Winzerlegende: Egon Müller, Saar
Der Unbeirrbare vom Scharzhofberg
Text: Eva Maria Dülligen, Fotos: Bettina Bormann
In den 80ern und 90ern hielt sich die deutsche Anhängerschaft von rest- und edelsüssen Rieslingen in überschaubaren Grenzen. Egon Müller hat massgeblich dafür gesorgt, dass der exklusive Miniclub zu einer besessenen Fangemeinde wächst. Vor allem seine Beerenauslesen erzielen astronomische Summen auf dem nationalen Auktionsparkett.
Legenden sind unsterblich. Im Fall Egon Müller ist das mehr als günstig, denn seine Prädikatsweine zeichnen sich durch ein Alterungspotenzial von 50 Jahren und mehr aus. Und es gibt wahrscheinlich kaum einen Weingutsbesitzer neben dem Saar-Winzer, der seine Rieslinge mit solch einem Enthusiasmus vertikal verkostet. Falls das Schicksal ihm entgegenkommt, könnte Egon Müller IV. seine 2013er anno 2064 dann im stolzen Alter von 105 Jahren ein letztes Mal degustieren. «Wenn wir von alten Jahrgängen sprechen, gibt es keine grossen Weine mehr, sondern nur noch grosse Flaschen», sagt der schlanke Mann mit Denkerstirn.
Es dauert eine Weile, bis man diese bedeutungsschwangere Phrase geschluckt hat. Mit seiner 2013er Spätlese vom Scharzhofberg im Mund fällt das nicht eben leichter. Limonenschale und Wildhonig gibt das Riesling-Baby frei und vernebelt die Sinne. Ob das Lagengewächs einmal als Grandseigneur mit aufrechtem Säurerückgrat und charaktervollen Facetten auf den Plan treten wird, weiss niemand besser als sein Schöpfer selbst: «Ich habe über ein paar Jahre unseren 1971er probiert. Ein Jahrgang von grosser Referenz. Will man wissen, wie ein typischer Saar-Riesling schmeckt, macht man einen 1971er auf. Trotzdem schieben sich unterschiedliche Nuancen bei jeder Flasche unter diese Typizität. So wird es auch mit dem 2013er werden.»
Mit Bauchgefühl zum Erfolg
Ökonomischer Spürsinn und Gelassenheit gehören zu den Eigenschaften des zweifachen Vaters, die ihn seit Jahren schwarze Zahlen schreiben lassen: angefangen bei den Summen für seine Trockenbeerenauslesen, mit denen Egon Müller schon mal 6433,14 Euro für einen 1999er dieser Prädikatsstufe auf Versteigerungen einheimst, bis zu den Joint Ventures in Australien und der Slowakei. Risikostreuung, nicht alle Eier in einen Korb legen, zählt zu den betriebswirtschaftlichen Devisen des Weinguts.
Als der saarländische Winzer zum ersten Mal im Kastiel Belá, einem Weingutsableger seitens der slowakisch-deutschen Verwandtschaft, aufschlug, traute er seinen wasserblauen Augen kaum. Kellermeister Miroslav Petrech schien hier über Jahre Wein in Kaspar-Hauser- Manier gemacht zu haben. Keine Spur von moderner Kellertechnik. Stattdessen war der schlosseigene, winzige Gewölberaum mit einer wasserdruck betriebenen Kelter ausgestattet, die einem Science-Fiction-Film der 50er Jahre als Requisit gedient haben könnte. Grüner Veltliner, Blaufränkisch und Aurelius waren in Bier- und Milchflaschen abgefüllt. Trotzdem probierte der höfliche Winzer aus Wiltingen und empfand diesen Augenblick ähnlich, wie eine verdorbene Auster in der Mundhöhle zu haben: «Ich bin fast gestorben, weiss nicht mal mehr, was das war. Könnte ein Welschriesling gewesen sein.» Statt der Empfehlung, die Beteiligung an diesem bizarren Weingut in den Wind zu schiessen, vertraute der Saarländer dem vinologischen Potenzial von Kellermeister Petrech und investierte.
