Unaufhaltsame Langsamkeit

Juan Carlos López de Lacalle, Laguardia, Álava

Text: André Dominé / Fotos: z.V.g.

Viña El Pisón aus dem Familienweinberg der Lacalles zählt zu den besten Weinen Spaniens. Doch indem er mit Bodegas Artadi geduldig den eigenen Charakter seiner Rebparzellen erforschte und präzise in Einzellagenweinen herausarbeitete, führte er das verkannte Potenzial der Rioja vor. Jetzt wendet er sich mit gleichem Enthusiasmus dem Wein der Region zu.

Es gehörte schon immer zur Tradition der Familie, dass man Besucher in die Weinberge führte. «Wir können Marias Wagen wegen der beiden Kindersitze nicht benutzen», bemerkte Juan Carlos López de Lacalle, «also nehmen wir das Taxi.» Er lenkte seine Schritte von Artadis stilvollem Empfangsgebäude in Laguardia auf den Kellerbau zu. Davor wartete ein cremefarbenes Londoner Taxi. Schnell hatte er sich auf den Fahrersitz geschwungen, während Tochter Maria und ich im geräumigen Fahrgastraum Platz fanden. «Ein Andenken aus unserer Zeit in England», liess mich der Chauffeur wissen. Als er 40 Jahre alt war, sah er die Notwendigkeit, Englisch zu lernen und fand das auch für seine drei Kinder unerlässlich. Also zog die Familie für drei Jahre nach Salisbury, nicht weit von Stonehenge, wobei er selbst jedoch ständig zwischen dort und Laguardia pendelte. «Mit 40 eine Sprache zu erlernen, ist jedoch alles andere als einfach», gestand er mit einem Seufzer.

Der Weinberg La Laguna erstreckt sich auf einem sanften Hang über einem kleinen See, nur ein Stück weit an der Strasse nach Logroño. In seinem sandigen Boden wurzeln prächtige, vor mehr als hundert Jahren gepflanzte Tempranillo- Stöcke. Biologisch arbeitend und ohne den Einsatz von Düngern und synthetischen Chemikalien geht es Artadi darum, das Ökosystem in den Rebparzellen lebendig zu erhalten. So reflektieren die Weine ihre natürliche Umwelt. Juan Carlos lenkte das Taxi weiter auf einem schmalen Weg durch die Weinberge von Laguardia. Ein grandioses Patchwork von Rebgärten. Sie haben die Hänge erobert und weisen in die verschiedensten Himmelsrichtungen. Stark unterschiedlich sind Gefälle und Schattierungen der Böden. Der Anblick allein vermittelt schon den Eindruck, dass in jeder dieser Parzellen der Wein einen anderen Charakter entwickeln wird. Wir hielten oberhalb von La Poza de Ballesteros, einer fast quadratischen, auf die Nachmittagssonne ausgerichteten Parzelle, wo die Trauben hohe Reife gewinnen. Gegenüber, auf der anderen Seite des schmalen Tals, dehnt sich der langgestreckte, der Morgensonne zugewandte Weinberg Valdeginés, der für seine transparente rote Frucht und Beschwingtheit bekannt ist.

«Man muss dem folgen, was die Natur will. Wenn wir alle das Gleiche machen, ist das langweilig.»

Höhepunkt unserer Taxi-Tour wurde El Pisón, ein Weinberg in Form eines niedrigen Amphitheaters, nicht weit von Laguardia. Darin steht ein – aus dem 15. Jahrhundert stammendes – Steingebäude, in früheren Zeiten eine Wassermühle, die eine Hammerschmiede antrieb. Der Hammer wurde «el Pisón» genannt. «Dieser Weinberg war immer in unserer Familie. Mein Grossvater hat ihn 1945 bepflanzt», berichtete Juan Carlos. «Er hat mir viel beigebracht. Er war ein grosser, beeindruckender Mann.» Der Grossvater starb im Keller unter dem Familienhaus, als ein volles grosses Fass ins Rollen kam und ihn gegen die Wand quetschte. Zehn Jahre später teilte die Grossmutter das Erbe auf. El Pisón fiel an Juan Carlos’ Mutter und zwei seiner Onkel. 1990 konnte er deren Anteil erwerben. «Für mich war es klar: Ich wollte einen Wein zum Andenken an meinen Grossvater machen. Ich dachte dabei nicht an einen Einzellagenwein. Damals machte man nur Blends in der Rioja: die Säure der Rioja Alta, das Alkoholniveau aus der Rioja Baja und die Aromen aus der Rioja Alavesa. Die Blends aus unterschiedlichen Weinen waren über viele Jahre die generelle Idee für Rioja.» 1991 wurde der erste Jahrgang von El Pisón.

