Winzerlegende Werner Näkel, Ahr
Virtuose wider Willen
Text: Eva Maria Dülligen, Fotos: Jana Kay
Wein wollte er ursprünglich so nebenher machen. Nach Schulschluss. Denn Werner Näkel studierte in seinem ersten Leben auf Lehramt. Dass dieser Plan nicht aufging, hat Generationen von Schülern um einen humorigen Pauker gebracht. Die Weinwelt dagegen ist um einen Vollblutwinzer reicher, der mit seinen Ahr-Burgundern gefährlich nah an die Grands Crus der Bourgogne herankommt.
Wir stehen am Bauteil 223, dem westlichen Zugang des stillgelegten Regierungsbunkers Marienthal. Durch das Schiefergestein des Ahr-Tals führt ein rund 18 Kilometer langer Atomschutzbunker zwischen Bad Neuenahr-Ahrweiler und Dernau, bis zu 112 Meter tief, in den 1960ern angelegt, um die damalige Bonner Politelite während des Kalten Krieges vor einer potenziellen atomaren Apokalypse zu bewahren. «Wir Ahr-Winzer gehörten nicht zu den schützenswerten Spezies. Aber was hätten die Parlamentarier nach einem nuklearen Fallout dann getrunken?», lacht Werner Näkel. Wahrscheinlich erstmal das, was man unterhalb der Weinberge im geheimsten Bauwerk der bundesdeutschen Geschichte so an Spätburgundern gebunkert hatte. Die Erlaubnis für ein Fotoshooting im zum Museum umfunktionierten «Ausweichsitz der Verfassungsorgane» bekommen wir nicht. Zu gross sei die Sorge, damit weitere Winzer der Region für eine derartige Fotokulisse anzulocken. Bleibt nur, auf Näkels Erinnerungen zurückzugreifen.
Als Bundeswehrgefreiter musste er Anfang der 1970er für einige Wochen in dem Betonmonster an einer sogenannten Wintex-Übung teilnehmen. Die sollte den Angriff auf den Logenplatz für den Weltuntergang simulieren. Kein Licht, rein gar nix sei den Soldaten in dem auf 1,5 Milliarden Euro geschätzten Objekt mit integrierten Kinos, Restaurants und Friseursalons vergönnt gewesen. «Einige meiner Kameraden mussten nach der Übung sofort in psychologische Behandlung», erinnert sich der 63-Jährige. Dass der Ahr-Winzer unbeschadet aus dem geprobten Ernstfall hervorgegangen ist, liegt nicht zuletzt an seiner Gelassenheit.
Geglückter Generationenwechsel
«Lieben und Singen kann man nicht erzwingen» ist ein Bonmot, das auf Werner Näkels Unterarm tätowiert sein könnte. Nicht ein einziges Mal hat er seine Töchter dazu gedrängt, die Spitzenlagen seines Weinguts im Ahr-Tal zu übernehmen. Dieses Recht auf Selbstbestimmung trägt Früchte. Tochter Meike entschloss sich nach einem kurzen Seitensprung in die medizinische Fakultät von Marburg zu einem Praktikum und anschliessender Lehre auf dem badischen Weingut Dr. Heger und rundete danach mit einem Weinbaustudium in Geisenheim ab. Für die jüngere Dörte kam ohnehin nie was anderes in Frage, als die Erfolgsserie weltumjubelter Pinot Noir fortzusetzen: «Wenn man das so vorgelebt bekommt, mit so viel Freude, ist der Wunsch, dasselbe zu machen, einfach da», sagt die 34-jährige diplomierte Winzerin und Önologin.
«Nächstes Jahr gibt es meinen Frühburgunder wieder als Grosses Gewächs. Ich würde diese filigrane, leider immer noch unterschätzte Rebsorte niemals aufgeben und mit ihr wegen der zunehmenden Erderwärmung sogar in höhere Lagen gehen.»
