Der Wein-Mono-Maniac aus Genf

Winzerlegende Jean-Michel Novelle, Satigny

Text: Thomas Vaterlaus, Fotos: Hans-Peter Siffert

In den 80er Jahren galt er als der «wilde Punk» in der Westschweizer Weinszene. Dann wurde er Consultant mit Mandaten von Savoyen bis Chile. Heute bringt der 58-Jährige von seinen sieben Hektar Reben in Satigny bei Genf mindestens 35 verschiedene Kreationen in die Flasche. Ist das verrückt? Nein, denn Jean-Michel Novelle weiss ganz genau, was er macht!

Die Sache mit den Barriques zeigt sehr gut, wie dieser Mann tickt. Mitte der 80er Jahre gehörte er zu den ersten Westschweizer Winzern, die mit ihren Barrique-Selektionen für Furore sorgten. 2009 zählte er wiederum zu den Ersten, die die Holzfässer aus ihren Kellern verbannten. Aber nicht ohne ein letztes Ausrufezeichen zu setzen. Zum Abschied von seiner Holz-Periode liess er nämlich ausgewählte Rotweine nicht weniger als sechs Jahre minutiös gepflegt in Barriques reifen. Point Final nennt er diese Goodbye-Linie folgerichtig. Es sind beeindruckende Genfer Gran Reservas, denen es nicht an Frucht, Frische und Präzision mangelt. Ohne Frage: Dieser Mann hat keine Angst vor Zäsuren. Doch er trifft seine Entscheidungen nie unter dem Einfluss von Trends und Moden, sondern immer aufgrund seiner individuellen Erkenntnisse, zu denen er mit geradezu wissenschaftlicher Akribie gelangt. «In der Realität ist es aber tatsächlich oft so, dass ich nach links gehe, wenn alle andern rechts abbiegen», sagt er. Während Winzer heute Lobeshymnen auf die rebbergseigenen Naturhefen singen, vergärt er seine Weine mit einem Cocktail aus selektionierten Reinzuchthefen. «Eine präzise und schnelle Vergärung ohne Restzucker und ohne flüchtige Säure ist essentiell für mein Konzept», sagt er.

«Wenn ich im Rebberg oder Keller arbeite, fühle ich mich ähnlich wie ein Mönch in Klausur.»

Denn in diesem Konzept sind zwei Dinge von zentraler Bedeutung: Jean-Michel Novelle vinifiziert heute fast alle seine Weine, auch die roten Gewächse, ohne biologischen Säureabbau. Wobei er bei den Rotweinen mittels eines schonenden Stickstoff-Einsatzes die Kohlensäure so weit eliminiert, dass sie nicht mehr wahrnehmbar ist. Genau so wichtig ist ihm eine minimale Schwefelung. So entsteht die Novelle-Stilistik, nämlich ausdrucksstarke, pure Weine, die dank einer präsenten Säure und einer oft salzig anmutenden Mineralität gleichzeitig eine grosse Lebendigkeit aufweisen. Exemplarisch zeigt sich das beim Iconique Pinot Noir, der mit seiner zarten rotbeerigen Frucht und seinem tänzerischen Temperament auch Naturwein-Aficionados begeistern kann, obwohl er eben ein Vertreter einer ganz anderen Schule ist.

