NATURWEIN

WENIGER wird immer MEHR

TEXT: EVA MARIA DÜLLIGEN, FOTOS: JANA KAY

KONTROVERSE WINZERDISKUSSIONEN ÜBER KUPFER ALS PFLANZENSCHUTZ, VIELE OFFENE FRAGEN BEI DER WAHL DER HEFEN UND DER SCHWEFELDOSIS IM WEIN, KUHHORNDUNG UND TEEPRÄPARATE VERSUS KUNSTDÜNGER UND HERBIZIDE: DAS THEMA «NATURWEIN» IST WEIT UND KOMPLIZIERT. VIER BIOWINZER UND EINE KLEINE ENZYKLOPÄDIE BRINGEN EIN WENIG LICHT INS ORGANISCHE DUNKEL.

HOMÖOPATHISCHER PFUNDSKERL

NICHT RADIKAL, ABER KONSEQUENT LEBT DAS URGESTEIN DEUTSCHER BIODYNAMIE SEINE SICHT AUF DIE WELT DER REBEN. VINOLOGISCHER FORTSCHRITT BEDEUTET FÜR RUDOLF TROSSEN ALLES ANDERE, ALS IN DEN GIFTSCHRANK ZU GREIFEN. MIT SEINEN NATURBELASSENEN RIESLINGEN DURCHBRICHT DER MOSELWINZER DAS GLOBALE HORRORSZENARIO VON BANALISIERTEN FRANKENSTEINWEINEN.

Jeder findet was anderes peinlich. Rudolf Trossen zum Beispiel, wenn er im Dorfladen Cornflakes kaufen muss. Mehrmals habe er der Verkäuferin versichert, dass die Kelloggs nicht für ihn seien, sondern für den Sprachstudenten auf seinem Weingut. Der 18-jährige Duncan aus New York macht bei Trossen im Rahmen des weltweiten Netzwerks WWOOF (Worldwide Opportunities on Organic Farms) ein Praktikum. Aber das Rapunzel-Müsli von seinem Gastvater zum Frühstück kriegt er nicht runter. «Das hat nicht dieses Knacken beim Draufbeissen. Da muss sich wahrscheinlich erstmal ein Lebensmittel-Sounddesigner von Demeter dransetzen», spasst der biodynamische Winzer.

Trossen ist einer der ersten Stunde. Die Umstellung auf biodynamischen Rebbau erfolgte bereits 1978, zu einer Zeit, in der Chemiekeulen auf deutschen Weinfeldern so selbstverständlich waren wie der Sonntagsbraten. Mit 14 stand der heute 60-Jährige vorne an einer Schlauchspitze und versprühte das Fungizid Dithane Ultra über die Wingerte am linken Moselufer. Sein Vater war als Kriegsversehrter aus Russland zurückgekehrt und konnte mit seinem Holzbein schlecht in die Steillagen: «Ich hab den Sprühnebel ins Gesicht bekommen und einen physischen Ekel davor entwickelt. Mein Cousin hat damals beim Anrühren von Spritzmitteln einen schweren Leberschaden erlitten.»

Das Vertrauen in die chemische Industrie und nicht zuletzt die Wirtschaftsinteressen der Chemiekonzerne selbst vernebelten den Verstand mehrerer Landwirtsgenerationen. «Und tun es bis heute», sagt Trossen, «wenn man bedenkt, dass selbst einige sogenannte ‹Fair’n Green›-Winzer das Breitbandherbizid Glyphosat im Weinberg ausbringen, das von der WHO als krebserregend eingestuft wird.»

Anregungen nach Rudolf Steiner

Seit er das Weingut mit 21 Jahren übernommen hat, geht der Moselwinzer in die radikal andere Richtung. Weder Insektizide gegen die regionale Plage des Heu- und Sauerwurms noch synthetische Pilzbekämpfungsmittel finden auf seine Einzellagen-Parzellen. Stattdessen vertraut er den Anregungen Rudolf Steiners, der umstrittenen historischen Figur innerhalb der Weinszene: von den einen als Antisemit stigmatisiert, von den anderen als esoterischer Genussverächter verhöhnt. «Abgesehen davon, dass Steiner ein Bohemien war, mit Anarchisten und Künstlern in Wiener Salons verkehrte und alles andere als asketisch lebte, haben wir Biodynamiker ihm zu verdanken, Pflanzenwachstum zu verstehen und zu lenken», sagt Trossen.

