ON THE ROAD IN
KASTILIEN-LEÓN
Text: Thomas Vaterlaus
In der kastilischen Hochebene taucht der Reisende noch immer in eine Weite ein, wie er sie höchstens aus amerikanischen Roadmovies kennt. Und am Wegesrand reifen immer mehr eigen ständige Crus, fern vom Einheitsstil, wie er in Rueda, Ribera del Duero oder Toro allzu lange praktiziert worden ist.
Am Anfang ist’s wie überall. Wer sich vom Flughafen Madrid-Barajas aus in Richtung Norden aufmacht, taucht erstmal ein in das typisch westeuropäische Agglomerations-Geschwür aus Strassenknoten, Wohnsilos, Luxus-Wohnghettos und jenen Gewerbebauten, die wegen der Wirtschaftskrise nicht selten verlassen vor sich hin gammeln. Doch dann, spätestens nach Segovia, auf der Landstrasse nach Valladolid entleert sich das Land langsam, der Zivilisationsschrott bleibt zurück, verschwindet völlig aus dem Bild.
Es ist hier tatsächlich noch möglich, 15 Minuten mit 80 Stundenkilometern übers Land zu fahren, ohne ein anderes Auto oder ein Haus zu sehen. Und auch das Telefon klingelt plötzlich nicht mehr, weil sich das Netz verabschiedet hat. Der Puls geht runter, und man fühlt sich frei. Das ist jenes Spanien, von dem der niederländische Autor Cees Nooteboom sagt, dass es mit seinen endlosen, leeren Landschaften wie ein eigener Kontinent erscheine, der zwar an Europa hängt, aber nicht mehr Europa ist…
Tja, dieses Land macht jeden Reisenden zum Philosophen. Aber auch nach stundenlangen Diskussionen bleibt offen, ob die grosse Leere nun öde oder befreiend, wohltuend oder beängstigend wirkt oder womöglich beides zugleich.
Die perfekte Mariage
Die Dörfer, gebaut aus braunem Stein, heben sich kaum von ihrer Umgebung ab. Und obwohl das Land hier fast zehnmal weniger dicht besiedelt ist als die Schweiz oder Deutschland und Raum im Überfluss vorhanden wäre, schmiegen sich die Häuser eng aneinander. Es scheint, als fürchteten sich die Kastilier vor der grossen Weite, die sie umgibt, und suchten die Nähe zu ihresgleichen, ähnlich wie die Schafe, die sich nachts auf dem grossen Feld eng zusammenscharren. Wer abends in eines der Dörfer auf der Hochebene kommt, nicht selten 800 Meter über Meer gelegen, wo der Wind noch im Frühling nach Sonnenuntergang kalt durch die Calle Mayor fegt, huscht schnell ins nächste Meson oder in den nächsten Asador. Hier beginnt der Abend animierend mit einem Gläschen Tinto, einigen kastilischen Tapas wie der unnachahmlichen Morcilla de Burgos (Blutwurstscheiben, in Olivenöl angebraten) und einem Schwatz. Und dann, wenn man die frostige Nacht draussen längst vergessen hat, beginnt jenes kulinarische Schauspiel, das man in seiner Vollkommenheit nur hier draussen in den Pampas der Hochebene erleben kann.
Es ist hier noch möglich, 15 Minuten mit 80 Stunden-kilometern übers Land zu fahren, ohne ein anderes Auto oder ein Haus zu sehen. Und auch das Telefon klingelt nicht mehr.
Der Ausgangspunkt ist immer ein grosser, mit einem Eichenholzfeuer auf 220 Grad Celsius erhitzter Backsteinofen, der im besten Fall rund um die Uhr heiss bleibt, damit sich im Innern kein Russ bildet. Diese Öfen sind perfekt geeignet, um das Fleisch von 20 Tage alten Milchlämmern der kastilischen Rasse Churra in einfache, aber geniale kulinarische Kunstwerke zu verwandeln. Ein guter Ofen, gutes Fleisch und natürlich ein guter Asador, das ist die heilige Dreifaltigkeit für ein perfektes Cordero lechal asado. Mit routinierten Handgriffen unterteilt der Asador das Tier in vier Teile, legt diese mit der Fleischseite nach oben in irdene Schalen, würzt sie mit normalem Salz und legt die vier Portionen für eineinhalb Stunden in den Ofen. Dann werden die Fleischstücke gedreht, und es wird etwas Wasser in die Schalen gegossen, damit in der restlichen halben Stunde eine goldbraune Kruste entsteht. Milchlamm-Aficionados sind übrigens der festen Überzeugung, dass die linke Schulter das beste Stück sei, weil sich die Lämmer beim Schlafen immer auf dem linken Vorderbein abstützen, was die Durchblutung fördere. Ein Cordero lechal asado auf dem Teller und ein vollreifer, fleischig-würziger Tinto Fino oder Tinta del País – wie der Tempranillo hier genannt wird – im Glas, das ist vielleicht die typischste spanische Mariage überhaupt.