Genf, Cannes, Chile…

Mit gebleichten Haaren und Punk-Frisur, kombiniert mit pointierten Auftritten, galt Jean-Michel Novelle in den frühen 90er Jahren als der jugendliche Rebell in der behäbigen Westschweizer Weinszene schlechthin. Mit seinem Fruit Noir von schon damals über 60-jährigen Gamay-Stöcken, die sein Grossvater einst höchstpersönlich aus Morgon im Beaujolais nach Genf gebracht hatte, lancierte er den ersten Icon-Cru aus der Leichtweinsorte. Und mit dem Petite Arvine, den er einige Jahre lang sortenrein kelterte, bewies er, dass die Walliser Ursorte nicht nur in ihrer Heimat vorzüglich gelingen konnte. Doch um das Millennium herum wurde es dem Freigeist in Genf zu eng, und er startete eine Consulting- Karriere, weniger als Flying Winemaker, sondern mehr als langfristig wirkender Berater. Dabei arbeitete er nie in Konzernstrukturen, sondern immer im direkten Kontakt mit den jeweiligen Winzern oder Patrons. In diesem Kontext betreute er zwischenzeitlich bis zu 20 Projekte gleichzeitig. Der Job brachte ihn an einige inspirierende Orte. Viel Zeit verbrachte er beispielsweise bei den Zisterziensermönchen der Abbaye de Leyrins auf der Île Saint-Honorat bei Cannes. Auf der paradiesischen Insel mit ihrer mediterranen Vegetation, den Kiefernhainen und den idyllischen Buchten, auf der ausserhalb der Besuchszeiten besinnliche Ruhe herrscht, nahm er das Mittagessen jeweils schweigend mit den Mönchen im Refektorium ein und nächtigte im kleinen Gästetrakt des Klosters. Vor allem aber half er den Mönchen bei der Weiterentwicklung des acht Hektar umfassenden Weingutes. Bei fast allen Projekten arbeitete Jean-Michel Novelle anonym im Hintergrund mit. Doch es gibt eine wichtige Ausnahme, nämlich die seit 2001 dauernde Zusammenarbeit mit der Familie Garces Silva in Chile, die in Leyda im San Antonio Valley, nur wenige Kilometer vom kalten Pazifik entfernt, ein 800 Hektar umfassendes Anwesen besitzt, und vor allem mit ihrer Amayna-Linie international starke Akzente setzt. Auch Leyda ist ein inspirierender Ort. Unweit des Weingutes, direkt an der wilden Küste, befindet sich etwa die Casa de Isla Negra, der märchenhaft verwinkelte Rückzugsort des chilenischen Literatur-Nobelpreisträgers Pablo Neruda, eine Villa Kunterbunt mit Sammlerstücken wie Galionsfiguren von Schiffen oder Hörnern von Narwalen. Klar hat Jean-Michel Novelle dieses magische Haus besucht. Doch solche Ausflüge blieben stets Ausnahmen. «Wenn ich als Berater unterwegs war, blieb der Fokus immer auf den Wein gerichtet. Ich lebte an all diesen wunderbaren Orten wie ein Mönch in Klausur. Wahrscheinlich bin ich ein Wein-Mono-Maniac!» Eine kleine Anekdote bestätigt das: «Einmal kam meine Familie nach Chile mit. Die Idee war, zuerst die Amayna-Weine abzufüllen und dann eine Woche mit einem Wohnmobil herumzureisen. Doch als die auf einem Truck installierte Abfüllanlage schliesslich ankam, war sie in einem so schlechten Zustand, dass ich vier Tage brauchte, um sie in Schuss zu bringen. So dauerte die Familienreise dann halt nur noch drei Tage. Es war das erste und letzte Mal, dass meine Familie mich bei einer Arbeitsreise begleitete… », erzählt er. 

Pinot ist ein Löwe, Gamay ein Elefant

Fast 20 Jahre lang war Jean-Michel Novelle oft mehr als 40 Wochen pro Jahr unterwegs. 2019 beendete er diese Beratertätigkeit mit Ausnahme des Mandats in Chile, um sich fortan wieder auf seine Domaine le Grand Clos in Satigny zu konzentrieren. Und er lancierte sein Weingut neu als Familienprojekt. So ist seine Frau, Anne Dafflon Novelle, die ursprünglich im Bereich Sozialpsychologie promoviert und jahrelang Projekte an der Universität von Genf betreut hatte, für das Marketing verantwortlich. Mit sichtbaren Resultaten: Die neue Website wirkt frisch und aufgeräumt, es gibt Aktivitäten auf Social Media, und im Zentrum von Satigny gibt es nun einen Showroom im trendigen «Shabby Chic»-Style. Dort thronen sie alle in einer Vitrine an der Wand, die 35 Novelle- Weine, optisch klar unterteilt in Kollektionen wie «Iconique» für die fruchtbetonten Sortenweine. Der Charakter dieser «Iconiques» wird auf den Labels übrigens durch Tiere symbolisiert, und man kann lange mit Jean-Michel Novelle diskutieren, warum der Pinot Noir da ein Löwe ist und der Gamay ein Elefant… Zur Kollektion «Empreinte» gehören Assemblagen von Sorten und Jahrgängen, und «Fusion» sind Foodpairing-Weine zu klar definierten Gerichten. Es sind allesamt überzeugende, vor allem aber sehr innovativ konzipierte Weine. Ein schlicht einzigartiges Gewächs ist beispielsweise der Empreinte Marine, eine ausdrucksstarke Assemblage aus Petite Arvine, Petit Manseng und Savagnin Blanc. Oder der Fusion 933, eine weisse Assemblage, speziell geschaffen fürs Foodpairing zu Meeresfrüchten wie Langusten, Hummer oder Crevetten. Erstmals hat Jean-Michel Novelle auch Weine entsprechend den Vorlieben seiner Familie kreiert. Für seine Frau Anne den schäumenden Reserve Personelle, ein Demi-Sec aus Pinot Noir, für seine beiden Töchter Nanouchka und Ninotchka zwei edelsüsse Assemblagen und für Sohn Nikita einen aromatischen trockenen Weisswein. Alle drei Kinder haben übrigens drei russische Namen, von denen der erste immer mit einem «N» beginnt. Bei Jean-Michel Novelle, das wird jedem Besucher früher oder später klar, ist einfach alles ein bisschen anders.