Was genau dies in der Praxis bedeutet, erfährt man auf einem Streifzug durch die Einzellage Hubertuslay. Seine Parzellen in den steilen Schieferlagen werden durch Kräuter und minimale wässrige Kupferlösungen vor Pilzkrankheiten geschützt. Das Weglassen von Mineraldünger und Herbiziden sei Richtlinie, nach der der Mitbegründer vom Bund ökologischer Moselwinzer verfährt. Biodiversität, ein lebendiger Boden, bedeutet für Trossen den ersten Schritt hin zu unverfälschten Rieslingen. Zurück im Bioweingut veranschaulicht er die Fortsetzung seiner Naturweine im Reifekeller. 1000-Liter-Moselfuder aus Hunsrückeiche wechseln mit 500-Liter-Fässern, manche seien so alt wie er selbst, schmunzelt Trossen. Gesteuerte Kühlung findet im «Atelier» des Altmeisters nicht statt: «Wären die Fässer zu gross, müssten wir sie kühlen, weil die Temperatur im Kern zu hoch wäre. Unsere kleinen Gärgebinde brauchen das nicht. Wenn es im Keller kühler werden soll, mach ich die Tür auf.» Dass seine spontan vergorenen Weine minimal bis gar nicht geschwefelt werden, hat nicht nur Sommeliers aus Kopenhagener Michelin-Restaurants wie «Geranium» und «Noma» zu Stammkunden gemacht. Mittlerweile haben auch Japan und die USA seine filigranen Tropfen für sich entdeckt. Phil Sareil, ein New Yorker Importeur, der einst als Kommunenmitglied mit der US-Rockband Grateful Dead durch die Staaten tingelte, bringt die Gewächse von der Mittelmosel in die Übersee-Metropolen.

Trossens Gästehaus bildet den Schlusspunkt der heutigen Recherche über deutschen Naturwein. Den kann man sich hier in vollholziger Waldorfatmosphäre gern eingiessen. Noch. Denn sein Erweckungserlebnis kann man sich über das Internetportal «Traumferienwohnung» nur noch so lange abholen, bis Trossen und seine Ehefrau Rita selbst einziehen: «So stellen wir uns vor, im Rentenalter zu leben. Bevor das betreute Wohnen einsetzt.»

RUDOLF TROSSEN

Rudolf Trossen legte seine Weinbauweichen bereits 1978 in Richtung Biodynamie. Sein 2,5-Hektar-Gut ist Ecovinzertifiziert. Innerhalb dieses Winzer-Fachverbandes hält er regelmässig Vorträge zu den Themen biodynamischer Weinbau und «Naturwein». Für ihn ist Biowinzer vom Sozialprestige das Beste, was man sich vorstellen kann. Trossen versteht sich nicht im strengen Sinne als Anthroposoph, bedient sich aber der landwirtschaftlichen Ideen Rudolf Steiners. Der Vater zweier erwachsener Söhne arbeitet und lebt mit seiner Frau Rita in Kindel, direkt am Ufer der Mittelmosel.

RADIKALER HÜNE MIT GESCHMACK

EINEN BIODYNAMISCHEN WINZER WIE THORSTEN MELSHEIMER ZU BESUCHEN, HAT ZWEI MEDAILLENSEITEN. MAN KOMMT IN DEN GENUSS VON SCHAUM- UND STILLWEINEN, DIE NAHEZU FREI VON MANIPULATION SIND. GLEICHZEITIG, SOZUSAGEN AUF DER ZAHLSEITE DER MÜNZE, ERFÄHRT MAN DINGE, DIE MAN GAR NICHT WISSEN WILL. WEIL SIE UNBEQUEM SIND. ABER AUCH ZEIGEN, WIE ES BESSER GEHT.

«Sehen Sie», sagt der 48-jährige Mann, der fast die Zwei-Meter-Marke erreicht, «hier erkennt man den Übergang vom konventionellen Weinbau zum biodynamischen.» Wir stehen im Steilhang der Lage Mullay Hofberg. «Steilsthang» wäre besser gewählt, denn die Parzelle forciert mit 45 Grad und hundert Prozent Steigung das Gefühl, Comic-Held Spider-Man zu sein – allerdings ohne dessen Haftkraft. So hält man sich an einem glitschigen Rebstock fest und starrt auf zwei unterschiedliche Flecken Erde: einen, der zwischen Moos und braunen Stellen wechselt, und einen mit kunterbunter Fauna, vom wilden Löwenzahn bis zur Taubnessel. Unschwer zu erraten, wo welcher Weinbau stattgefunden hat.

Die Zerstörung der Vielfalt ist für Thorsten Melsheimer eine Sache. Im Rieslingglas rächt sie sich am Ende mitunter durch einen austauschbaren Stil, denn gerade Riesling spiegelt Terroir sehr deutlich. Was unter dem Sichtbaren, im Boden, abgeht, bereitet dem Geisenheim-Absolventen weit mehr Kopfzerbrechen. «Das Einbringen von Kupferhydroxid kann Wurzelspitzen absterben lassen. Im schlimmsten Fall gehen Kleinstlebewesen zugrunde. Wenn aber mit synthetischen Pflanzenschutzmitteln gearbeitet wird, mutieren die Mikroorganismen. Welche Folgen das haben wird, ist so schwer abschätzbar wie bei genmanipulierten Lebensmitteln.»