Ein Weinland gewinnt Konturen
Jahrzehntelang folgte die Mehrheit der Produzenten in Ribera del Duero, Toro oder auch Cigales einer erstaunlich einheitlichen Rotweinstilistik, definiert durch vollreife Beerenfrucht, eine geballte Ladung Eichenholzwürze, fleischige Fülle und maskulinen Gerbstoff . Typische Macho-Weine eben, von Männern für Männer gemacht. Erst seit einigen Jahren tendieren die Rotweine von Kastilien-León nun zu jener individuellen Vielfalt, die man eigentlich in jeder grossen Rotweinregion erwartet. Sogar die Anhänger einer burgundisch geprägten Weinphilosophie, bei der Subtilität und Eleganz im Vordergrund stehen, werden hier heute fündig, besonders in Bierzo, aber zunehmend auch in der Ribera del Duero.
So lenkt etwa das Projekt Dominio de Atauta das Augenmerk auf den lange Zeit vergessenen östlichsten Teil der Ribera del Duero, wo nahe Soria, der vermeintlich kältesten Stadt in Kastilien, in Höhenlagen von 1000 Metern über Meer über 80-jährige Tinto-Fino-Stöcke wachsen. Die mächtigen Buschreben wurzeln ungepfropft, also mit ihren Originalwurzeln, im sandhaltigen Terrain, das von der Reblaus bis heute verschont geblieben ist. Die Lagen-Crus der Dominio de Atauta, wie beispielsweise La Mala oder Llanos del Almendro, zeigen, dass der Tinto Fino durchaus Weine hervorbringen kann, die nicht nur mit Wucht und Power imponieren wollen, sondern im Gegenteil eine überraschende Eleganz und Tiefgründigkeit offenbaren. Es sind Crus, die übrigens viel besser zum kastilischen Milchlamm harmonieren als die üblichen vom Holz dominierten Powergewächse.
Rasante Entwicklung
Bis weit in die 70er Jahre hinein war Kastilien-León weinmässig ein riesiger weisser Fleck, von einigen illustren Ausnahmen mal abgesehen. In Ribera del Duero genossen die Weine von Vega Sicilia schon lange vor der Schaffung der entsprechenden DO im Jahr 1982 weltweit einen vorzüglichen Ruf, und die Bodegas Protos waren ebenfalls spanienweit bekannt. Auch der charismatische Alejandro Fernández (Tinto Pesquera) machte sich zu jener Zeit gerade auf, um mit seinen Powerweinen die Welt zu erobern. In der Weissweinregion Rueda, wo bis dahin mehrheitlich ein sherryähnlicher Weisswein für den Hausgebrauch gekeltert wurde, kreierte der Rioja-Erzeuger Marqués de Riscal aus der Sorte Verdejo mit moderner Kellertechnik jenen primärfruchtigen, knackigen Prototyp eines modernen spanischen Weissweins, der kurze Zeit später die Weltmärkte erobern sollte. Und im Anbaugebiet Toro bewies zur gleichen Zeit die Familie Fariña, dass ein sorgfältig bereiteter Tinta de Toro (Tempranillo) durchaus die Klasse eines Ribera-del-Duero-Weines erreichen kann. Sonst war die Weinlandkarte Kastilien-León aber noch weitgehend unbefleckt. Doch das sollte sich in den kommenden Jahrzehnten auf fast schon dramatische Weise verändern.
Ein zartes Milchlamm auf dem Teller und ein vollreifer, fleischig-würziger Tempranillo im Glas, das ist die beste aller spanischen Mariagen.
