Winzerlegenden: Die fabelhafte Cruchon-Familie aus der La Côte

Die Familie Cruchon: ein Weinwunder der biodynamischen Art

Text: Thomas Vaterlaus, Fotos: Hans-Peter Siffert

Über vier Jahrzehnte hinweg haben das Brüderpaar Raoul und Michel Cruchon sowie ihre Ehefrauen samt Vater Henri im spektakulär unspektakulären Echichens, zehn Kilometer westlich von Lausanne in der La Côte, ein Weinwunder der besonderen, vor allem aber biodynamischen Art geschaffen. Jetzt übernimmt die nächste Generation – vier Frauen mit Esprit und Power.

Die sinnliche Wahrnehmung ist eine gewaltige Kraft. Sie kann ins Verderben führen, wie es uns der Roman «Das Parfüm» von Patrick Süskind lehrt. In den meisten Fällen aber macht sie uns zu glücklicheren Menschen. So war es auch bei Raoul Cruchon. Irgendwann in den 90er Jahren sass er in seinem privaten Weinkeller und hatte den biodynamisch erzeugten Chardonnay La Macabree aus Auxey-Duresse der Domaine d’Auvenay vor sich im Glas. Ein Wein von der Ausnahmewinzerin Lalou Bize-Leroy. Was dann passierte, weiss der heute 62-jährige Önologe aus der La Côte noch ganz genau: «Es hat Boom gemacht. Von diesem Moment an war mein Weg vorgezeichnet», erinnert er sich. Und nicht nur sein Weg. Schnell begeisterte er auch seinen Bruder Michel, der in der Domaine Cruchon für die Weinberge verantwortlich ist, vom biodynamischen Weg. Nach ersten Versuchen im Jahr 2000 wuchs die Überzeugung der beiden für diese Anbauform, die den Rebbau in einer ganzheitlichen Beziehung mit dem Rhythmus von Natur und Kosmos begreift. Vor kurzem haben sie nun ihr Ziel erreicht: Nicht nur ihre eigenen 13 Hektar im Anbaugebiet Morges werden nach den Vorgaben von Demeter biodynamisch bewirtschaftet, sondern auch die 22 Hektar ihrer vier Partnerfamilien. Was rückblickend fast schon wie ein selbstverständlicher Prozess anmutet, war beharrliche Arbeit. «Viel lesen, viel hinterfragen, viel lernen, viel verkosten, viel ausprobieren», bringt es das Brüderpaar auf den Punkt. Besonders hilfreich war, dass sie den Weg nicht alleine gehen mussten. Mit Raymond Paccot von der nahe gelegenen Domaine La Colombe und der Walliser Ausnahmewinzerin Marie-Thérèse Chappaz hatten sie ebenbürtige Mitstreiter. «Wir haben uns gegenseitig stets unterstützt und motiviert. Es war eine der schönsten Erfahrungen in meinem Winzerleben», sagt Raoul Cruchon. Die «drei Musketiere» haben viele Winzerinnen und Winzer motiviert, ihrem Beispiel zu folgen. So sind Cruchon & Co. die spirituellen Väter des Biobooms im helvetischen Weinbau. 16,6 Prozent der Schweizer Rebfläche werden heute kontrolliert biologisch bewirtschaftet, vier Mal so viel wie vor zehn Jahren.