Das Novelle-Wein-Universum

Er begann 1984 mit den drei Sorten Chasselas, Gamay und Pinot, die er vom Vater geerbt hatte. Heute produziert Jean-Michel Novelle aus 17 Sorten total sechs Kollektionen, insgesamt 35 Weine. Eine Schatztruhe für Weinfreaks!


Extra Brut Blanc de Noirs 2017

Der reinsortige Pinot Noir lag drei Jahre auf der Hefe, bevor er degorgiert wurde. Mit zwei Gramm Restzucker herrlich trocken. Edle Brioche-Noten, dazu weisse Blüten und ein Anflug von roten Beeren. Auch mineralisch-steinige Komponenten. Am Gaumen kräftig, geradlinig, wunderbar frisches Finale.

18 Punkte | 2021 bis 2024

Iconique Chasselas 2019

In den 80er Jahren schwor Jean- Michel Novelle, nie einen Chasselas abzufüllen. Westschweizer Journalisten überzeugten ihn, es doch zu tun. Typische Aromen von Lindenblüten, Grüntee und Agrumen. Am Gaumen sehr lebendig, geradlinig und frisch. Animierendes Finale.

17.5 Punkte | 2021 bis 2024

Empreinte Marine

Einzigartige Assemblage ohne Jahrgangsangabe aus Petite Arvine, Petit Manseng und etwas Savagnin Blanc. Intensive Aromatik mit ausgeprägt mineralischsalzig-erdigen Noten, Agrumen, aber auch Wachs und einem Touch Umami. Am Gaumen reichhaltig, ausgewogen mit einem salzigbeschwingtem Finale.

18.5 Punkte | 2021 bis 2026

Iconique Pinot Noir 2018

Ohne biologischen Säureabbau im Immervoll-Tank mit schwimmendem Deckel vinifiziert, überzeugt dieser Pinot mit seiner animierendsubtilen rotbeerigen Frucht. Auch florale und erdige Noten. Am Gaumen wunderbar lebendig, ja geradezu tänzerisch!

18 Punkte | 2021 bis 2027

Iconique Gamay 2018

Dieser Gamay von sehr alten Reben war schon unter seinem früheren Namen Fruit Noir legendär. Johannisbeeren, Kirschen, dazu Veilchen, Minze und Unterholz. Am Gaumen fruchtbetont und lebendig. Saftig, mit tragender Säure.

18 Punkte | 2021 bis 2026

Point Final II

Zum Abschluss seiner Barrique- Karriere liess Jean-Michel Novelle diese Assemblage aus Cabernet Sauvignon und Syrah sechs Jahre in Barriques reifen. Aromen von dunklen Waldbeeren, Kirschen, auch etwas Brombeeren. Dazu eine Spur Pfeffer und edle, gut integrierte Würze. Am Gaumen dicht gewoben, mit likörig konzentrierter Frucht und einer tragenden Säure.

18.5 Punkte | 2021 bis 2030

vinum+

Weiterlesen?

Dieser Artikel ist exklusiv für
unsere Abonnenten.

Ich bin bereits VINUM-
Abonnent/in

Ich möchte von exklusiven Vorteilen profitieren