«Soyez enthousiaste!» 

François Mitjavile

Foto: z.V.g.

«Eine Legende? Ich? Drängen Sie mich bitte nicht zu schnell in mein unabwendbares Schicksal», sagte François Mitjavile, als ihn VINUM besuchte. Erst die Versicherung, dass in dieser Rubrik in erster Linie lebende Winzer porträtiert werden, konnte den 74-Jährigen umstimmen, der sich stolz als «Störenfried» der Bordelaiser Winzerszene sieht und Weine keltert, die allesamt Plädoyers für grösstmögliche Fruchtreife und Harmonie sind.

Wer Bordeaux in den Zeiten des hektischen Primeur-Rummels besucht und sich zu einem Abstecher zu Tertre Roteboeuf aufmacht, zu Deutsch «Der Hügel der schnaubenden Ochsen», tritt in eine auf fast magische Weise entschleunigte, völlig eigene Welt ein. Den Worten des im besten Sinne eigenwilligen Patrons François Mitjavile zu folgen, gleicht dies der Erfahrung, mit geschlossenen Augen den Klängen eines Orchesters zu lauschen, das aus tausenden von Tönen ein harmonisches Gesamtbild schafft. Dabei ist dieser besondere Ort gar nicht so leicht zu finden. Kein protziges Schild zeigt einem den Weg. Das Anwesen liegt versteckt in einer Senke des Kalksteinplateaus von Saint-Émilion, wohlbemerkt, auf einem der besten Terroirs der Region. Mit nur sechs Hektar Rebfläche ist es selbst für Saint-Émilion ein eher kleines Weingut, dessen Bewirtschaftung aufgrund der Weinberge, die steil nach Süden geneigt einem Amphitheater gleichen, eine Herausforderung ist. Das schlichte Anwesen, das bewusst nicht Château genannt werden will, scheint in einer eigenen Zeit stehen geblieben zu sein. François Mitjavile war der Prinz, der diesen Ort wachgeküsst hat. Das beweisen die Weine, die er keltert. Sie leben von Harmonie und Aromen, nicht von Struktur, wie er selbst betont. Es seien immer die Aromen und die Harmonie, die aus einem Wein einen grossen Wein machten. Strukturweine, wie beispielsweise viele 1986er Bordeaux, von denen man Jahrzehnte vergeblich glaubte, dass sie irgendwann mal noch Genuss bereiten würden, sind nicht sein Ding. Darum hat er eine besondere Leidenschaft für Frucht und Aromen entwickelt, die er deutlich höher gewichtet als alle anderen Elemente. Die ganze Vielfalt von Aromen könne nur mit perfekt reifen Trauben erzielt werden, sagt er. So erntete er beispielsweise im Jahr 2022 nicht vor Mitte September wie die meisten Güter, sondern erst am 23. September, also rund drei Wochen später. Diese späte Lese sei es, so Mitjavile, die es ihm ermögliche, Weine mit einem breiten aromatischen Spektrum und doch erstaunlichem Reifepotenzial zu erzeugen. Es sind Gewächse, die anders sind als alles, was man aus Bordeaux sonst kennt. Sein Mut, immer wieder eigene Wege zu beschreiten, macht Mitjavile zu einer viel beachteten, wenn auch umstrittenen Persönlichkeit.

Den Enthusiasmus nie verlieren

François Mitjavile ist 74 Jahre jung und versprüht eine Vitalität, die selbst den Schaffensdrang der wachsenden Tik-Tok-Generation überstrahlt. Es sind dieser unerschöpflich scheinende Enthusiasmus, die Lebensfreude und die Leichtigkeit, die diesen Mann immer weiter antreiben. Vielleicht habe er das von seiner Mutter, meint er, doch es erstaune ihn selbst immer wieder, wie positiv eingestellt er selbst unschönen Dingen gegenübertreten könne. Er sei ein Mensch, der selbst in der Traurigkeit das Schöne sehe, er möge Wolken und Regen mindestens so gerne wie die pralle Sonne. Und gerade auch in seinem Beruf als Winzer sei es entscheidend, dass man den Enthusiasmus nie verliert, egal was passiert. Etwa in jener Unwetternacht vor zwei Jahren. Seine Frau habe ihn morgens um zwei Uhr mit den Worten «Wach sofort auf, es hagelt!» geweckt.

