saint-Joseph und Hermitage zum gleichen geologischen Granit-Sockel, lediglich getrennt durch die Rhône, könnten beide Appellation unterschiedlicher nicht sein. Schauen die Parzellen von Hermitage nach Süden, schaut Saint-Joseph bis auf wenige Ausnahmen nach Osten.
«Neugier, Aufmerksamkeit und Begeisterung sind etwas Wunderbares!»
Dominiert auf den 1375 Hektar Rebbergen von Saint-Joseph der Granit, variieren die Bodenbeschaffenheiten im nur 136 Hektar grossen Hermitage auf engstem Raum von Granit- über Sand- bis hin zu Ton-, Kalk- und Kieselböden. Auch sind die mikroklimatischen Verhältnisse zwischen den Lagen und den beiden Appellationen sehr unterschiedlich. Während Hermitage als Überflieger gilt, hat aber auch das unbekanntere Saint-Joseph einiges zu bieten: «Unsere Weinberge dort befinden sich in dessen historischem Herzen. Hier gibt es sehr spezifische kleine Lagen, welche zum Beispiel Château Grillet in nichts nachstehen, die aber durch die Reblaus in Vergessenheit geraten sind und brach liegen. Sie müssen erst einmal wiederentdeckt werden.» Und genau dies hat sich Jean-Louis zur Aufgabe gemacht. Schrieb Sunzi klug über die Kunst des Krieges, praktiziert Jean-Louis in Weinberg und Keller die strategische Kunst des Zuhörens der Natur. Ein Winzer, für den Ursprünglichkeit, Vielfalt und Präzision dieselbe Sprache sprechen.

Das Zusammenspiel des grossen Ganzen
Das Erbe einer so alteingesessenen Winzer- Tradition zu übernehmen, gehörte anfangs nicht wirklich zu Jean-Louis Chaves Karriereplan. Mathematikbegeistert, studierte er Finanzwesen und hängte nach Abschluss seines MBA noch ein Önologie-Studium an der University of California in Davis dran, schlicht um dem Wehrdienst in Frankreich zu entgehen: «Man wächst zwar im Weinberg auf, aber es ist unmöglich, im Voraus zu wissen, ob man Winzer werden will oder nicht. Der Beruf erfordert Leidenschaft, und lange war ich mir nicht sicher. Letztendlich hat mich meine Geschichte eingeholt. Ich habe unglaubliche Menschen getroffen, wie zum Beispiel Michel Bettane. Er ermunterte mich, mir selbst zu vertrauen, und hat in meiner Laufbahn eine Schlüsselrolle gespielt. » 1992, im Alter von 24 Jahren, steigt er in das damals nur zwölf Hektar grosse Weingut seiner Familie ein. Lange arbeitete er Seite an Seite mit seinem Vater Gérard, welcher heute, mit mittlerweile 90 Jahren, noch immer gerne ab und an vorbeischaut.

Jean-Louis mauserte sich über die Jahre zu einem der inspirierendsten Winzer seiner Generation. Anstatt wie heute üblich Wert auf aromatische Typizität oder einzelne Lagen zu legen, liegt Jean-Louis’ Fokus woanders: auf dem sich jedes Jahr ändernden Zusammenspiel zwischen Rebe, Klima und Bodenbeschaffenheiten. Handarbeit ist im Weinberg Standard, und in den steilsten Lagen wird eine Seilwinde benutzt, genau wie zum Beispiel im Schweizer Wallis. Die Familie arbeitet seit über 500 Jahren biologisch – mittlerweile zertifiziert. Auch hat sie nie das Handwerk der Feldselektion und des Pfropfens verlernt und betreibt seit jeher ihre eigene kleine Rebschule: Früher war dies für Winzer Normalität, seit der Reblaus ist es zur absoluten Ausnahme geworden. So werden auf dem Weingut sorgfältig selektionierte Reiser zu jungen Rebstöcken herangezogen. Dadurch entstand auf natürliche Weise innerhalb jeder Rebsorte eine grosse genetische Diversität sowie eine natürliche Widerstandsfähigkeit gegenüber Krankheiten: «Wir verfügen über gut hundert verschiedene Syrah-Klone», erzählt Jean-Louis stolz. In französischen Rebschulen gibt es lediglich zwölf.

