Ein Autodidakt mit Flair: das Premier Cru Cheval Blanc in Saint-Émilion und das Sauternes-Juwel Château d’Yquem stehen unter seiner Leitung
Pierre Lurton ist der «Ducasse des Weins», denn er leitet gleich zwei Spitzengüter
Text: Barbara Schroeder. Fotos: Rolf Bichsel
Man nennt ihn mitunter grossartig, den «Ducasse des Weins», weil er, fast wie der Drei-Sterne-Koch, gleich zwei absolute Spitzengüter leitet: das Premier Cru Cheval Blanc in Saint-Émilion und das legendäre Sauternes-Juwel Château d’Yquem. Dass er nicht nur Klavier spielt und gerne fotografiert, sondern quasi als Hobby auch gleich noch sein eigenes Weingut aus dem Boden gestampft hat, ist eine weit intimere Geschichte.
Er ist ein Lurton. Allein damit scheint ihm ein Platz im Bordelaiser Weinhimmel gesichert. Die Lurtons, grösste, vielköpfigste Weinfamilie der Welt, Herren über mehr als zwei Dutzend Weindomänen und fast 1500 Hektar Reben, sind aus dem Bordelaiser Leben nicht wegzudenken. Der Name steht für Erfahrung, Erfolg, Beständigkeit, aber auch eine gewisse Bodenständigkeit. Trotz ihres Erfolges und Reichtums sind alle Lurtons umgänglich und bescheiden geblieben. Und gut erzogen.
«Ja, ich bin ein Lurton. Doch ich habe auch einen Vornamen. Den musste ich mir selbst verdienen», sagt Pierre, der ewig vergnügte Pierre, ungewohnt ernst und mit Nachdruck. Denn Pierre, der seit mehreren Jahrzehnten über die Geschicke zweier legendärer Premier-Cru-Güter wacht, ist zwar ein Mitglied der Familie, die ihren Aufstieg zur Weinlegende als Rebschulgärtner und auf Château Bonnet im Entre-deux-Mers begann, doch im Gegensatz zu seinen erfolgreichen Brüdern interessierte sich Pierres Vater Dominique nicht besonders für eine Laufbahn als Grand-Cru-Châtelain. Sein bescheidenes Château im Entre-deux-Mers, Reynier, genügte ihm vollauf. Pierre gehört zu den wenigen Lurtons, die kein Weingut erbten, weder gross noch klein. Höchstens ein paar Hektar Reben, die er erst noch roden und neu bepflanzen musste.
«Natürlich besitze ich Erfahrung. Doch meinen Posten auf Yquem und Cheval Blanc verdiene ich mir jeden Tag neu.»
Wie alle Lurtons kam auch Pierre quasi in einem Eichenfass zur Welt und sass bereits als kleiner Junge gerne auf dem Traktor. Mit 18 Jahren schaute er auf dem Gut des Vaters nach dem Rechten. «Ja, ich wurde mit dem Weinbau gross und fast automatisch mit all seinen Aspekten vertraut. Wir waren oft auf den Gütern meiner Onkel zu Besuch. Man kann es drehen und wenden, wie man will: Als Lurton hat man den Weinbau im Blut.» Dennoch entschied sich Pierre zuerst für eine ganz andere Laufbahn und begann Medizin zu studieren. Doch die Familientradition war stärker. Er liess das Studium fahren und begann auf dem Premier-Cru-Clos Fourtet in Saint-Émilion zu arbeiten, das damals in den Händen der Geschwister André, Lucien, Dominique und Simone lag. «Auf Clos Fourtet habe ich meinen Job wirklich gelernt, als Autodidakt und von Anfang an am lebenden Objekt. Doch ich hatte die besten Lehrmeister, die man sich vorstellen kann: den legendären Önologen Émile Peynaud, der damals unser Berater war, seinen Nachfolger Ribereau-Gayon und später Denis Dubourdieu.»