François Mitjavile habe lediglich ein Auge geöffnet, den Hagel gesehen und seiner Liebsten gesagt: «Das hält mich nicht vom Schlafen ab.» Ein paar Sekunden später habe er wieder tief und fest geschlafen. Gut möglich, dass er sich gewisser Gefahren gar nicht richtig bewusst ist. Er sei vielleicht ein wenig wie der Ravi, eine dieser provenzalischen Krippenfiguren, ein Santon, eine Art Dorfnarr, ein etwas einfältiges, aber nicht bösartiges Wesen, das keine bestimmte Funktion im Krippenspiel hat, ausser Freude zu verkünden. Eine ebenso bescheidene wie schöne Selbsteinschätzung.

«Das Terroir gibt den Weg vor, der Winzer fügt sich und interpretiert.»

Klar, als Winzer kennt er auch Stress. Aber Stress sei im Kern etwas Exzellentes, da er die Wurzel jeglicher Dynamik sei, die nötig ist, um grosse Sachen zu schaffen. Bei seinen Weinen faszinieren ihn die anfangs störenden Elemente in jedem Jahrgang ganz besonders. «Das ist, wie wenn man beim Musikhören etwas völlig Unbekanntes wahrnimmt. Oder wenn man beim Essen einen neuen Geschmack entdeckt. Wenn man dieses Fremde, dieses anfangs vielleicht eben Störende schützen, herausschälen und auch kultivieren kann, dann entsteht Eigenständiges. » Auch bezüglich der Komplexität eines Weines hat François Mitjavile, wie nicht anders zu erwarten, eine klare, überraschende und wie immer philosophisch geprägte Meinung: «Die Komplexität eines Weines ist an sich noch keine Qualität. Komplexität kann auch Unordnung bedeuten. Wahre Qualität im Wein beruht zuallererst auf Harmonie. Und für Harmonie braucht es nicht unbedingt Komplexität. Hier in Bordeaux empfehlen die Berater den Winzern oft, die Komplexität ihrer Weine durch das Hinzunehmen einer weiteren Traubensorte zu erhöhen. Doch das betreffende Terroir ist leider längst nicht immer für die ausgewählte Traubensorte geeignet», sagt Mitjavile schmunzelnd.

«Ich rudere mein kleines Schiff»

Woher kommt die Andersartigkeit dieses Winzers? François Mitjavile ist katalanischer Abstammung. Sein Vater hatte ein Transportgeschäft für Wein, die Familie besass schon immer Weinberge im Süden Frankreichs. Noch heute kümmert sich, zusammen mit seinem Sohn Louis, sein Cousin Philippe Chesnelong um die Weinberge seiner Grossmutter und produziert dort Weine wie den Les Creisses et Les Brunes. Er selber kam durch Zufall zum Wein. Er sei, so gesteht Mitjavile, immer ein schlechter Schüler gewesen. So stieg er, um etwas Geld zu verdienen, ins elterliche Weintransportgeschäft ein und mietete das alte Weingut Tertre Roteboeuf anfangs als Wohnhaus. Keller gab es damals keine mehr, dafür Weinberge auf dem Kalkplateau von Saint-Émilion. Er habe sich damals gesagt: «Ich rudere lieber mit einem kleinen, eigenen Schiff durchs Leben, als mir weiterhin von Lehrmeistern sagen zu lassen, dass ich ein Idiot sei.» Der Aufstieg zum Spitzenwinzer hat ihm sein Terroir aufgezwungen. «Ich wäre ja mit guten Weinen zufrieden gewesen. Aber auf meinem steinig-steilen Terroir ist die Rebarbeit so aufwendig, dass es unmöglich ist, preislich gegenüber den Massen-Crus zu bestehen. Es blieb mir also nichts anderes übrig, als Topweine zu keltern. Das Terroir gibt den Weg vor, der Winzer fügt sich und interpretiert.» Darum habe er nicht das Recht, seine «Gemälde» zu signieren, denn er sei nicht verantwortlich für das, was die Natur vorgibt. So hat Mitjavile im Jahr 1988 einen sehr eleganten und 1989 einen sehr opulenten Wein gekeltert. «Aber das ist falsch, denn nicht ich habe das entschieden, sondern die Natur,» betont er.