Auch wenn Näkel es sich mit keinem Wimpernzucken anmerken lässt, spürt man den Stolz auf den Nachwuchs. «Ich habe wahrscheinlich unbewusst viel richtig gemacht», sagt er, «so wie mein Vater. Der meinte bei der Betriebsübergabe: ‹Ich bin jetzt raus, aber du kannst mich alles fragen.›.» Der Deal scheint gelungen, denn Näkels Gewächse landen längst nicht mehr, wie einst, zu 95 Prozent in der lokalen Kneipenlandschaft. Aus den 1,5 Hektar seines Vaters mit einem Mix aus Dutzenden von Rebsorten machte er eine 20-Hektar-Domaine, die ihren Fokus zu über einem Drittel auf den Blauen Spätburgunder legt. In dem viertkleinsten deutschen Weinbaugebiet am Nebenfluss des Rheins baute der Lehramtsabsolvent als einer der Ersten Mitte der 1980er seinen Pinot trocken aus und sorgte nicht minder für Verwunderung, als er anfing, Barriques zu verwenden. Zwischen 250 und 300 Eichenfässer lagern in einer oberirdischen Halle. Alle fünf Jahre werden alte Gebinde aussortiert und durch neue aus Küfereien wie Taransaud oder François Frères aufgefrischt.
Während der Mann mit den stahlblauen Augen hinter seiner Gelehrtenbrille den Spätburgunderklon 1801 betrachtet, gibt er Einblicke in seine Ausbaumethoden: «Nicht jeder Burgunder verträgt dasselbe Holz. Toastinggrad, Alter und Herkunft der Fässer müssen passgenau auf die Weine abgestimmt sein. Ein kräftiges Stück Fleisch kann man schärfer würzen als leichten Fisch. Das dünne Würstchen kommt in eine gebrauchte Barrique.» Mit den Würstchen sind keineswegs flache Weine gemeint – vielmehr sensible wie etwa Näkels zweite grosse Rebsortenliebe, der Frühburgunder.
Wachgeküsste Rarität
Bereits Ende des letzten Jahrtausends pflanzte er die früh reifende Spätburgunder-Mutation in die Steillage des Neuenahrer Sonnenberg. Damals, als die längst aus der Mode gekommene, anfällige Sorte nur noch auf rund 200 Hektar zwischen Rhein und Eifel gedieh, rüttelte der Quereinsteiger den Frühzünder aus dem Rebenschlaf. Wespen fallen flächendeckend über die reifenden Beeren her, und wenn es während der Blütezeit stark regnet, werden erst gar keine Früchte produziert. Selbst die Forschungsanstalt Geisenheim, die das Erbgut von Rebsorten mit wissenschaftlicher Akribie hütet, konnte Mitte der 1970er aus den Restbeständen nur mit Glück brauchbare Setzlinge ziehen. Heute spriessen die kleinen, dickschaligen Beeren wieder vermehrt in einigen Rebgärten ambitionierter Ahr-Winzer, die die komplexe Fruchtdiva für sich entdeckt haben. «Vor 20 Jahren lief der so neben der Schere», weiss Näkel, «wenn überhaupt, hat man den Frühburgunder irgendwo hingepflanzt. Da, wo sonst nichts reif wird.» Das Vorurteil, die Sorte habe kein Alterungspotenzial, räumt er mit einem 1999er vom Sonnenberg zur Seite. Eine von den letzten drei Flaschen opfert Näkel, und hoppla, wie ein nobles Parfüm klettert das Bouquet mit frischen Kräutern und gebrannten Mandeln in die Nase. 1999 sei hier alles gesund gewesen, keine einzige faule Traube, Bilderbuchwetter stellte die Vorlage für diese Rarität. Reich wird man als Winzer mit der von Slow Food unter Artenschutz gestellten Rebsorte aber kaum. Sie funktioniert allenfalls bei jenen, die es sich leisten können, eine so kosten- und arbeitsintensive Nischensorte ins Portfolio zu holen.
