Rheinhessen, Ingelheim
Wo die Fetzen fliegen
Text: Rudolf Knoll, Fotos: Jana Kay
Um 800 war Karl der Grosse ein Förderer des Weinbaus in dieser Region. Später galt das an der Mündung der Selz in den Rhein gelegene Ingelheim als eine der bedeutendsten Rotweinstädte Deutschlands. Dann wurde Ingelheimer Spargel fast begehrter als rote Burgundersorten. Aber jetzt wird wieder an den alten Weinruf angeknüpft.
Was für ein Kontrastprogramm! Ein verwinkelter Gewölbekeller mit typischer Patina an den Wänden und Decken und serienweise Halbstück- und Stückfässern sowie Barriques. Mittendrin eine junge Dame, gebürtig aus Wasserliesch an der Mosel, die in Geisenheim noch ein halbes Jahr die Studienbank drückt. Anne Thein ist jetzt schon, nach einer mutigen Bewerbung («so eine Chance gibt es nur einmal im Leben») im «Duell» mit zwei Dutzend Mitbewerbern, Betriebsleiterin des alteingesessenen Weingutes J. Neus in Ingelheim.
Das stand trotz ruhmreicher Vergangenheit (die Neus-Roten zählten einst zu den besten Deutschlands) vor zwei Jahren vor dem Aus. Eigentümer Ulf Burchards (Urenkel des Gründers Josef Neus) hatte bereits mit dem Verkauf begonnen. Es gab Pläne für den Umbau des Betriebs in Eigentumswohnungen. Die Weinberge mit den Toplagen Horn und Pares wären vermutlich an verschiedene Interessenten gegangen. Per Zufall hörte der Mainzer Unternehmer Christian Schmitz von der geplanten Zerschlagung und machte für seine Familie ein Angebot. «Als Weinfan mit Wurzeln in einer Weinhändlerfamilie musste ich das einfach tun», meint der Gesellschafter der auch in der Weinlogistik aktiv gewesenen G.L. Kayser Immobilien GmbH (1787 in Mainz gegründet). Vorher besprach er sich mit dem regionalen VDP VorsitzendenPhilipp Wittmann, legte ihm seine Pläne für eine Wiederbelebung vor und bekam den Segen für den Fortbestand der Mitgliedschaft.
Kellermeister Paul Shefford (44), einst wie Anne Thein in Geisenheim auf der Studienbank, ist in die Pflicht genommen, mit roten Burgunderweinen die deutsche Spitzenklasse anzusteuern. Die 2013er lassen im Fass bereits Fortschritte erkennen. Ulf Burchards, der eigentlich in einer Führungsposition weitermachen wollte, zollte dem neuen Tempo Tribut und zog sich in den Ruhestand zurück.
Tanz auf zwei Hochzeiten
Nicht ganz so kritisch stand es um ein anderes Vorzeigegut Ingelheims, das 1900 von Heinrich von Opel, einem der fünf Söhne von Adam Opel, gekauft wurde. «Aber man hatte den VDP-Betrieb nicht mehr so recht auf dem Schirm», erinnert sich Johannes Graf von Schönburg-Glauchau, der 2006 nach dem Tod seines Schwiegervaters Heinz von Opel mit Gattin Ivonne das Gut übernahm. Das Potenzial der Monopollage Schloss Westerhaus wurde nicht genutzt. Der Betriebswirt und die Exjournalistin investierten in die Kellerwirtschaft und holten sich 2010 mit Toni Frank einen tüchtigen Betriebsleiter, der schnell für einen deutlichen Qualitätssprung sorgte. Hausintern muss er auf zwei Hochzeiten tanzen. Der naturbewusste Graf schätzt den im Gut bedeutsamen Riesling, während die gastfreundliche Gräfin die roten Pinots bevorzugt und gleichzeitig mit zahlreichen Veranstaltungen vom Hoffest bis zum Jazzfestival viel Publikum ins Schloss bringt.
Das wohl älteste Weingut Ingelheims, Julius Wasem & Söhne, stagnierte zwar trotz 34 Hektar Besitz in besten Lagen längere Zeit in Sachen Qualität. Die häufig dezent süssen Weine waren oft etwas zu alkoholisch. Aber inzwischen hat der Spätburgunder an Profil gewonnen und kann auch bei den Weissen (Grauburgunder) auf sich aufmerksam machen. Grosszügig investierten die Inhaber Holger und Burkhard Wasem zudem in ein stilvolles Weinhotel und eine Vinothek. Ein Mann atmet tief durch, wenn er vernimmt, dass die Ingelheimer Flaggschiffe wieder auf gutem Kurs sind, nämlich Oberbürgermeister Ralf Claus. «Ein funktionierender Weinbau hat für unsere 25 000-Einwohner-Stadt viel Bedeutung», meint der 54-Jährige. «Wenn ich jünger wäre und Geld hätte, würde ich Winzer werden.» Die Kommune lebt zwar gut von einem der grössten deutschen Familienunternehmen, nämlich Boehringer Ingelheim (rund 15 Milliarden Euro Jahresumsatz, etwa 7500 Mitarbeiter am Standort), aber Wein und der berühmte Spargel sind sicher besser für das Image als ein Pharma-Riese.
