Dschungel auf der Rheininsel
Wo noch wilde Reben wuchern
Text: Rudolf Knoll, Fotos: Jana Kay
Sie ist vom Aussterben bedroht. Von der einst weit verbreiteten europäischen Wildrebe, der Urform der heutigen Kulturrebe, gibt es nur noch wenige Exemplare, die meisten davon im Naturschutzgebiet auf einer Rheininsel bei Ketsch in Baden-Württemberg. Aber vielleicht sind diese lianenartigen Pflanzen, die sich in einem grünen Dschungel an Bäumen hochwinden, in einigen Jahren Partner bei neuartigen Kreuzungen?
Es ist keine lange, grüne, oberarmdicke Schlange, die am Boden darauf wartet, zubeissen zu können, sondern ein harmloses Stück Natur, das in dieser Form schon vor Millionen von Jahren auf der Erde war und vor Kurzem ein grausames Schicksal erlitten hatte: Der starke Baum, an dem sie sich über Jahrzehnte lang hochgewunden hatte, wurde an einem stürmischen Tag entwurzelt und riss die Wildrebe, die an seine Spitze und damit an die Sonne gelangt war, mit zu Boden. Das riesige Dach, an dessen zahlreichen Ruten sich jedes Jahr Trauben herausgebildet hatten, lag zerschmettert auf der Erde. Aus, vorbei für ein Exemplar der selten gewordenen Vitis silvestris, dem Vorläufer der heutigen Kulturrebe Vitis vinifera, der Gattung für Riesling, Burgunder und Co.? Unser Scout Fritz Schumann gibt Entwarnung und deutet auf einen kleinen Seitenarm, der mit einem zarten Austriebspflänzchen signalisiert: Es ist noch Leben in der verunglückten Wildrebe! Wenn sich aus dem Austrieb eine gesunde Ranke entwickelt, die den in wenigen Metern entfernten neuen möglichen Stammbaum erreicht, kann sich diese in einigen Jahren wieder einen Sonnenplatz 20 Meter höher erobern, blühen und Trauben tragen.
Ort des Geschehens ist die Rheininsel bei Ketsch im Rhein-Necker-Kreis in Baden-Württemberg. Sie steht unter Naturschutz. Erreichbar ist sie nur über eine gut 50 Meter lange Holzbrücke, die gelegentlich, wie das ganze Eiland, überflutet wird. «Das ist wichtig für die Natur», klärt Schumann auf. «Die Überschwemmungen sorgen auch dafür, dass die Reblaus den Wildreben nichts anhaben kann, weil sie absäuft.» Die ungewöhnlichen Pflanzen mitten im Naturschutzgebiet erreichten wir nach einem längeren Spaziergang auf befestigten Wegen. Ruheständler Fritz Schumann, der langjährige stellvertretende Direktor der staatlichen Lehr- und Forschungsanstalt Neustadt an der Weinstraße und nebenberuflicher Weinhistoriker, hatte den Befehl gegeben: «Da rechts rein in die Wildnis. Nach 200 Metern werden wir die erste Wildrebe sehen.» Dieses Exemplar windet sich mit mehreren Armen an einer Eberesche hoch. In Bodennähe ist ein kleines Schild mit der Aufschrift «K 51» zu sehen. Dr. Erika Maul vom Institut für Rebenzüchtung Geilweilerhof im pfälzischen Siebeldingen weiss als Koordinatorin für ein wissenschaftliches Projekt zur Erhaltung der Ressourcen der europäischen Wildrebe sofort, was es damit auf sich hat: «Alle rund hundert noch existierenden Pflanzen sind genau kartiert, ihr genetischer Fingerabdruck erfasst.»
Mehr noch: Von allen diesen Individuen der Gattung Vitis silvestris, die im Detail so unterschiedlich sind wie zum Beispiel Riesling und Gutedel, wurden Steckhölzer gewonnen, aus denen im Garten neue Wildreben herangezogen werden, um sie anschliessend an geeigneten Standorten mit viel Licht und Sonne auszubringen. Diese «ausgewilderten» Reben sollen unter wissenschaftlicher Begleitung wieder lebensfähig werden. Beteiligt an diesem Projekt sind neben dem Geilweilerhof mehrere Institutionen wie das WWF-Auen-Institut Rastatt und das Botanische Institut für Technologie in Karlsruhe (KIT).
