Wineguide: Natürliche Süssweine aus Banyuls, Maury & Rivesaltes

Es scheint, als enthalte jede unserer Verkostungen französischer Spezialitäten eine Sensation. Nach dem umwerfenden Abschneiden der Crémants aus dem Elsass, die uns im Frühjahr (VINUM 5 | 2021) in Atem gehalten haben, gilt das auch für die natürlichen Süssweine aus dem Roussillon, genauer gesagt, aus dem Umfeld der AOC-/AOP-Gemeinden Rivesaltes, Maury und Banyuls.

Erste Feststellung: Von zwei, drei Ausnahmen abgesehen waren alle Weine technisch nicht nur einwandfrei, sogar teils geradezu hervorragend bearbeitet. Fehlaromen gibt es auch in den oxydativ (unter Luftzufuhr) ausgebauten Weinen kaum. Süsse und Alkohol sind auch in den mächtigsten Weinen gut ausbalanciert. Zweite Feststellung: Galt (und gilt bis heute) Banyuls als ungekrönter König unter den natürlich süssen Weinen, sind Rivesaltes und Maury heute gleichberechtigte Konkurrenten. Rivesaltes Ambré ist die Kategorie, die uns in puncto Vielfältigkeit und aromatischer Komplexität am meisten beeindruckte und für den eigentlichen Spassfaktor der Verkostung sorgte. Wir können daher nur empfehlen, sich für diese Weinart zu interessieren. Ein Hinweis zu Umgang, Lagerung und Service: Die meisten VDN, auch relativ junge Rimage, können jung genossen werden. Doch sie können auch fast unbeschränkt reifen. Wir haben daher die meisten Weine mit der Trinkreife «ab 2022» versehen. Wie lange man die Weine daraufhin lagern möchte, hängt von Keller und Vorliebe jedes Einzelnen ab. 10 bis 20 Jahre ist eine gute, aber nach oben hin offene Grössenordnung. Aufgetischt werden «weisse» VDN (also auch die Ambré) bei etwa sechs bis acht und rote bei zehn bis zwölf Grad. Als Faustregel mag gelten: Lieber etwas zu kühl servieren als zu warm, besonders bei den Weinen mit den höchsten Alkoholgraden.

«Man kann und darf VDN jung geniessen, doch vergisst man sie mal im Keller, halten sie eine kleine Ewigkeit.»

Barbara Schroeder VINUM-Autorin

Süssweine sind nicht gerade in. Auch wir hatten diesen Weintyp (oder besser: diese Weintypen, denn die Vielfalt an Unterarten und Stilen ist enorm) in den letzten Jahren etwas aus dem Gaumen verloren. Wenn es überhaupt süss sein sollte, schenkten wir uns eher einen Sauternes ein oder machten einen Abstecher in den Douro, zu Vintage, LBV oder Tawny. Initialzündung zur Rückkehr in die Heimat gab eine ziemlich verstaubte Flasche Muscat de Rivesaltes, die wir in einer Kellerecke entdeckten: Sie trug den Jahrgang 1978. Natürlich völlig vergammelt, schliesslich trinkt man Muscat jung, sagten wir uns und wollten sie schon wegschütten, pulten schliesslich doch den arg bröckligen Korken aus dem Flaschenhals und liessen etwas von dem cognacfarbenen Wein ins Glas tröpfeln. Das Resultat war verblüffend. Kaum wahrnehmbar zwar die Muskatellernoten, die Akzenten von weissen Trüffel, Pfefferminzbonbon und gekochten Birnen gewichen waren, doch als Ganzes alles andere als übel, auch im Mund ölig und geheimnisvoll und nicht unangenehm dekadent. Natürlich soll das nicht heissen, dass man Muscat de Rivesaltes im Keller vergessen sollte. Doch passiert das mal, ist das weniger tragisch, als es scheint. Das gilt erst recht für die anderen Süssen aus dem Roussillon: Man kann und darf sie jung geniessen, doch sie halten tatsächlich alle Ewigkeit. Einziger Vorbehalt: Nach etwa 30 Jahren macht der Korken nicht mehr mit und sollte gewechselt werden. Wenn ein Korken beim Öffnen zerbröckelt, füllt man den Wein durch ein feinmaschiges Sieb in eine Karaffe um. Fazit: Angesichts der moderaten Preise der meisten Maury, Rivesaltes oder Banyuls ist der Erwerb von ein paar Flaschen absolut risikofrei.

«Es gibt nur ein Problem mit den natürlichen Süssweinen (VDN): Die Kategorie ist ungemein komplex.»

Rolf Bichsel VINUM-Autor

Freunde werfen mir schon mal vor, ich möge alles, was etwas seltsam sei. Wenn mit «seltsam» vergammelte Weine gemeint sind, die nach Knoblauch, Staub oder Abwaschwasser schmecken, lasse ich das nicht gelten. Wenn es um Weine geht, die vom Vanille-Kirsche-Stil abweichen, mag das stimmen. Dass wir grossen Spass an der Verkostung der VDN hatten und es sich lohnt, sich in dieser Kategorie umzusehen, haben wir bereits angetönt. Es gibt nur ein Problem damit: Sie scheint ungemein komplex. Allen VDN gemein ist gerade mal die Tatsache, dass sie aus vollreifen Trauben bestehen, deren Gärung mit Weinalkohol abgestoppt wird. (fünf bis zehn Prozent des Volumens mit reinem Alkohol von 96 VP) «Muté sur Grains» bedeutet, dass die Alkoholbeigabe auf dem Marc erfolgt: Die Trauben bleiben so länger an der Maische, was eine bessere Extraktion von Gerbstoff und Farbe erlaubt. So werden vor allem Weine auf Basis von Grenache Noir behandelt. Rimage ist die Entsprechung von Vintage: ein Wein auf Grenache-Basis, der unter Luftabschluss ausgebaut sowie schon wenige Monate nach der Ernte auf die Flasche gezogen wird und mindestens drei Monate in dieser reift. Rancio ist im Gegensatz dazu ein Wein, der oxydativ ausgebaut wird, etwa in bauchigen, auch mal Wind und Wetter ausgesetzten Glasflaschen. Ambré ist ein oxydativ ausgebauter Weisswein (Grenache Blanc, Gris, Macabeu), Grenat ein VDN, der seit 2009 aus Grenache Noir besteht (von mindestens 75 Prozent). Tuilé wird ein Rotwein auf Grenache-Basis (mindestens 50 Prozent), der oxydativ ausgebaut wird. Zum Grand Cru wird ein Banyuls aus mindestens 75 Prozent Grenache Noir, der mindestens 30 Monate im Fuder oder Fass reift.

Der vorliegende Guide wurde durch die regionale Dachorganisation der VDN des Roussillon ausgeschrieben. Die Verkostung erfolgte im August 2021 in unserem Stützpunkt bei Bordeaux. Mitmachen konnten folglich alle Produzenten, die Banyuls, Rivesaltes oder Maury abfüllen. Wir verkosteten alle Weine bei optimaler Temperatur und in Gruppen von maximal acht Exemplaren.