Keine andere Region in Spanien konnte zwischen 1970 und 2010 so stark an Kontur zulegen wie Kastilien-León. Noch heute kommen immer wieder neue Facetten dazu. Die Entwicklung zeigt auch, dass die Region über einen kaum vorstellbaren und noch immer nicht vollständig entdeckten Schatz von sehr alten, oft bis zu hundertjährigen Rebanlagen, verfügt. Kernige Tempranillos aus Cigales, vor allem aber die Weltklasseweine aus der Mencia-Traube in Bierzo, die nur wenige Kilometer von der Grenze zu Galicien entfernt reifen, erweiterten das Spektrum des Weinlandes Kastilien-León. 2007 wurden mit der DO Arlanza nahe der Stadt Burgos und der DO Arribes, die auf rund 80 Kilometern den spektakulären Windungen des Duero-Flusses folgt, gleich zwei neue Appellationen eingeführt. Vor allem in Arribes, im dünn besiedelten Niemandsland zwischen Portugal und Spanien gelegen, zeigt sich Kastilien-León von einer bisher kaum bekannten Seite. Denn während in den meisten Anbaugebieten eine Rebsorte klar dominiert – in der Regel der Tempranillo oder in Rueda die weisse Sorte Verdejo –, definiert sich die DO Arribes durch eine Sortenvielfalt, wie wir sie eher aus dem benachbarten Portugal kennen. Auf kargen Böden mit hohen Anteilen von Sand, Granit und vor allem Schiefer reifen gut strukturierte Weine mit mineralischen Komponenten aus roten Sorten wie Juan Garcia, Rufete oder Bruñal, aber auch aus weissen Sorten wie Doña Blanca (Malvasia), Albillo, Godello oder Puesta en Cruz. Ja selbst die berühmteste aller portugiesischen Rotweinsorten, die Touriga Nacional, hat hier den Sprung über den Fluss, den die Portugiesen Douro und die Spanier Duero nennen, geschafft und bringt in der DO Arribes erstaunliche Gewächse wie den Tinto Roble Selección Especial von der Bodega La Setera hervor.
Aber auch in den einzelnen Appellationen kristallisieren sich die spezifischen Eigenheiten der verschiedenen Subregionen und Lagen immer klarer heraus. So reifen in der Ribera del Duero die kräftigsten und üppigsten Weine mehrheitlich im westlichen Teil des Anbaugebietes nahe dem Städtchen Peñafiel. Nur 30 Kilometer östlich, rund um das Weinbaudorf Roa de Duero, zeigen die Weine schon deutlich mehr kernige Frische und Mineralität. Und in den einsam gelegenen, kühlen Höhenlagen im äussersten östlichen Zipfel der Ribera del Duero, in kaum bekannten Dörfern wie San Esteban de Gormaz, zeigt der Tinta del País plötzlich eine Finesse, die man ihm bisher kaum zugetraut hätte…
Als ein weiteres wichtiges Kriterium für eine detaillierte Klassifizierung der Ribera del Duero könnten die unterschiedlichen Bodenbeschaffenheiten herangezogen werden. In der Talebene, besonders in der Nähe des Duero-Flusses, wurzeln die Reben in sandigen Schwemmböden, im Übergang zu den Talflanken finden wir zersetzten Kalk, vermischt mit Lehm, während in den eigentlichen Hanglagen der pure, weiss schimmernde Kalk-Mutterfelsen vorherrscht. So gesehen sind es ähnliche Verhältnisse wie im Burgund. Die zwei berühmtesten Kellereien in der Ribera del Duero, Vega Sicilia und Dominio de Pingus, arbeiten schon längst nach burgundischem Prinzip. So sind der Alion (Vega Sicilia) und der Flor de Pingus typische Village-Weine, während es sich beim Unico (Vega Sicilia) und beim Pingus um Grands Crus im wahrsten Sinne des Wortes handelt.
Keine andere Weinbauregion in Spanien konnte zwischen 1970 und 2010 so stark an Kontur zulegen wie Kastilien-León. Und noch heute kommen immer wieder neue Facetten dazu.