Lang vor den ersten Menschen
Einst waren diese Pflanzen weit verbreitet. Ihren Ursprung haben sie in vorgeschichtlicher Zeit, lange vor den ersten Menschen. Fossile Rebenreste liessen sich auf ein Alter von 60 Millionen Jahren datieren. Die Eiszeit vor etwa einer Million Jahren drängte die Reben ins Mittelmeergebiet zurück. Nach Ende der Eiszeit begannen sie wieder in Mitteleuropa zu wuchern. Mitte des 19. Jahrhunderts gab es noch viele Tausend Stöcke. Aber dann ging es durch die Trockenlegung der Auwälder oder beabsichtigte und unabsichtliche Kahlschläge rapide bergab mit den Wildreben. Die Ketscher Rheininsel, die Reißinsel bei Mannheim und Fluren bei Colmar im Elsass sind die letzten Bastionen in Mitteleuropa. Kroatien kann ebenfalls Bestände vorweisen. Sie ist in ihrer Existenz bedroht, weshalb sie in der «Roten Liste gefährdeter Pflanzenarten» aufgeführt ist. Warum man sich jetzt wieder stärker um sie kümmert, hängt nicht allein mit der Gefahr zusammen, dass sie aussterben könnte. Untersuchungen haben aufgezeigt, dass Wildreben Widerstandskraft gegen Krankheiten wie den Falschen Mehltau und die Schwarzfäule in sich tragen können. So denken Wissenschaftler darüber nach, ob dieses Potenzial nicht nutzbar für den normalen Weinbau sein könnte. Dr. Erika Maul kann sich, obwohl das eine genetische Veränderung der Vitis vinifera bedeuten würde, durchaus Kreuzungen im grösseren Stil mit klassischen Sorten vorstellen – das wäre eine ganz besondere Art der Piwi (Züchtungen von europäischen Kulturreben mit resistenten amerikanischen Reben). Auch das Karlsruher Institut sendet entsprechende Signale. «Unsere Wildrebensammlung ist ein wertvolles Reservoir für die Züchtung von pilzresistenten Reben, die im biologischen Weinbau eingesetzt werden könnten», heisst es in einer Informationsschrift.
Die Frage stellt sich natürlich, ob nicht Wildreben solo im stärkeren Umfang kultiviert werden könnten, um dann mit üblicher Stockerziehung normalen Wein zu liefern. Die Trauben der lianenartigen Gebilde, die sich auf der Rheininsel an starken Bäumen hochrangeln, können zwangsläufig nicht abgeerntet werden. «Dafür gibt es noch keinen Vollernter», scherzt Fritz Schumann. «Nur die Vögel kommen ran und hinterlassen uns dann Rappen, die aus grosser Höhe auf den Boden fallen.» Aber er selbst hat vor einigen Jahren die Pflanzung einer kleinen Drahtrahmenanlage auf den Fluren des Instituts für Rebenzüchtung Geilweilerhof in Siebeldingen initiiert. Neben Wildreben wachsen hier Einkreuzungen von Silvaner, Riesling und Faberrebe. Männliche und weibliche Pflanzen sind zu finden, die Trauben sind klein, die Beeren (meist blau) haben wenig und sauren Saft. Manche Stöcke schauen ganz normal aus, andere sind dünn und muten an, als sei es das erste Standjahr. Wein wurde hier schon gelegentlich erzeugt.
Im Wissen, dass die Steirische Sorte Blauer Wildbacher, die den säurebetonten Rosé Schilcher liefert, vermutlich von Wildreben abstammt, lautet eine Frage an Dr. Erika Maul: «Wie schmeckt so ein Wein?» Sie warnt: «Der zieht Ihnen die Schuhe aus, er kann schon mal so viel Säure wie Essig haben.» Ein paar Tage später wird ein tiefdunkler Saft, der mit Kirchenfenstern am Glas ordentlich Extrakt andeutet, probiert. Das Aroma ist beerig wie bei einem normalen Wein. Aber dann der Säureschock! Die spätere Analyse ergab 16,2 g/l, der geschmackliche Eindruck war noch ausgeprägter. Gegen diesen «Wein» ist der sauerste Schilcher ein Weichspülmittel…