Winzerlegende Michel Chapoutier, Rhone

Universalgenie

Text: Barbara Schroeder, Bild: Rolf Bichsel

Er besitzt Reben in fast allen Regionen Frankreichs, aber auch in Australien, Portugal sowie Spanien und gehört zu den Pionieren des biodynamischen Anbaus. Amerikanische Medien halten ihn für den besten Winzer Frankreichs. Er steht oft und gerne in der Küche, sammelt neue Kunst oder alte Armbanduhren und gilt als unersättliche Leseratte. Michel Chapoutier ist ein Phänomen.

Wo beginnen, wo enden mit diesem Wirbelwind? Wie ihn präsentieren, diesen Tausendsassa, der Katalogisierung nicht ausstehen kann, empirisch und instinktiv nach Lösungen sucht, bevor Probleme überhaupt erst formuliert werden, ein Dutzend Ideen gleichzeitig ausdrückt, Vertikalität nicht gelten lässt und Horizontalität zum Mittel nimmt, Gedankenfetzen kreuz und quer zu verknüpfen und daraus ungewöhnliche Schlüsse zu ziehen, mit Inspiration, Charme, Humor und entwaffnender Logik, mit Ethik, Herz und Verstand? Der auf jede Frage nicht eine Antwort weiss, sondern gleich mehrere, dessen Aussagen in die Breite wachsen und der jeden Versuch, zu vereinfachen, grosszügig scheitern lässt. Eine komplexe Persönlichkeit, der Michel Chapoutier, ausufernd, ermüdend, inspiriert und inspirierend.

Komplex dank Komplex?

Wo beginnen? Genau beim Komplex vielleicht. Jüngster Spross von vier Kindern, Enkel eines Grossvaters, dessen Weinhandel zusehends Staub ansetzte, jüngster Sohn eines Vaters, der jede Art von Studium als verlorene Zeit abtat, und einer aus Stuttgart gebürtigen, ewig glücklichen Mutter, deren Frohnatur, wie Michel sagt, keine Sophistikation zuliess, nicht in der Küche und nicht im Leben, musste er sich selber konstruieren, der Michel, der es gerade bis zu einem «Bac plus 2» brachte, das heisst, zwei Lehrjahren (in Weinbau) nach dem Abitur. Michel: «Ich litt damals echt unter der Tatsache, dass ich nicht studieren konnte. Hatte einen Minderwertigkeitskomplex, wenn ich mit sogenannten Gebildeten sprach. Doch ich merkte rasch, wie festgefahren akademisches Wissen war. Forscher schienen blind für alles, was sie nicht rationell erklären konnten. Reagierten mit Verblüffung auf meine Fragen, die mir logisch schienen, ihnen aber so abstrus, dass sie keine Antwort wussten. Ich bin ein Querdenker, ein Autodidakt, und stehe dazu. Heute sehe ich das als Vorteil an, als Motor meiner Lebensphilosophie. Oder besser: meiner Philosophie des Lebendigen, des sich unaufhörlich, unaufhaltbar Bewegenden.»

Erste und sehr gegensätzliche Erfahrungen im Wein holte er sich im Elsass und in Kalifornien, wo er mit der Technik des Weins in Berührung kam, dem «Weinmachen», wo technische Perfektion im Vordergrund stand und Terroir als Schrulle galt. Mit diesem wurde er im Elsass konfrontiert. Kalifornische Weine, so Michel, schmeckten nach ihren Machern. Im Elsass stand der Ort im Vordergrund, von dem sie stammten. Da gerieten Weine der gleichen Sorte, vom gleichen Winzer angebaut und vinifiziert, aber von unterschiedlichen Böden stammend, die oft nur ein paar Hundert Meter oder wenige Kilometer auseinanderlagen, völlig anders. Neue gegen Alte Welt? Zu banal, zu reduktiv. Terroir schien zwar in ein paar wenigen französischen Spitzenweinen zu existieren, nicht aber im Gros der Mittelklasseweine, die auch technisch nicht über alle Zweifel erhaben waren. Das galt nicht zuletzt für die Weine des vom Vater geleiteten Familienbetriebs.