Heute profiliert sich Linie Château Belá auf restsüsser Riesling-Basis mit profitablen Absatzzahlen auf dem Exportmarkt. Weinpapst Robert Parker bewertete vor drei Jahren einen 2001er von Château Belá mit 94 Punkten. Unpopuläre Entscheidungen kümmern Egon Müller nicht. Eine natürliche Autorität strahlt er aus. Mit leiser, fester Stimme gibt er Instruktionen. Das spitze Ohr von Krypto, dem Hirtenhundder Rasse Australian Cattle Dog, stellt sich blitzschnell auf, als sein Herrchen zum Aufbruch flüstert. Die Fotografin hat beschlossen, ein Fotoshooting im Weinberg mit den beiden zu bestreiten. Obwohl Krypto das Autofahren in etwa so liebt wie Trockenfutter, nimmt er nach einmaliger Aufforderung Platz neben Egon Müller.
In einem abgewrackten Ford Transit ruckeln wir auf den Scharzhofberg. «Wenn ich nicht diese alten Weinberge hätte, sähe mein Leben ganz anders aus», wirft der Winzer in die lauten Motorengeräusche hinein. «Jeder, der ein Stück vom Scharzhofberg besitzt, ist sich über dieses Privileg im Klaren.» Von den insgesamt 28 Hektar nennt Müller fünf sein eigen: ein Fünf-Hektar-Batzen Boden mit hohem Gesteinsanteil, extrem verwittertem Schiefer – grauem Ton- und Siltschiefer aus dem Devon. Darunter lehmige Braunerde, feucht, aber nicht klebrig, ein weder zu fetter noch zu magerer Boden, geologisch ein goldener Schnitt, der für mineralischen Extrakt und Tiefgang in Müllers Rieslingen sorgt. Der steile, südlich ausgerichtete Hang liegt nicht direkt am Saar-Ufer, sondern in einem kühleren Seitental, wo die Reben langsam und spät reifen, also in warmen Jahren hochkonzentriertes Lesegut bereitstellen. Der Wald auf der Rückseite des Scharzhofbergs regelt dessen Wasserhaushalt und bringt die nötige Belüftung.
Der Zauberberg
Mit Kult-Weingütern wie Van Volxem, Reichsgraf von Kesselstatt und von Hövel teilt sich der 55-Jährige den heiss begehrten Mosel-Schiefer. Dank der unterschiedlichen Mikroklimazonen entsteht eine stilistische Bandbreite von hauchzarten Rieslingen aus dem Hause von Hövel bis zu von Kesselstatts stoffigen Gewächsen, umspielt von animierender Eleganz. Am liebsten, so schmunzelt Egon Müller, als wir an einer seiner Parzellen angekommen sind, hätte er den Berg für sich alleine. Dann hätte er das alles auf einem Fleck. «Aber da haben teilweise bischöfliche Weingüter ihre Hände drauf. Es bleibt ein Traum.»
Nackte Realität überfällt uns, als die Schattenseiten des Zauberbergs zur Sprache kommen. Zwischen Löwenzahn, Königskerzen und Amarant – natürlichen Stickstofflieferanten – steht der Winzer in braunen Mokassins und berichtet über zunehmenden Pilz- und Bakterienbefall der Rebstöcke: «Nächstes Jahr werde ich ein komplett konventionelles Jahr einlegen wegen der Schwarzfäule. Sie verdirbt die Trauben, und sie bleiben unreif. Die grosse Gefahr ist, dass sie im nächsten Jahr wiederkommt. Würde ich ökologisch arbeiten, bekäme ich das nicht in den Griff .» Ehemals ökologisch zertifiziert, wendet sich Müller zunehmend konventionellen
Pflanzenschutzmitteln zu. Ampullen mit Pheromonen gegen den Traubenwickler machen in seinen Augen Sinn, mit einer Spritzfolge von Kupfer zu arbeiten hingegen bedeutet für ihn, toxisch zu arbeiten, weil es den Boden kontaminiert.
«Die besten Premiers Crus aus dem Burgund kann man heute gar nicht mehr kaufen, man muss sie tauschen. Gegen was? Na, gegen meine Scharzhofberger, was sonst?»
Zurück in den Gemäuern des historischen Klosterhofs machen wir es uns auf dem bordeauxroten Antiksofa in Müllers Wohnzimmer bequem. «Müsste ich am Ende meines Lebens beurteilen, ob meine Lebensaufgabe erfüllt ist, und mein Sohn hätte nicht die Nachfolge angetreten, würde ich mich als gescheitert betrachten», sagt er und schenkt einen 1971er Kabinett ein, der noch auf das Winzerkonto seines Vaters, Egon Müller III., geht. Es ist nicht auszumachen, wie nah Vater und Sohn sich einmal standen. In ruhiger, objektiver Sprachmelodie erzählt Egon Müller IV. von dem 40 Jahre älteren Vater, an dessen 70. Geburtstag im Scharzhof eine Vertikalverkostung mit Freunden und Geschäftspartnern stattfand.