Pingus-Macher Peter Sisseck wurde kürzlich zum Präsidenten einer besonderen Kommission berufen, die Vorschläge erarbeiten soll, wie die DO Ribera del Duero weiterentwickelt werden könnte. Die Einführung von Subregionen ist dabei ebenso denkbar wie ein weiterführendes Lagenklassement. «Ich habe grossen Respekt vor der Arbeit von Alvaro Palacios im Priorat, der alte Schriften und Katasterpläne studiert, um die historische Bedeutung einzelner Lagen besser abschätzen zu können. In der Ribera del Duero gibt es kaum solche Aufzeichnungen. Und es gibt auch erst wenige Winzer, die in burgundischer Manier denken und arbeiten. Viele investieren ihr Geld noch immer lieber in neues Eichenholz als in eine rigoros qualitätsorientierte Arbeit im Rebberg», sagt Sisseck. Als noch nicht konsequent ausgeschöpftes Kapital betrachtet auch er die vielen Parzellen mit sehr alten Reben: «In Bordeaux, etwa im Médoc, ist es schwierig, Reben zu finden, die älter als 30 Jahre sind. Hier wird fast jeder Topwein aus Anlagen selektioniert, die älter als 60 Jahre sind», betont er.
Spanien-Feeling pur
Alteingesessene Winzerfamilien und hoch motivierte Zuzügler haben dem Weinland Kastilien-Léon so vielfältige Konturen verliehen, wie sie vor 30 Jahren noch undenkbar waren. Fast jede Provinz, so scheint es, hat ihr eigenes Weinwunder zu bieten. In Léon brachte die autochthone Sorte Prieto Picudo lange Zeit nur säuerlich-dünne Weine hervor. Heute sind die neuen Prieto-Picudo-Topgewächse mit ihrem kühlen Charme, der vielschichtigen Struktur und ihrer bekömmlichen Frische ein Garant für jene Weinerlebnisse, nach denen immer mehr Weinliebhaber suchen. Ja, wer heute im Dreieck zwischen Salamanca, León und Soria unterwegs ist, immerhin ein Gebiet, das fast doppelt so gross ist wie die Schweiz, lernt nicht nur charismatische Winzer kennen, sondern auch mehr eigenständige Weine pro Tag, als er zu trinken imstande ist.
Orte mit Charisma
Zudem lernt der Weinliebhaber auf der Reise durch Kastilien-León Kleinstädte wie Aranda de Duero, Tordesillas oder Toro kennen. Es sind Orte mit eigenständigem, ja eigenwilligem Charisma, fern vom europäisch gleichgeschalteten Kultur-Mainstream. Wer beispielsweise in Toro im kastilisch gutbürgerlichen Hotel «Juan II» absteigt und ein Zimmer auf der Südseite bezieht, blickt von seinem Fenster aus über den ruhig dahinfliessenden Rio Duero in die scheinbar unendlich weite Hochebene. Von der Hoteltür sind es nur ein paar Meter bis zur Calle Mayor, wo abends das Kleinstadtvolk gut gelaunt von Bar zu Bar zieht. Mit seinen zehn Kirchen und fünf Klöstern könnte man das 10 000-Seelen-Nest durchaus gottesfürchtig nennen. Doch was der Besucher zuerst wahrnimmt, ist die ansteckende Lebendigkeit dieses Städtchens.
Das beste Lokal im Ort, «La ViudaRica» (Die reiche Witwe), ist nach einem Ölgemälde benannt, das eine anmutige Frau in einem aristokratischen Gewand des 18. Jahrhunderts zeigt. Dass dieses Kleid, obwohl hochgeschlossen und zugeknöpft, früher nicht beim Gottesdienst getragen werden durfte, entlockt dem illustren Publikum, das hier an der Bar bei Toro-Wein und Gin Tonic zusammensitzt, höchstens ein amüsiertes Lächeln. Im hinteren Teil des Lokals wird eine exquisit verfeinerte kastilische Küche aufgetragen, die hervorragend zu den kernigen Toro-Crus harmoniert. So mancher Weinreisende, der hier eine Übernachtung eingeplant hatte, blieb letztlich die eine oder andere Nacht länger. Und dieses schöne Missgeschick kann einem in so manchem Weinstädtchen in Kastilien-León widerfahren. Gibt es einen besseren Beweis für die neu gewonnene Attraktivität dieser Region?