Claus, Duzfreund nahezu aller Winzer, freut sich, dass auf den gut 600 Hektar die klassischen roten Sorten Spätburgunder, Frühburgunder und Portugieser («mein Jeden-Tag-Wein») nicht dem in Rheinhessen wuchernden Dornfelder weichen mussten und bei den weissen Sorten ebenfalls bewährte wie Riesling und die weisse Burgunderfamilie dominieren. «Wir haben hier nur Vollerwerbswinzer, die auch den Tourismus beleben.» Für den will er, in Feinabstimmung mit den Produzenten, bald im einstigen Winzerkeller eine Ortsvinothek eröffnen. «Spätestens 2016, wenn Rheinhessen seinen 200. Geburtstag feiert, wollen wir fertig sein», verspricht Claus. Er begrüsst ausserdem die gemeinsame Aktion von 14 Winzern, die den Spätburgunder Carolus als Reminiszenz an Karl den Grossen kreierten, der hier einst auf seiner Kaiserpfalz residierte und ein Förderer des Weinbaus war. Der süffige, sanfte Wein wird für 9,50 Euro verkauft, von der Stadt und den Beteiligten. Jeweils 1 Euro wird für wohltätige Zwecke abgezweigt.
Wichtige Kommunikation
Das zeigt auch, dass die Ingelheimer Winzer untereinander keine Berührungsängste haben. «Kommunikation ist für uns sehr wichtig. Bei unseren gemeinsamen Proben fliegen manchmal die Fetzen und es wird brutal kritisiert», verrät Arndt Werner. Der vorbildliche Öko-Winzer, dessen «S»-Klasse für durchgängig ausgezeichnete Weine steht, thront aber ebenso in der Regel über harten Urteilen wie Jens Bettenheimer, Jürgen Mett, Kristian Dautermann und die einzige Frau in der Ingelheimer Eliteklasse, Simone Adams. Bettenheimer vertritt die Devise «möglichst wenig eingreifen in das Werden des Weines». Einen Praktikumsaufenthalt in Neuseeland bezeichnet er als «prägend». «Ausdrucksstark, mit Ecken und Kanten», ist seine Beschreibung für die Burgunderfamilie und den Silvaner. Jürgen Metts erster Jahrgang war 1991. Danach dachte der ambitionierte Winzer, er sei im falschen Gebiet, weil sich rundherum nichts weiterentwickelte. Jetzt freut er sich: «Was mittlerweile bei uns abgeht, ist toll.» Dazu beigetragen hat die jüngere Generation, zu der Kristian Dautermann zählt, der schon seit Jahren mit Spätburgunder und Frühburgunder glänzt und inzwischen auch eleganten Riesling vorweisen kann. «Wir haben einen guten Mix aus frühen und späten Lagen, das nutzen wir aus», erklärt er die neue Vielseitigkeit. Simone Adams geht gern auf die Jagd. Die hier verwendeten Kaliber überträgt sie auf ihre Weine. Eher leichtgewichtige, aber dennoch geschmacklich intensive Gewächse bekommen zum Beispiel den Namen «Kaliber 12» verpasst. Ihr bester Spätburgunder ist «Kaliber 48». In ihrem Zweithobby Bergsteigen hat sie bereits einige Viertausender bezwungen.
Steckbriefe
Arndt F. Werner (56)
Ein Pionier des ökologischen Weinbaus, seit 33 Jahren. Vor zehn Jahren begann er – unterstützt von Gattin Birgit –, qualitativ richtig Gas zu geben. Die Rebfläche wurde auf 13 Hektar verdoppelt, aber die vorherige Erntemenge beibehalten.
Philipp Wasem (24) | Julius Wasem (26)
Noch haben die Vettern Holger (55) und Burkhard Wasem (50) das Sagen. Aber Philipp und Julius, die Söhne von Holger, haben sich nach ihrem Geisenheim-Studium ehrgeizig vorgenommen, auf die Stilistik der Weine (weniger Alkohol) Einfluss zu nehmen.
Jens Bettenheimer (36)
Eigentlich wollte er Kommunikationsdesign studieren, übernahm dann aber doch vor einem Jahrzehnt den Fassweinbetrieb seines Vaters und bezeichnet sich als «extrem selbstkritisch» und «experimentierfreudig». Den Weinen bekommt das nicht schlecht.
Dr. Simone Adams (35)
Eigentlich war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Uni Geisenheim. Aber als der Vater 64-jährig verstarb, übernahm sie 2010 den Familienbetrieb. Die charmant-dynamische Frau Doktor (Arbeitsthema Rebenstress), die in ihrer Freizeit gern auf die Jagd geht, krempelte treffsicher alles um.
Jürgen Mett (47)
Hektar zu Hektar. Die Hochzeit mit Silke Weidenbach bescherte Jürgen Mett 2004 als «Mitgift» wertvolle Rebfläche. Früher wurde viel zugekauft, heute stammen alle Weine von eigenen Filetstücken und werden zu hundert Prozent ab Hof verkauft.
Kristian Dautermann (34)
In Neuseeland erwachte die Leidenschaft für Rotweine, die Kristian Dautermann zu Hause zur Freude von Senior Kurt bestens umsetzt – bis hin zum Sieg beim Deutschen Rotweinpreis 2014 mit Frühburgunder, der mit dem Synonym Pinot Madeleine die Weinkontrolle irritierte.
Johannes Graf von Schönburg (38)
Kam der Liebe wegen ins Weingut, hat sich mit Gattin Ivonne (geborene von Opel) ab 2006 mit Begeisterung daran gemacht, das ins Trudeln geratene Haus wieder auf Kurs zu bringen, und ist mit Unterstützung von Betriebsleiter Toni Frank auf einem guten Weg.
Anne Thein (25) | Christian Schmitz (50) | Weingut J. Neus
Das Traditionsgut mit dem grössten Gewölbekeller Rheinhessens will unter neuem Besitz und neuer Leitung wieder an die bedeutende Ära des VDP Betriebes anknüpfen und in einigen Jahren zu den Top Ten der deutschen Burgunder-Erzeuger gehören.