Von Pionieren der Bio- und Biodynamik-Bewegung lernte er, warum: Terroir kann sich erst ausdrücken, wenn Mikroorganismen Vermittler zwischen den in einem spezifischen Boden vorhandenen Mineralsalzen und der Rebe bzw. deren Wurzel spielen. Die Mikroorganismen helfen der Rebe bei der «Umsetzung des Terroirs», die Rebe fördert im Gegenzug die Mikrobiologie des Bodens. «Und dies seit 2000 Jahren! Unsere Böden profitieren von 2000 Jahren mikrobiologischen Reichtums, den wir mit der unachtsamen Verwendung von Pestiziden aufs Spiel gesetzt haben!», moniert Michel bitter. «Kein Terroir ohne lebendige Böden. Kein Terroir bei Verwendung von selektionierten Hefestämmen, die nur dafür sorgen, dass alle Weine wie einer schmecken. Wer Reinzuchthefen verwendet, ist wie ein Musiker, der glaubt, glimmeriger Disco sei die einzige Musik der Welt! Er verschliesst sich jeder Art von Subtilität.» 

Solche Erfahrungen sind es, die der gerade 26 Jahre junge Winzer einbringen wollte, als er Anfang der 1990er Jahre die Leitung des Handelshauses antrat. Um die nötige Bewegungsfreiheit zu haben, kaufte er seinem Grossvater, damals der offizielle Besitzer des Betriebes, die Anteile ab, gemeinsam mit seinem Bruder Marc, dessen Anteile er später ebenfalls übernahm. Bis heute ist Michel Hauptaktionär von M. Chapoutier. Sein Einstieg war ein einziges Spektakel. Er führte Lagencuvées ein (Hermitage Pavillon, L’Ermite), stellte auf biologischen und später zertifiziert biodynamischen Anbau um und wurde so selbst zum Vorläufer der Bewegung, entstaubte und verfeinerte auch die Kellerarbeit und betrieb geschicktes Marketing, unterstützt von seiner Frau Corinne, mit einem waghalsigen Blend von Visionen, Unternehmertum und Altruismus, wie ihn nur ein Michel Chapoutier ersinnen konnte. 1995 eröffnete das Paar einen «Caveau», ein Verkaufslokal in Tain-l’Hermitage, dem Sitz des Hauses (Chapoutier ist der grösste Weinbergsbesitzer in der legendären Lage), in dem alle Weine des Unternehmens verkostet werden können, dies absolut gratis. Er wurde so ebenfalls zum Pionier des Weintourismus. Michel Chapoutier: «Ich war schon immer gegen das Elitäre im Wein, das dazu führt, dass Leute Berührungsängste entwickeln, meinen, nichts von Wein zu verstehen, und so der schönsten Nebensache der Welt den Rücken kehren. Wein bedeutet Teilen, Geselligkeit, Gastfreundschaft. Jeder soll Wein auf seine Art verstehen und angehen, egal, was sein Portemonnaie hergibt. Der Student, der sich unsere Topweine nicht leisten kann, soll sie wenigstens verkosten können, gratis, bei uns im Caveau.» 

Von sich reden machte Chapoutier nicht zuletzt, als er die Etiketten aller seiner Weine mit Braille versah. «Es ging mir nicht nur darum, dass Blinde unsere Etiketten lesen konnten. Ich dachte ebenso an die Sehenden. Ich wollte sie dazu inspirieren, einen kurzen Gedanken an Menschen zu verschwenden, die weniger privilegiert sind. Früher ist man ein Mahl mit einem Gebet angegangen. Einem Moment der Besinnung, der Meditation. ​Braille auf unseren Etiketten soll genau dazu anhalten.» Philosophie und Ethik gehören genauso zum Alltag von Michel Chapoutier wie Kunst — moderne, afrikanische, orientalische — und Küche (Chapoutier steht oft und gerne am Herd, glaubt, dass ein Weinmacher, der nicht kochen kann, nie richtig grosse Weine erzeugen wird und regt an, dass Kochen umgehend zum obligatorischen Fach an Weinhochschulen erklärt wird) oder seine Sammlung alter Armbanduhren, Zeugen der aussterbenden Kunst der Feinmechanik, aber auch Mahnmal für die Zeit, die vergeht. «Das Leben ist eine sexuell übertragene Krankheit, an der man systematisch stirbt», sagt er, wühlt nach einem Buch von Steiner (Wer ist Jesus?) und gibt dem Besucher schliesslich das «Wörterbuch des Unmöglichen» von Didier van Cauwelaert mit auf den Weg, nach einem kurzen Abstecher über Afrika (schlecht behandelte Wiege der Menschheit) zu Neurochirurgie (das Gehirn ist eine Antenne, das Denken passiert ausserhalb) und Quantenphysik (die Welt des infinitesimalen Kleinen). Ah ja, so ganz nebenbei ist Michel auch Präsident der Interrhone (Vereinigung aller Rhone-Appellationen), Vater zweier Kinder, die heute auch im Betrieb mitmischen (Maxime und Mathilde, das «M» ist vorgegeben bei den Chapoutier), Besitzer von Weinbergen in Australien, Portugal, Spanien, dem Roussillon, dem Elsass, dem Beaujolais, der Provence und vieles, vieles, vieles andere mehr. Wo beginnen, wo enden mit Michel Chapoutier? 