Bis ins letzte Molekül vermag er den 1921er und den 1949er gutseigenen Riesling geschmacklich wiederzugeben, weiss noch genau, dass der 49er den 21er qualitativ plattgemacht hat. «So viel Lebendigkeit und Frucht in einem derart alten Wein. Kein Tropfen, den man mal so eben aufmacht, um jemanden zu beeindrucken, sondern einer, der in einem bestimmten Kontext von Leuten getrunken werden muss.»
Offen für neue Märkte
Was das Mitglied der exklusiven Vereinigung Primum Familiae Vini, zu der Grössen wie Antinori und Mouton Rothschild zählen, nervt, ist die Arroganz, mit der viele Europäer neuen Weinmärkten begegnen. Waren es früher die dekadenten Russen mit ihrem Faible für französische Luxusbrausen, stehen momentan bordeaux- und burgundaffine Chinesen in der Schusslinie. «Jedes Mal, wenn sich ein fernes Land für Wein öffnet, schreien europäische Neider: Die kennen nichts von Wein und lassen die Preise explodieren.» Dabei habe gerade in China eine positive Entwicklung eingesetzt. Er selbst bereist diesen spannenden Exportmarkt regelmässig, um ihn zu beackern. Seien Prestigedenken und Korruptionsnetz in der Volksrepublik auch ausgeprägt, spüre man mittlerweile eine gewisse Scham. «Vor einiger Zeit noch wurde grosses Tamtam am Restauranttisch um eine Flasche Lafite gemacht. Heute bringt der Chauffeur den Premier Cru durch den Hintereingang, und er wird vorm Servieren in einen Dekanter umgefüllt – aus Angst vor Denunziation.»
Staatschef Xi Jinping räumt in Müllers Augen mit dem Luxusleben in der Partei auf, esse da, wo der normale Chinese seine Teigbällchen isst. Über die Reformen des KP-Vorsitzenden lässt sich streiten. Dass niemand das Recht hat, zu beurteilen, ob ein Land renommierte Weine verdient, kann man unterschreiben. So wie Müller 2010 den offenen Brief an den «Gault & Millau»-Herausgeber Armin Diel: eine angezettelte Revolte von deutschen Topwinzern, die den Weingutsbesitzer Diel aufforderten, ihre Weine nicht mehr für den «Gault & Millau» zu verkosten. Weil man dessen Objektivität anzweifelte. Initialzündung hierfür war eine zweifelhafte Marketingaktion, welche die Winzer zu einem «freiwilligen Unkostenbeitrag» animierte. Im Gegenzug sollte es eine Urkunde und zwei Freiexemplare für alle geben, die in dem Weinführer 2010 erwähnt wurden. «Ich rechne Diel hoch an, dass er nach dieser Aktion von seinem Posten zurückgetreten ist.»
Die Abenddämmerung legt sich über Wiltingen. Der 1971er Scharzhof-Riesling neigt sich dem Ende zu. Egon Müller V. kommt herein und fragt um Erlaubnis, einen Action-Streifen herunterzuladen. Noch umweht den 14-Jährigen nicht die Aura eines Nachwuchswinzers. In der Pubertät hat man andere Sorgen. «Er soll weitermachen», sagt sein Vater, «man ist sein eigener Herr, macht ein tolles Produkt, führt ein Traditionsgut. Was gibt es Schöneres?» Der Wunsch des Geisenheim-Absolventen ist nachvollziehbar. Einige Talfahrten hat er hinter sich. Wie Anfang der 90er, wo es kaum fünf Prozent seiner rest- und edelsüssen Rieslinge waren, die er im eigenen Land absetzte. Trocken war hip, sonst galt man als Kretin. Für Müller war es pure Ironie, als plötzlich Spätlese trocken auftauchte, sogar trockene Beerenauslesen wurden den deutschen Weintrinkern untergejubelt.
Inzwischen wissen Weinkenner um den Wert der Scharzhofberg’schen Raritäten – schiefergeprägte Prädikats- Rieslinge, deren Süssegrade von hauchzart bis edelsüss reichen. Neben seinen eigenen Gewächsen trinkt Egon Müller gern Champagner von Pol Roger. Und die guten Kalifornier. Die seien momentan allerdings schwer zu finden: «Davon hab ich kaum noch was im Keller.» Bei den Burgundern rangiert der Premier Cru Les Amoureuses von Georges Roumier oben. Die edlen Pinots könne man aber nicht mehr kaufen, die müsse man tauschen. «Gegen was?» Egon Müllers Mundwinkel ziehen sich Richtung Wohnzimmerdecke: «Na, gegen meine Scharzhofberger, was sonst?»