Die Begeisterung nicht verlieren und seine Freiheiten zu behalten, das ist die Essenz im Winzerdasein von François Mitjavile. So erstaunt es nicht, dass er auf das Thema Bioanbau angesprochen, einen eigenen Ansatz verfolgt. Ohne den konventionellen Weinbau zu loben, will er sich sämtliche Freiheiten bewahren. «Freiheitskämpfer» lassen sich nun mal nicht in vorgegebene Denksysteme hineinpressen. Was rät ein weiser Winzer wie er der kommenden Generation, welche die Folgen des Klimawandels mehr und mehr zu spüren bekommt? «Ich mache mir diesbezüglich wenig Sorgen, zumindest was den Weinbau betrifft. Es wird zu Ernten mit reiferen Früchten führen und wir werden andere Aromen haben, die jedoch nicht schlechter sind als die von früher. » Ganz wichtig jedoch sei, und dies ist Mitjaviles abschliessender Ratschlag an seine Kinder: «Soyez enthousiaste!»

Viel Frucht, viel Potenzial

Die Weine von Tertre Roteboeuf versprechen schon früh eine fast barock anmutende Erotik und verfügen trotzdem über ein hervorragendes Reifepotenzial.

Roc de Cambes 2020

17.5 Punkte | 2023 bis 2035

Feinduftige, florale Nase, sehr expressiv, verspielt, zeigt Veilchen, Kräuter, rote und dunkle Beeren, rauchige Noten, sehr komplex und tiefgründig. Im Gaumen seidenweich, ein richtiger Schmeichler, die Frucht wirkt reif und doch sehr frisch, ungemein würzig, sehr gut strukturiert, mit genau der richtigen Dosis Gerbstoff.

Tertre Roteboeuf 2022

19 Punkte | 2030 bis 2050

Kräftige Farbe. Ganz leichte reduktive Noten, öffnet sich schnell, sehr feiner Duft. Dunkle, reiffruchtige Beeren, auch etwas eingekochte Erdbeeren, Pflaumen, Gewürze, Gräser. Top. Der Gaumen ist straff, zeigt eine gute Konzentration, die Frische ist da, die Frucht ist reif, feinste Tannine, Toplänge.

Tertre Roteboeuf 2021

17.5 Punkte | 2025 bis 2035

Kräftige Farbe. Leicht reduktive Noten, öffnet sich schnell, feiner Duft. Dunkle, reife Beeren, etwas eingekochte Erdbeeren, Pflaumen, Gewürze, Gräser. Der Gaumen ist straff, zeigt eine gute Konzentration, die Frische ist da, die Frucht ist reif, feinste Tannine, Toplänge.

Tertre Roteboeuf 2020

18.5 Punkte | 2025 bis 2040

Was für ein Parfüm! Tiefgründig und delikat, leicht rauchig, feine Röstnoten, dunkle Beeren, exotische Gewürze, blumig. Im Gaumen anfangs fast harmlos, man möchte ihn schlucken. Dann zeigt er seine wahre Grösse, die Gerbstoffe markant, die Frucht reif. Wird früh verführen, kann aber gut reifen.

Tertre Roteboeuf 2011

18.5 Punkte | 2023 bis 2035

Rauchig, zeigt Tabak, Pflaumen, viel reife Frucht, florale Töne, Veilchen, Zimt, Nelken, Ingwer, faszinierend komplex. Der Gaumen ist weich und rund, trotz gewisser Üppigkeit wirkt er nicht überladen, die reife Frucht harmoniert mit seidenweichen Tanninen. Ein sehr ausgewogener Wein, der aktuell in einem idealen Trinkfenster ist.

Tertre Roteboeuf 2005

18 Punkte | 2023 bis 2032

Sehr ausladende Nase, komplex, Cassis, Brombeeren, exotische Gewürze, Kräuter, sehr tief. Im Gaumen ausbalanciert, mit Opulenz, perfekt integrierter Barriquewürze und viel Struktur, die Elemente sind harmonisch, der Wein hallt sehr lange nach. Sehr hohe Qualität.

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