Er hätte auf Clos Fourtet bleiben und da gemütlich sein Leben verbringen können. Doch Pierre wollte mehr. Er begann sogar vom eigenen Weingut zu träumen. Seine Eltern waren mit einer Familie namens Deleuze befreundet, die in der Nachbarschaft einen kleinen Landsitz namens Marjosse besass, den Pierre als Junge oft aufgesucht hatte. Ende der 1980er Jahre gelang es ihm, dieses Gut zu pachten. Fast gleichzeitig bewarb er sich als Verwalter von Cheval Blanc im Besitz der Familie Fourcaud Laussac und wurde prompt angestellt. Bis anhin hatte er auf Clos Fourtet gewohnt - nun zog er mit der Familie in die «Métairie» (den Bauernhof) von Marjosse ein.
«Die Jahre 1988 bis 1991 waren ziemlich abenteuerlich. Meine ersten vier Kinder kamen auf die Welt, ich war plötzlich Generaldirektor eines absoluten Spitzengutes, Pächter eines kleinen Landsitzes und besass immer noch gar nichts ausser meiner Energie und meiner auf Clos Fourtet erworbenen Erfahrung!»
Der grosse Spagat
Der Job als Generaldirektor von Cheval Blanc war alles andere als beschaulich. Es gab viel zu tun, wollte das Gut, das seit 1832 der gleichen Familie gehörte, weiter mit den allerbesten mithalten. Dennoch hielt Pierre an der Verwaltung von Marjosse fest, auch als Cheval Blanc 1998 von Albert Frère und Bernard Arnault erworben wurde und Bernard Arnault ihm 2004 auch die Aufsicht über Yquem antrug. Cheval Blanc war bereits eine besonderere Challenge. Doch gleich auch noch Yquem? «Ja, das war schon ein besonderer Spagat. Cheval Blanc produziert Rotweine, damit bin ich gross geworden. Doch Süsswein? Sauternes? Was man dort wie den Teufel fürchtet (die Botrytis), wird hier vergöttert!»
Immerhin: Alexandre de Lur Saluces hatte das Gut in mustergültigem Zustand übergeben, das Team (Francis Mayeur, Sandrine Garbaye und andere) war extrem kompetent, und Pierre konnte hier auf Denis Dubourdieu als Berater zählen. Letztlich galt, es, auf Cheval Blanc ein ähnlich exquisites Team zu etablieren - was Pierre, nicht zuletzt mit seiner heutigen rechten Hand Pierre Olivier Clouet, ausgezeichnet gelungen ist. Pierre Lurton nahm folglich auch die Hürde, zwei Weltklassegüter zu managen, mit der ihm eigenen Nonchalance. Sowohl Cheval Blanc als auch Yquem sind bis heute echte Vorzeigegüter, sowohl, was die Personalpolitik anbelangt, als auch die Qualität der Weine oder das Umweltmanagement. Und Marjosse? Pierre baute seine Präsenz auf «seinem» Weingut beharrlich aus, konnte erst den Hof, dann weitere Reben und schliesslich die kleine Chartreuse erwerben. Heute ist Marjosse mit rund 30 Hektar Reben eines der wenigen Güter der Basisappellation Bordeaux, das preiswerte Weine von Weltruf keltert, die sich in ihrer fröhlichen, zugänglichen Art wohltuend von den vielen anderen Basisbordeaux abheben, die im Supermarktregal Lockvogel spielen.
Keine Interessenskonflikte, wenn man ein Weingut besitzt und zwei andere leitet? «Die Besitzer haben mir ganz einfach vertraut. Sie haben das ganze Paket Pierre Lurton erworben, inklusive Marjosse. Ich habe von Anfang an mit offenen Karten gespielt und mein Engagement auf Marjosse so gehalten, dass es nie die Arbeit auf den beiden anderen Gütern gefährdete. Vielleicht war ihnen auch bewusst, dass jemand, der auf einer kleinen Domäne im Hinterland von Bordeaux mit seinen Mitteln haushälterisch umgehen musste, sich auch auf den grossen Gütern mit ihren Möglichkeiten nicht plötzlich als verschwenderischer Grand Seigneur aufspielen würde. Die Erfahrung auf Marjosse hat mehr zum Gelingen von Cheval Blanc und Yquem beigetragen als umgekehrt. Doch um eines ganz klar zu machen: Meinen Posten auf den beiden Spitzengütern verdiene ich mir jeden Tag neu.»