Les Filles Vinifient

So wäre doch eigentlich die Zeit gekommen, in der es Raoul und Michel etwas ruhiger nehmen könnten. «Ich hatte mir vorgenommen, mich nach dem Erreichen des Rentenalters mehr mit dem Thema Naturwein zu befassen», sagt Raoul. Doch dieser Zeitplan war seiner Tochter Catherine und später auch seinen beiden Nichten Yaëlle und Laura, die inzwischen alle im Betrieb mitwirken, deutlich zu langsam. Schon 2014 hat Catherine Cruchon mit dem Altesse Natur erstmals einen ungeschwefelten Wein in die Flasche gebracht. Seitdem ihre Cousinen Yaëlle und Laura sowie ihre Ehefrau Margaret ins Weingut eingestiegen sind, ist aus der Natur-Idee eine eigenständige Weinlinie entstanden. Sie heisst Les Filles Vinifient und umfasst vier Weine. Rund 17 000 Flaschen ungeschwefelte Weine bringen sie inzwischen jährlich in den Handel. Und die Nachfrage ist gross: «Ja, wir könnten wesentlich mehr verkaufen», sagt Catherine Cruchon. Und was sagt ihr Vater Raoul dazu, der mehr als 40 Jahre lang sowas wie der «Spiritus Rector» dieses Weingutes war? Er gibt die Antwort mit seinem Gaumen, denn nachdem die Verkostung der Cruchon-Weine beendet ist, und sich zum Tapas-Lunch jeder einschenkt, was er möchte, fällt doch auf, dass sich Raoul Cruchon fast ausschliesslich an die Naturweine der Filles Vinifient hält... Verständlich! Vor allem die weissen Natures, aus Chasselas, Altesse und Gewürztraminer gekeltert, begeistern mit ihrer lebendig-temperamentvollen Art.



«Viel lesen, viel hinterfragen, viel lernen, viel verkosten, viel ausprobieren.»

Wer ins beschauliche Echichens kommt, fühlt sich Lichtjahre entfernt von der Postkartenlandschaft des Lavaux mit seinen dramatischen Terrassen-Rebgärten. Die La Côte und besonders Echichens wirken da im Vergleich schon fast spektakulär unspektakulär. Und das macht gerade den Charme dieses Ortes aus. Die Cruchons haben sozusagen das Zentrum des Dorfes besetzt. Das Bauernhaus mit dem grosszügigen Verkaufsraum befindet sich gleich gegenüber der Kirche mit der Inschrift «Ewiger! Ich erhebe meine Seele zu dir». Etwas weniger pathetisch sind die Botschaften der Boulangerie Haas mit ihrem kleinen Terrassenrestaurant, die auf Schiefertafeln Croque Monsieur, Pâtes Vaudois oder Tartelettes au Vin anbietet. Und im anderen markanten Haus am Platz wohnen Raoul und Michel Cruchon mit ihren Ehefrauen Lisa und Amparo. Die Filles Vinifient logieren derweil in einigen hundert Metern Distanz in einem schlicht-modernen Wohnquartier am Eingang des Dorfes, das kürzlich fertiggestellt worden ist. Und auch der eben 90 Jahre alt gewordene Gründer der Domäne, Henri Cruchon, wohnt ganz in der Nähe. Bis zur Covid-Pandemie war er jeden Tag im Verkaufsraum anzutreffen, jetzt sind seine Besuche in der Domäne etwas seltener geworden. Und doch zieht es ihn immer wieder mal in dieses gemütliche Kellerlokal aus viel Stein und Holz. Kein Wunder, es ist das Herz des Betriebes. Jeden Morgen trifft sich die neunköpfige «Cruchon-Gang», um den Tag zu besprechen. Danach schwärmen alle aus. Michel mit seinen Töchtern Yaëlle und Laura in die rund 50 Rebparzellen, die sie im Terroir von Morges bearbeiten, Raoul und Catherine in den Keller, ein Zweckbau im Hinterland des Sees. «Gemeinsam, aber doch jeder auch mit der nötigen Luft für sich und seine Arbeit» – das ist das Erfolgsrezept dieses aussergewöhnlichen Familien-Projekts.

Und jetzt Le Stim!

Was immer sie anpacken, sie tun es nach ihrem Motto «Avec les mains et le cœur!». Kaum jemand in der La Côte hat sich so minuziös und nach burgundischem Vorbild des Grand-Cru-Themas angenommen. Die sieben Lagen, die sie schliesslich als «Grand Cru»-würdig eingestuft haben, sind Garanten für terroirgeprägte Gewächse, die Visitenkarte des Betriebes. Au Sol, Mont-de-Vaux, Clos des Abbesses und Le Chapitre sind dem Chasselas vorbehalten, Les Lugrines und Raissennaz dem Pinot Noir. Aus Champanel gibt’s Wein aus beiden Sorten. Im weitläufigen Hinterland des Sees, wo nur die Kuppen und Hügelflanken mit Reben bestockt sind, während im ausgedehnten Flachland dazwischen vor allem Getreide angebaut wird, heben sich diese Grand Crus zwar kaum vom Umland ab, aber im Glas geben sich die Nuancen, hier ein wenig mehr sandige Molasse, dort etwas mehr kalkhaltiger Lehm, doch zu erkennen. Wobei alle der rund 30 Weine, welche die Cruchons in die Flaschen bringen, das Prädikat «State of the Art» verdienen. So erzielte beispielsweise vor zwei Jahren ihr Blanc de Blancs Cœur de Cuvée bei einem VINUM-Profipanel mit ausgewählten Schweizer Schaumweinen die höchste Bewertung. Für Catherine Cruchon keine Überraschung: «Wir trinken selber gern und viel Schaumwein, und guter Champagner ist teuer. Da mussten wir einfach was machen!»