Um für eine Weile zu vergessen, was die mit Unmengen von Chemie behandelten, im Laufe des Lebens konsumierten Weine im eigenen Körper angerichtet haben könnten, trinken wir – zurück im 200 Jahre alten Familienweingut – erstmal einen 2013er Rieslingsekt Dosage Zéro. 20 Prozent der rund 50 000 jährlich produzierten Liter werden hier zu Schaumwein. Kein einziger Tropfen spontan vergorenen Rieslings wird lohnversektet. Dass die zweite Flaschengärung von Reinzuchtsatt von Wildhefen getragen wird, wurmt den Biowinzer. Es wäre aber für die weinbergeigenen Hefen zu schwer, sich im Kohlensäure-Milieu zu behaupten, räumt Melsheimer ein. Man kann nicht alles haben. Man hat hier im Gegenteil von allem weniger. In der folgenden Sekt-Cuvée aus Riesling und Pinot Noir etwa befindet sich eine Schwefeldosage von 25 Milligramm. «Dieser Sekt hat keine frei verfügbare schwefelige Säure. Ein Wein, der fünf Jahre auf der Hefe gelegen hat, braucht kaum Schwefel mehr, um stabil zu sein.»

Hornkiesel und Hornmist

Melsheimer, mit dem einzigen Demeter-zertifizierten Weingut an der Mosel, bedient kaum das Klischee eines Steiner-Jüngers. Kapuzenshirt und verwaschene Jeans kleiden den Ex-Volleyballspieler. Während er in Geisenheim die Weinbau und Önologenschulbank drückte, fragte er sich, ob Profisport nicht die reizvollere Option wäre. Eine Knieverletzung nahm ihm die Entscheidung ab. Nach neun Jahren Vereinssport zwang sie ihn, «endlich ernsthaft zu werden und Vollblutwinzer zu sein». Entgegen der damaligen Auffassung eines Professors, Spontanvergärung sei so ziemlich der grösste Schwachsinn, und dem «Chemiebaukasten», der den Geisenheim-Studenten bis in die 1990er für die Kellerarbeit verordnet wurde, machte Melsheimer eine geistige Kehrtwende. Mit der Betriebsübernahme 1995 stellte er auf biologischen Anbau um. Der Jahrgang 2009 war der erste auf Basis biodynamischer Präparate. Dazu zählen auch Hornkiesel und Hornmist – Feldpräparate, die einen an mittelalterlichen Aberglauben denken lassen. In einer Trockenübung demonstriert der Moselwinzer, wie er mit einem Strohbesen pulverisierte Bergkristalle im Kessel verrührt. Die dynamisierte Substanz wird im Sommer über den Weinbergboden versprüht und soll das Rebwachstum unterstützen. Um uns herum liegen ausgehölte Kuhhörner, in denen sich, verbuddelt im Weinberg, Dung in Humus verwandelt. Kosmische Kräfte, Vermittlung von Impulsen: klingt ein bisschen nach Star Trek. «Das alles ist mit den gängigen Naturwissenschaften nicht belegbar», sagt er. «Aber der Humus in meinen Parzellen ist extrem vital und bringt resistente Reben hervor.»

Abends verknuspern wir Pastinakensuppe, hausgemachte Tortellini und frisches Adlerfischfilet mit Safranschaum im Restaurant «Die Graifen». Musik sei seine zweite Passion, bemerkt er beim Espresso. Weniger gregorianische Choräle. Eher Indie-Rock von den Pixies oder Electro von Sleaford Mods. Aberhunderte seiner Mix-Tapes aus den 80ern und 90ern reihen sich wie in einer Bibliothek über dem Etikettiertisch der Lagerhalle. Zu des biodynamischen Winzers Lieblingstracks gehört nach wie vor die Dancefloor-Hymne von Faithless: «God is a DJ. This is my church, this is where I heal my hurts.»

THORSTEN MELSHEIMER

Biosiegel von Ecovin bis Demeter zieren die Labels der Rieslinge, die Thorsten Melsheimer seit 2009 nach biodynamischen Prinzipien anbaut. Die Hälfte der zehn Hektar an der Mittelmosel liegt in Steilstlagen, grossteils im Schiefer geprägten Mullay Hofberg, der sich zu 80 Prozent im Besitz des Naturwein-Winzers befindet. «Weglassen» heisst sein Dogma: natürliche Vergärung, also ohne Reinzuchthefen, keine Temperatursteuerung, minimaler Schwefelzusatz. Melsheimer bringt seine Weine oft erst im zweiten Jahr nach der Ernte auf den Markt, der sich zu einem Drittel aus dem Export speist. Er lebt mit Ehefrau Steffi und drei gemeinsamen Kindern in Reil an der Mosel.