Vielleicht ist gerade das die heimliche Stärke des Autodidakten Pierre Lurton, der gut und gerne Klavier spielt und auch das nie offiziell gelernt hat. Er ist das geblieben, was viele von sich behaupten, aber nur selten wirklich sind: ein Weinbauer, der mit beiden Beinen im Rebberg steht, mit einer Rebschere umgehen kann und den Sonntag schon mal auf dem Traktor verbringt. Und er ist fast gezwungenermassen - weil es für ihn die einzige Möglichkeit war, sich den Traum vom eigenen Weingut zu erfüllen - das geworden, in Jahrzehnten harter Arbeit an sich selber, was es halt auch braucht: Ein äusserst tüchtiger wie vorsichtiger Verwalter von Eigentum, Umwelt und Mitarbeitern. Geholfen haben ihm seine typisch Lurton’schen Stärken: Umgänglichkeit, Diplomatie, Ruhe, Hartnäckigkeit und die seltene Eigenschaft, delegieren zu können. Denkt er heute, nach 40 Jahren intensiver beruflicher Laufbahn, an den wohlverdienten Ruhestand? «Alt wird man im Kopf. Ich fühle mich jung und habe noch einiges vor!»
Was tut Pierre, wenn er nicht gerade durch die Welt jettet, Sitzungen leitet oder Wein verkostet? «Dann bin ich hier auf Marjosse, meinem heimlichen Hafen, weit weg vom Lärm, im Grünen, gemeinsam mit meiner Frau, meinen Pferden, meinem Hund Bertin. Meine Frau Alexandra ist ein echter Snob, statt Bordeaux mag sie am liebsten Chambertin - ich habe mich dafür mit meinem chien Bertin gerächt!»
Prinz und Bettelknabe?
Mit der einen Hand zeichnet Pierre Lurton hochkarätige Premiers Crus, mit der anderen ausgezeichnete, fröhliche Basis-Bordeaux: Der Gegensatz kann kaum grösser sein.
Château d’Yquem 2017
Sauternes
Premier Grand Cru Classé 1855
19 Punkte | 2028 bis 2040
Noten extrem reiner, purer Botrytis, von herrlicher Öligkeit, Fülle und Rasse; monumentaler Wein, verbindet Masse mit Klasse. Muss unbedingt weiter reifen.
«Y» de Château d’Yquem 2019
Bordeaux Blanc Sec
18 Punkte | 2022 bis 2030
In der Nase verführerisches Bouquet von frischer Minze und Zitrusfrüchten; schlanker Auftakt, elegante Entwicklung, seidiger Schliff, am Gaumen mineralisch und sehr lang, auf Noten von Zitrusfrüchten.
Petit Cheval 2017 Saint-Émilion
16 Punkte | 2023 bis 2029
Von schlankem Bau, feinkörniges Tannin, frischer Ausklang; harmonisch, stilvoll, elegant.
Château Cheval Blanc 2017
Saint-Émilion Grand Cru
Premier Grand Cru Classé A
19 Punkte | 2026 bis 2040
Beeindruckend raffiniertes, sich entwickelndes Bouquet von Blüten und Gewürzen; am Gaumen seidiger Auftakt, gleichsam sämige Entwicklung über samtener Struktur, endet beispielhaft lang auf delikaten Beerennoten; herrlich transparenter Tropfen, der perfekt illustriert, was Eleganz im Wein bedeutet.
Château Marjosse 2019 Bordeaux rot
15.5 Punkte | 2022 bis 2025
Zuerst leicht reduktiv, doch öffnet sich rasch mit Aromen von Brombeere und Backpflaume; sanfter Ansatz, so geschmeidige wie fruchtige Entwicklung über feinkörnigem Tannin, das gut das spürbare Feuer ausbalanciert, gutes Säuregerüst auch, macht Spass. jung geniessen, um von seiner südlich anmutenden Fruchtigkeit zu profitieren.
Château Marjosse 2020
Entre-deux-Mers
15.5 Punkte | 2022 bis 2024
Bouquet von exotischen Früchten und Blüten; beginnt rund und prall, entwickelt Dichte über einer saftigen Struktur, endet genau richtig lang und erfrischend. Der Weisswein für jede Gelegenheit, hervorragend gemacht, preiswert, jetzt herrlich, doch kann problemlos ein, zwei Jahre reifen.