Werner Näkel gönnt sich neben den geringen Erträgen seines Frühburgunders – besonders gute Jahrgänge aus der Lage Pfarrwingert erhalten den Status VDP Grosses Gewächs – noch einen weiteren Luxus: den von zwei ausländischen Weingütern. Im portugiesischen Douro-Tal besitzt er acht Hektar. Als er zum ersten Mal in dem bis zu 600 Meter hohen Riesenkessel stand, glaubte er fast an eine Erdplattenverschiebung vom Ahr- ins Douro-Tal: «Das ist so steil da wie an der Mosel oder an der Ahr, nur ist alles dreimal grösser.» Was zunächst als zweites Standbein gedacht war, falls ein Jahrgang zu Hause etwa verhagelt wäre, hat sich mittlerweile in ein «Ferienhaus mit angeschlossenem Weingut» verwandelt. Mit Ehefrau Claudia reist er während der Ernte ab August zu seiner Quinta da Carvalhosa. Manchmal auch über Weihnachten. Dann wird Lametta über die Orangenbäume auf der Terrasse verteilt und der Grill angeworfen.
Anfang des Jahres geht es ins südafrikanische Stellenbosch, wo der Ahr-Winzer einige Wochen des Lebensherbstes auf seinem dritten Weingut entspannt oder beim Mountainbiking ein paar Pfunde wegschwitzt. Kürzlich hat er an einem 125-Kilometer-Marathon teilgenommen, am Tafelberg, entlang der Atlantikküste. «Ein Fahrradrennen mit 40 000 Besessenen. Ein Teil davon hat es sogar bis hinter die Ziellinie geschafft.»
Lehrer auf Dauerurlaub
Angekommen ist der bekennende 1.-FC-Köln-Fan schon lange im Leben. Bevor er in die Weinbergstiefel schlüpfte, schwebte ihm eine Laufbahn als Lehrer vor, und er schrieb sich an der Bonner Uni ein. Gymnastik war im Fach Sport seine Lieblingsdisziplin, dafür besorgte er sich sogar Ballettschuhe, Grösse 47. Mit dem Examen in der Tasche und einem traumhaften Notendurchschnitt seiner Fächerkombination wurde Näkel trotzdem schnell klar, dass Winzer kein Tupperware-Hausfrauennebenjob war. Also liess er sich auf unbestimmte Zeit vom Lehramt beurlauben und stieg voll in den väterlichen Betrieb ein. «Es war gar nicht verkehrt, ohne Ausbildung in Weinbau und Önologie loszulegen. Ich hab vieles aus dem Bauch heraus gemacht, bin Risiken eingegangen, weil ich nicht gross analysiert habe.» Wenn man mit dieser Methode bei den Decanter World Wine Awards 2008 die internationale Trophäe für den 2005er Pfarrwingert Spätburgunder GG abräumt, kann sie nicht die schlechteste sein. Trotz Lobeshymnen von «Gault & Millau» bis Jancis Robinson und eines Exports, der bis nach Kanada, England und Japan reicht, zieht Näkel die Reissleine. Seinen Töchtern hat er alles mit auf den Winzerweg gegeben. Die gehen ihn weiter Richtung Nachhaltigkeit und Ökobilanz. Raps und Ölrettich, Gelbsenf und Klee sorgen für Stickstoffmineralisierung in den Schiefersteillagen. Wasser und CO2-Verbrauch werden so weit wie möglich zurückgefahren.
Seit 2013 ist das Dernauer Weingut zertifizierter Betrieb des Winzervereins fair’n green. Man wolle nicht mit den deutschen Bio-Verbänden konkurrieren, schreibe sich das Zertifikat auch nicht aufs Etikett. Aber die vier Enkelkinder sollen später vom naturnahen Anbau profitieren. Sofern sie denn in den Weinbau einsteigen wollen. Näkel jedenfalls steigt sukzessiv aus. Er hat den deutschen Spätburgunder über die Grenzen hinaus salonfähig gemacht. Mehr kann man nicht verlangen. Nach rund 40 Jahren in der Branche verzichtet er gern auf den einen oder anderen Event. «Letztens bin ich tatsächlich auf einer Verkostung gefragt worden: ‹Herr Näkel, was ist eigentlich besser, ein Riesling oder eine Spätlese?›.» Zeit fürs Kap der Guten Hoffnung.