Egon Müller - Riesling in allen Stufen
Vom einfachen Gutswein bis zur Auslese Goldkapsel wurde dem Jahrgang 2013 auf den Zahn gefühlt. Wegen der geringen Traubenausbeute gibt es aus diesem Jahrgang keine Beerenauslesen – stattdessen zwei zusätzliche Rieslinge von Egon Müllers Partnerweingütern in Australien und der Slowakei.
Weine des Winzers
1 Scharzhofberg Riesling QbA 2013
16.5 Punkte | 2014 bis 2018
Nahezu transparent in der Farbe, entpuppt sich in der Nase dafür als umso bunter. Die Aromenpalette erstreckt sich von gebranntem Schiefer über Meersalz bis zu getrockneten Mittelmeerkräutern. Am Gaumen wie Zitronensaft in frisch geschlagener Sahne, mit Thymian und Majoran verfeinert. Starkes Säurerückgrat, für einen QbA erstaunlich langer Nachhall. Wunderbarer Gespiele für Krustentiere.
2 Scharzhofberger Kabinett 2013
17.5 Punkte | 2014 bis 2032
Mit nur 8,5 Vol.-% geht der Messingfarbene auf Gaumenreise. Der moderate Alkoholgrad lässt viel Spielraum für einen animierenden Früchtekorb aus Pfirsich, Limone, Aprikose und Banane. Platz bleibt auch für mineralische und kräuterwürzige Aspekte. Durch das kühle Jahr viel Säure, in die sich die Restsüsse fein eingewoben hat. Herrlicher Mandelton im Finale.
3 Scharzhofberg Kabinett Alte Reben 2013
17.5 Punkte | 2014 bis 2040
Noten von weissen Sommerblüten, frischer Minze, Sonnenblume und Cox Orange. Noch opulenter als der Kabinett. Enorm fein strukturiert. Auf der Zunge schlagen keine floralen Attribute auf, sondern saftiger, süsser Pfirsich und Grapefruit. Pikante Säure und subtile Meersalzigkeit bringen enorme Spannung. Balance mit Tiefgang, grosse Länge.
4 Scharzhofberg Spätlese 2013
18 Punkte | 2014 bis 2045
Stimmig, steil, staubig. Beim ersten Reinschnüffeln der Eindruck, als würde man eine frische Bourbonvanilleschote auskratzen. Der satte Goldton der Spätlese korrespondiert mit dem Gaumengefühl von tiefdunkler Zitronenschale und reifem Pfirsich. Dahinter Limone und Zitronengras. Seidige Textur, feine Fruchtsüsse. Elegante Süsse-Säure-Bilanz im Mittelbau, im Finale animierende Zitrusfrucht.
5 Scharzhofberg Auslese Goldkapsel2013
18 Punkte | 2014 bis 2050
Maximale Finesse. Zieht das gesamte Aromenregister von Wildhonig, in Zucker gebrannten Mandeln, Brioche und kandierten Früchten. Trotz ihrer Jugend wirkt die Auslese enorm reif und konzentriert, ohne es an animierender Fruchtsäure fehlen zu lassen. Opulente Süsse wird durch die rassige, elektrisierende Säure gezügelt.
6 Echunga Vineyards, Adelaide Hills, Südaustralien Kanta Riesling 2012
15.5 Punkte | 2014 bis 2016
Animierender Tropfen, der besser als Begleiter zu roh mariniertem Thunfisch oder Sushi denn als Solotänzer funktioniert. Erinnert mehr an einen Sauvignon Blanc. In der Säure scharfkantig wie ein gespitzter Bleistift. Die subtile Süsse eines runden Rieslings fehlt. Trotzdem machen die dezenten Noten von Stachelbeere, Mineralität und Kräutern Spass.
7 Mužla, Region Štúrovo, Slowakei Château Belá Riesling 2012
16 Punkte | 2014 bis 2019
Lebendiges Gold mit Bronzeaspekten. Bouquet, das sich aus Pfefferminze, warmen Kieselsteinen und einem Hauch von Lavendel zusammensetzt. Kühler Schmeichler am Gaumen. Viel Majoran, viel Thymian, noch mehr Limone. Mit feinen Kräutern vermischter Limonensaft. Nervige, aber nicht nervende Säure. Mittlerer Körper, mittellanger Ausklang.