Hoch lebe das Terroir


Wenn es einen Stil Chapoutier gibt, dann diesen: Keine seiner 178 Cuvées (!) gleicht der anderen. Charakter und Terroirausdruck kommen im Handelshaus noch vor technischer Perfektion. Das gilt ganz besonders für die rund 30 Einzellagen des Hauses.


 

M. Chapoutier Hermitage blanc - Chante Alouette 2017

17 Punkte | 2020 bis 2024

Vielschichtig und verführerisch, Noten von Blüten, Heu, Gewürzen, mineralische und fruchtige Kom-ponenten, aber auch Noten von Gebäck, Kaffee gar; voller Ansatz, dichter, satter Bau, gut ausbalancierte Struktur, ausdauerndes Finale; Klassiker mit Charakter.

M. Chapoutier Ermitage - Le Pavillon 2016

20 Punkte | 2025 bis 2050

Zurückhaltend, sogar verschlossen; besitzt grosse Eleganz und subtilen Schliff, besondere Mineralität und Länge, weniger erratisch als L’Ermite, trotz seiner besonderen Dichte, dank der besonderen Klasse seiner Tannine, der besonderen Mineralität, gestützt durch wohlige Fülle. Muss unbedingt reifen. Grossartige Lagencuvée, gehört wie L’Ermite zu den ganz grossen Weinen der Welt.

M. Chapoutier Ermitage - L’Ermite 2016

19 Punkte | 2020 bis 2040

Noch verhaltene und doch ausgeprägte, komplexe Aromatik, von besonderer, einmaliger Würze; voller Ansatz, majestätischer Bau, umwerfende Dichte bei gemeisterter Fülle, Tannin allererster Güte und ewig anhaltendes Finale. Stammt vom obersten Teil des Hügels, aus 80 Jahre alten Reben.

Yannick Alléno/M. Chapoutier Saint Joseph  - Couronne de Chabot 2013

16 Punkte | 2019 bis 2020

Eine Cuvée, die in Zusammenarbeit mit dem Sternekoch Yannick Alléno entstanden ist: interessante Aromatik von reifen Beeren und Gewürzen, eleganter Auftakt, ausgewogener Bau, ansprechend und erfrischend, jetzt zu geniessen. 

Anne-Sophie Pic/M. Chapoutier Saint Peray - Lieu dit Peyrolles 2015

17 Punkte | 2020 bis 2022

Weisse Lagencuvée aus Marsanne von Granitböden, entstanden aus der Zusammenarbeit mit der bekannten Drei-Sterne-Köchin Anne-Sophie Pic: Noten von Gebäck, Nougat, kandierten Früchten, Vanille, aber auch eine Spur Eukalyptus; sämiger Ansatz, voller Bau, dicht, aber auch mit Frische, gut eingebundener Alkohol und eine nicht unangenehme Spur Süsse im Ausklang. 

La Combe Pilate Vin de France Brut nature - Esteban 2017

16 Punkte | 2020 bis 2022

Schaumwein aus Viognier von kalkhaltigen Böden, Flaschengärung mit dem eigenen Restzucker. Interessante, kräftige, würzige Aromatik; von frischer Art am Gaumen, lebhaft, animierend mit leichten zehn Volumenprozent Alkohol. Entzieht sich jedem Vergleich und ist gerade darum eine Entdeckung wert. Ideal zu Vorspeisengerichten.

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