Sensationeller Erfolg

Die Anfänge gehen auf das Jahr 1985 zurück, als Juan Carlos López de Lacalle ein Dutzend Winzer in der Rioja für ein gemeinsames Projekt gewann. Ihr Ziel war es, den typischen, in kohlensaurer Mazeration vinifizierten Roten der Region bekannter zu machen. Es dauerte nicht lange, bis er erkannte, dass die Weine aus den ältesten Parzellen deutlich mehr Körper, Struktur und Potenzial besassen. Ab 1990 begann er, den Pagos Viejos separat abzufüllen und brachte 1991 den Grandes Añadas heraus, den er zum doppelten Preis von El Pisón anbot. Als 1992 die Familien Lacalle und Laorden (seine und die seiner Frau) die heutigen Bodegas y Viñedos Artadi gründeten, fuhr er fort, traditionellen Jungwein zu erzeugen, aber auch alterungsfähige reine Tempranillos auszubauen und miteinander zu assemblieren wie Viñas de Gain. Einen enormen Impuls erfuhr Artadi, als Robert Parker El Pisón 2004 mit hundert Punkten bewertete. Von da an pushte der Markt El Pisón unter die Topweine Spaniens. «Wir hatten keinerlei Marketing-Konzept für El Pisón», verrät Juan Carlos. «Für mich war der Wein aussergewöhnlich, weil er das Erbe meiner Familie war. Der Erfolg von El Pisón änderte unsere Wahrnehmung. Denn wir haben hier eine reiche Vielfalt. Die Böden sind anders, die Expositionen auch und ebenso die Stöcke des Tempranillo. Alles ist Tempranillo, aber in einer Fülle von Varianten. Hier gab es immer nur Massenselektionen.»

Tatsächlich bescherte Juan Carlos bereits der Jahrgang 2001 eine neue Vision. Unter seinen alten Weingärten in verschiedenen Lagen war ein Wein, der alle anderen überflügelte. Von da an wuchs der Wunsch, herauszufinden, was es mit den Parzellen tatsächlich auf sich hatte, ihr Geheimnis und Potenzial zu ergründen. So wandten er und sein Team den einzelnen Lagen vermehrt Aufmerksamkeit zu. Sie entdeckten überall spezielle Bodenarten, verbunden mit besonderen Biotopen, verstanden sie als lebendige Organismen und richteten ihre Weinbergarbeit darauf aus, diese Einmaligkeit auf natürliche Weise zu fördern. Im Keller vinifizierten sie mehr und mehr separat. Und sie mussten probieren, wie sich die Weine entwickelten. «Wir brauchten neun Jahre, denn die Rebkultur und die Arbeit im Keller ändert man nicht von einem auf den anderen Tag.» Es ist seine Stärke, dass er nichts vom Zaun brechen will, sondern den Dingen Zeit lässt, bis sie sozusagen von sich aus hervortreten. 2009 war es so weit. Artadi stellte sechs Einzellagenweine vor und Viña El Pisón an die Seite. Dieses Mal sehr gezielt. «Es ist ein Konzept für den speziellen Verbraucher, den echten Weinliebhaber.»