Auch kombiniert er bei jeder Neupflanzung gezielt Bodentypen und Rebsorten: Syrah eher auf Sand- und Granitböden, Marsanne und Roussanne eher auf tonhaltigen Böden, jeweils um Frische und Eleganz zu fördern. Jedes Detail wird genau durchdacht, und Jean- Louis betrachtet die Landschaft nicht nur nach ihrem Nutzen, sondern kümmert sich auch um ihre Harmonie und fördert bewusst Biodiversität und Ökosysteme. «Man sollte seinen Weinberg wie einen Garten pflegen. Das erfordert natürlich viel Zeit und Aufmerksamkeit, aber die Rebe und die Natur geben dem Menschen zurück, was er ihnen gegeben hat.» Es ist ein altes Konzept, welches vor der industriellen Revolution in vielen Regionen zum gesellschaftlichen und politischen Leben dazugehörte, heute aber weitestgehend in Vergessenheit gerät.

Im Keller findet sich die Summe all dieser Aufmerksamkeiten und Details in jedem einzelnen Fass und Tank wieder. Es wird sanft gearbeitet und so wenig wie möglich eingegriffen. «Das Problem mit dem Naturwein ist, dass viele denken, man bräuchte nichts zu tun. Aber das ist völlig falsch. Wer dem Wein im Keller viel Freiheit gewähren und dennoch präzise sein möchte, der muss genau wissen, wann und wie gehandelt werden muss.» Verfügt das Weingut über modernste Kellertechnik für die Gärung, schlummern die Weine im labyrinthartigen Keller während des Ausbaus in alten Holzfässern und Fudern. Ganz besonders interessieren Jean-Louis die Komplementaritäten der unterschiedlichen Lagen innerhalb jeder Appellation. Getrennt vinifiziert und ausgebaut, werden sie später gekonnt wieder zu einem grossen Ganzen kombiniert. Das Resultat ist umwerfend, und die sensiblen Weine verkörpern nicht nur den Wesenskern von Saint- Joseph und Hermitage, sondern auch die Essenz eines jeden Jahrgangs.
Betrachten die meisten ab Verkauf ihrer Weine die Arbeit als vollendet, gehört für Jean-Louis eine letzte Etappe dazu: gutes Essen und die perfekte Begegnung von Speise und Wein. Es ist eine Art von Musik, die für ihn die Sinne zum Schwingen bringt, eben das absolute Tüpfelchen auf dem genussvollen «i».

Für die Ewigkeit gekeltert
Schon jung zugänglich, zeigt sich das volle Potenzial der Weine jedoch erst nach zehn Jahren auf der Flasche. Geduld lohnt sich!
Hermitage AOP Weiss 2022
97 Punkte | 2025 bis 2055
Grosszügig, kraftvoll, elegant, leichtfüssig und präzise am Gaumen. Minze, Wildkräuter, Kernobst, Melisse, mit feinen Bitternoten und von fröhlicher Komplexität. Vielseitig, schon jetzt ausdrucksstark und doch noch in seinen Kinderschuhen.
Hermitage AOP Weiss 2012
98 Punkte | 2025 bis 2055
Ein Hauch von Riesling-Noten überrascht. Minze, Lakritz und geriebene Orangenschale, insgesamt schüchtern, ungewöhnlich, präzise strukturiert, schmelzende Frische und Volumen. Karaffieren.
Saint-Joseph AOP Rot 2021
96 Punkte | 2025 bis 2055
Noch schüchtern, also gerne karaffieren. Frischer grüner Pfeffer, Veilchen, Schwarzkirsche, Blaubeere, unterlegt von einer feinen Tanninstruktur. Vollmundige, unkomplizierte Stilistik mit viel Potenzial.
Saint-Joseph AOP Rot 2018
96 Punkte | 2025 bis 2055
Kandierte Früchte, Schwarzkirsche und Kirschkern, Wildkräuter, Blaubeere. Unkompliziert und doch seriös, saftig und dicht gewebt, mit samtigen Tanninen. Wundervoll zugänglich.
Hermitage AOP Rot 2021
98 Punkte | 2025 bis 2055
Bilderbuch-Syrah: Veilchen, Schwarzkirsche, Lakritz, Wildkräuter, Menthol. Eine Textur zwischen Seide und Tweed, charmant, komplex, elegant und geschmeidig, eigentlich noch viel zu jung.
Hermitage AOP Rot 2012
98 Punkte | 2025 bis 2055
Kandierte Kirsche, delikate Fruchtnoten, insgesamt puristisch, präzise und noch immer sehr jugendlich. Dicht gewebte seidige Tannine, erfrischend, graziös und von frühlingshafter Stilistik. Wie ein Spaziergang während der Kirschblüte.
Hermitage AOP Rot 1995
100 Punkte | 2025 bis 2055
Fruchtig, vertikal, saftig, mit erfrischenden Bitternoten und von mineralischem Charakter. Ein Überflieger, seidig, straff, jugendlich, voller Leichtigkeit. Die zeitlose Perfektion von Hermitage.