Komplex in Stil und Sorten
Wer behauptet, deutscher Pinot Noir kann nicht das Niveau von burgundischem erreichen, ist von gestern. Beweise liefern die Pinots vom Weingut Meyer-Näkel. Die Macher haben nicht nur einen roten Daumen, sondern auch einen für Riesling und Weissburgunder.
Riesling 2015
16.5 Punkte | 2016 bis 2020
Obgleich das Verkostungsglas eine Unterarmlänge entfernt stand, konnte man wilden Honig und Blütenstaub rausschnuppern. Auf den Geschmacksknospen lieferten sich würzige und mineralische Facetten ein Duell. Extraktreiche, schön integrierte Säure. Spritziger als etwa klassische Mosel-Rieslinge. Auch Schieferaspekte machten sich neben Limonen- und kräuterwürzigen Noten bemerkbar. Mittelgewicht mit animierender Säure.
Weissburgunder 2015
17 Punkte | 2016 bis 2020
Gib mir die Birne. Reintönige Frucht boxt wie ein Dufthammer aus dem Glas. Flankiert wird das gelbe Fruchtfleisch von Zitronenmelisse und angebackenen Kräutern. Spitze, sehr schön eingebundene Säure. Dieser Weissburgunder ist weniger der schmelzige als der knackige Typ, dessen mineralischer Fingerabdruck hervorragend zu gegrilltem Seeteufel passt.
Frühburgunder 2014
17.5 Punkte | 2016 bis 2024
Als hätte man Brombeere mit Piemont-Kirsche gekreuzt. Auf den Gaumen spült der Rubinrote getrocknete Küchenkräuter und Blütenstaub. Unglaubliche Tiefe und Ausgewogenheit, eine Art Muskelprotz im Ballerina-Kostüm. Fein gewobenes Tannin-Netz. Hat er genug Sauerstoff getankt, kommt Butterscotch ins Spiel. Wildgeflügel als kulinarische Begleitung.
«S» Spätburgunder 2014
17 Punkte | 2016 bis 2023
Kraftvolle Himbeernase – da muss nicht viel diskutiert werden. Noch weniger darüber, dass der erste Schluck an einen Biss in vollreife Waldbeeren erinnert. Trotzdem kein reiner Fruchtsaft. Karamell, Vanille und Pfeffer runden ab. Sensible Holzreife hat für weiches Tannin gesorgt. Feuriger Typ mit guter Substanz.
Walporzheimer Kräuterberg, Spätburgunder 2013 GG
18 Punkte | 2016 bis 2027
Hier schwimmt Meyer-Näkels Parzelle der Einzellage Kräuterberg im Burgunderglas: Zitronenmelisse, Muskatnuss sowie schwarzer Pfeffer. Dahinter öffnet sich ein Wald von Himbeersträuchern. Extraktsüsse in Harmonie mit nuancierter Meersalzigkeit. Poliertes Tannin, gestreckte Abgangsdominante. Es braucht nicht viel Fantasie, sich diesen herrlichen Pinot zu mit Rosmarin gewürztem Lammkotelett vorzustellen.
Dernauer Pfarrwingert, Spätburgunder 2013 GG
18.5 Punkte | 2016 bis 2028
Pinot-Bouquet par excellence. Johannisbeere, Räucheraspekte, Estragon. Darunter mischen sich Vanilleschote und gehobelte Aprikosenhaut. Die Trauben stammen von 45 Jahre alten Rebstöcken. Der Ausbau in medium getoasteter Barrique hat Tertiäraromen à la Kakao und Zigarrenkiste forciert. Auf der Zunge schlägt er als saftig-süsser Limonensaft im Himbeermantel auf.
Zwalu 2011, Stellenbosch, Südafrika
17.5 Punkte | 2016 bis 2026
Hinter Brombeere und Paprika lauern balsamische Noten. Der Blend aus Cabernet Sauvignon, Merlot und Shiraz ist dem Winzerteam Näkel/Ellis geglückt. Ausgeprägte Gerbstoffstruktur, vielschichtig, ohne überladen zu sein, samtig, aber nicht plump schmeichelnd. Viel Stoff und schöne Länge prädestinieren den Kap-Wein für rosa gegarte Grillkost.