Die Arbeit aber ging weiter. In manchen Jahren brachte Artadi zusätzlich acht weitere Einzellagenweine heraus, denn insgesamt gehören der Familie rund 50 Parzellen. Alle werden jetzt separat vinifiziert und ausgebaut. «Wir respektieren jeden Weinberg für seine Andersartigkeit », betont Juan Carlos. Das Terroir so präzise in den Vordergrund zu stellen, widersprach allerdings den Regeln der DOCa Rioja. Folglich kehrte er ihr 2015 den Rücken. Inzwischen arbeiten die beiden Töchter Maria und Patricia sowie Sohn Carlos in dem Unternehmen mit, und alle Entscheidungen werden vom Familienrat einstimmig getroffen. 2020 beschloss dieser, dass es für den Markt zu verwirrend sei, so viele Weine – und manche nur in winzigen Mengen – auf den Markt zu bringen. Im Folgejahr assemblierten sie diese acht Parzellen mit dem Ziel, aus Viñas de Gain den Wein der Region zu machen und ihn in Zukunft auf das Niveau der Einzellagenweine anzuheben. Ihr langjähriger Önologe Jean-François Gadeau, der aus Bordeaux stammt, ist begeistert, dass jetzt bei Artadi die Cuvée eine neue Bedeutung erfährt. «Wir sind dabei, den Wein der Region zu verwirklichen», verrät Juan Carlos López de Lacalle. «Das ist das neue Projekt, einen Grand Vin zu machen und so den Weinliebhabern die Möglichkeit zu geben, unsere Region und auch unser Haus kennenzulernen.» Seit Anfang an hat er immer kontinuierlich an der Weiterentwicklung gearbeitet. Davon hat ihn auch der Erfolg nie abgebracht. Für ihn eine Lebenseinstellung: «Evolution oder Tod».

Die Vielfalt des Landes

Artadis Einzellagenweine begeistern aufgrund ihrer Andersartigkeit, aber nicht weniger durch ihre Geschliffenheit. Eine neue Dimension der Rioja.

Viñas de Gain Tinto 2021

17 Punkte | 2024 bis 2040

Wie alle Roten purer Tempranillo, aus verschiedenen Weingärten und acht früheren Einzellagen, in Demi-Muids ausgebaut. Intensive rote Früchte, Minze und dezente Gewürze. Erstaunliche Mineralität, süsse Frucht, samtige Textur, viel Dynamik im Ausklang.

La Hoya 2021

18 Punkte | 2024 bis 2040

3,3 Hektar in Elvillar de Álava mit tiefem, lehmigem Boden, nach Osten ausgerichtet, 1965 gepflanzt. Intensiv, floral, Duft von Anis, von roten und dunklen Beeren, sehr elegante Würze, ein Hauch von Erde. Zeigt sich im Mund trotz reizvollen Volumens kühl, schlank, distinguiert, tänzelnd, mit Wildkräutern, seidigen Tanninen, sublimer Finesse.

La Poza de Ballesteros 2021

17.5 Punkte | 2025 bis 2045

1,18 Hektar in Elvillar de Álava, Lehmboden mit Schluff und grobem Sand, westliche Lage, 1960 gepflanzt. Dicht und intensiv, reife dunkle Beeren, Bitterschokolade und Minze. Opulent und muskulös, sehr mediterran, eingehüllte Tannine, ausgezeichnete Länge!

El Carretil 2021

19.5 Punkte | 2027 bis 2050

3,64 Hektar in Laguardia, karger Boden mit tonreichem Lehm und aktivem Kalkstein in Südlage, 1930, 1975 und 1988 gepflanzt. Intensiv, frisch, rote Kirschen, Minze, Lakritz und Gewürze. Enorme Dynamik am Gaumen mit spannender, «knochiger» Struktur, hinreissender Präzision, viel Kraft, Tiefgang, Potenzial.

San Lázaro 2021

19 Punkte | 2024 bis 2045

1,62 Hektar in Laguardia, sehr sandiger, lehmiger Boden, Ausrichtung Südost, 1956 gepflanzt. Intensiv und frisch mit Minze, Kirschen und Cassis, dabei faszinierend zugänglich. Voller Energie, Mineralik, Seidigkeit, Finesse und unwiderstehlicher «Einfachheit», laut Juan Carlos.

Viña El Pisón 2021

20 Punkte | 2027 bis 2050

2,4 Hektar in Laguardia, tonreicher, sehr durchlässiger Lehmboden, reich an Kalk und grobkörnigem Sandstein, östlich ausgerichtet, 1945 gepflanzt. Dicht, intensiv und komplex, dunkle Früchte, würzig, rauchig, packend. Lebendig, süsse, elegante Frucht, Kraft und Finesse, Harmonie, imposante Ausdauer

Alle Weine ab Weingut erhältlich.

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