Die Cruchons sind ein Glücksfall für ihre Region. So haben Michel und Raoul Cruchon massgeblich dazu beigetragen, dass der Servagnin, ein in der Region seit dem 15. Jahrhundert heimischer, aber zwischenzeitlich ausgestorbener Pinot-Klon gerade wieder eine Renaissance erlebt. Jetzt widmet sich Raoul Cruchon bereits der Wiederbelebung eines weiteren Kulturgutes aus Morges, dem Le Stim, einem Bitter-Apéro auf der Basis von Quinquina (Chinarinde), Früchten und Zitrusfruchtgewächsen.

Dynamie in Nase und Gaumen

Die Umstellung auf Biodynamie hat den Crus spürbar mehr Eigenständigkeit und Lebendigkeit verliehen. Das zeigt sich besonders auch beim Chasselas.

Chasselas Grand Cru En Roman 2021

17 Punkte | 2022 bis 2026

Solche Chasselas braucht das Land! Zeigt sich schon in der Nase glasklar und frisch, mit einem Anflug von Agrumen, dazu herbale Noten, besonders Wiesenkräuter. Im Gaumen beschwingt, luftig und leicht. Getragen von einer präsenten, saftigen Säure.

Altesse 2021

17 Punkte | 2022 bis 2026

Die vor allem in Savoyen kultivierte Sorte Altesse bringt in den Cruchon-Rebbergen absolute Top-Crus hervor. Pfirsich, etwas exotische Frucht, auch Kernobst, erdige Aromen. Im Gaumen kraftvoll, mit Temperament und viel Zug. Animierend. Frisch im Abgang. 

Omnis Orange Natur 2021

17.5 Punkte | 2022 bis 2028

Der reinsortige Gewürztraminer durchlief eine klassische Maischegärung und wurde ohne Schwefelzugabe abgefüllt. Sehr präzise Aromatik mit weissen Blüten, Bergamotte, Grüntee und einem Hauch von Rosenblättern. Im Gaumen dicht gebaut und sehr lebendig, betont durch einen Hauch von Kohlensäure.

Altesse Nature 2016

18 Punkte | 2022 bis 2025

Wie ein klassischer Weisswein verarbeitet, aber ohne Schwefelzugabe abgefüllt. Nach sechs Jahren in perfekter Trinkreife. Aromen von Kernobst, besonders Äpfel und etwas Mirabellen, mineralische Noten, ein Anflug von Petrol. Im Gaumen dicht gebaut, mit viel Rückgrat und noch mehr Finesse. Saftig-temperamentvolles Finale.

Servagnin Grand Cru 2018

17.5 Punkte | 2022 bis 2025

Der seit dem 15. Jahrhundert in Morges heimische Pinot-Klon ist ein Garant für eigenständige Weine. Rote und dunkle Beeren, auch Holunder, dazu herbale Noten, besonders Minze. Im Gaumen kernig und lebendig.

Pinot Noir Raissennaz Grand Cru 2016

18 Punkte | 2022 bis 2027

Die Grand-Cru-Lage Raissennaz ist seit Jahren ein Garant für Pinots mit ausgeprägter Eleganz. Aromen von reifen Erdbeeren, auch rote Kirschen und ein Anflug von herbalen Noten und vornehm zurückhaltender Würze. Im Gaumen fruchtbetont weich, gleichzeitig aber doch beschwingt.

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