HOCHENTSPANNTES LEICHTGEWICHT

MITTEN IN DER UMSTELLUNG BEFINDET SICH STEFAN VETTER. KEIN KLEINES WAGNIS, DENN IN DEN BIODYNAMISCHEN OLYMP ERHOBEN ZU WERDEN, BEDEUTET NICHT NUR BIENCHEN UND BLÜMCHEN IM WEINBERG. DER FRÄNKISCHE JUNGWINZER NIMMT ES GELASSEN. FÜR IHN STEHT ZUNÄCHST MAL NATURBELASSENER WEIN AUF DER TO-DO-LISTE.

Die Geschichte von der Zeitungsannonce erzählt Stefan Vetter immer wieder gern. Zu Weihnachten 2010 kam er von seinem Winzerjob im Burgenland in sein Heimatdorf Iphofen und stiess in der «Mainpost» auf eine Anzeige, die den Casteller Kirchberg zur Pacht ausschrieb. Damit war der Stein ins Rollen gebracht. «Ich hab mich auf Anhieb in den Sylvaner-Weinberg verliebt», sagt Vetter. «Die alten, knorrigen Rebstöcke, die schiefen Weinbergpfosten und eine viel höhere Pflanzdichte, als man sie heutzutage findet, liessen mich nicht lange zögern. Ich unterschrieb den Pachtvertrag.»

Heute bewirtschaftet der 36-Jährige mehrere Parzellen in Iphofen, Castell und Gambach. Auf einer Gesamtfläche von drei Hektar baut er Sylvaner, Müller-Thurgau und etwas Riesling nach biologischen Prinzipien an. Angesteckt vom Naturwein-Virus wurde Vetter während seiner Tätigkeit auf dem Weingut Anita und Hans Nittnaus am Neusiedlersee. Das stellte gerade auf biodynamische Wirtschaftsweise um, und für den fränkischen Winzer stand schnell fest, so wollte er irgendwann auch in seinem eigenen Weinreich arbeiten: jenseits von Kunstdünger und synthetischen Spritzmitteln, ohne Reinzuchthefen und künstliche Schönung. Keine Holzchips oder Tanninzusätze. Die sechs Monate alte Josepha sitzt auf Papa Stefans Schoss und kaut am Cover eines VINUM-Hefts. Der Winzer gebietet mit keiner Geste Einhalt. Laisser-faire. Diese Weltanschauung setzt sich bis in den roten Sandstein auf den Terrassen des Gambacher Kalbensteins fort. Eingegriffen wird nur, wo es nötig ist. Aber dafür mit Hacke statt Herbiziden, Handlese ersetzt den Vollernter. Den organischen Kompost zur Vitalisierung des Bodens – Rindermist und Stroh – setzt er selbst an: «Sie ahnen gar nicht, wie sauber der Geruch ist, verglichen mit Mineraldünger.»

In ein paar Wochen konvertiert der Biowinzer endgültig zur Biodynamie. Dann geht’s an die Details: Ein alter riesiger Wurstkessel zur Bereitung von Tee-Präparaten steht schon im Gutshof. Je 40 Liter Brennnessel- und Kamillentee werden über einen Hektar versprüht, um die Weinstöcke zu stärken. Wie aber lässt sich nachweisen, dass es sich bei den Tees, die nicht im Marken-Discount erworben wurden, tatsächlich um biozertifizierte Kräutertees handelt? «Wir müssen eine Liste der verwendeten Betriebsmittel-Zukäufe führen und anhand von Rechnungen nachweisen, wo wir was gekauft haben.»

Wann immer man sich fragt, warum Weinmacher das auf sich nehmen, nicht den Weg des geringsten Widerstands gehen, finanzielle Einbussen wegstecken – angefangen bei kostspieligen Präparaten bis zum langen Hefelager –, kommt man spätestens mit ihren Weinen auf der Zunge zu dem Schluss: Es lohnt sich. Wenn es möglich ist, derartig gute Resultate ins Glas zu bringen, wozu dann Filtration oder hohe Dosen von Schwefel? Oder anders gefragt: Weshalb finden wir es bizarr, wenn Biodyn-Winzer die Bodenaktivität durch Hornmist fördern, bleiben aber halbwegs gelassen, wenn potenziell krebserregende Substanzen wie Glyphosat in die Weinbergböden sickern? «Ich glaube, das Vertrauen in die chemische Industrie sitzt tief in vielen von uns. Wir sind gerade erst dabei, uns davon zu lösen», sagt Vetter. «Man muss keinen Ackerschachtelhalmtee auf die Laubwände sprühen, um damit die Geisteskräfte der Natur anzuregen. Aber man darf den Weinkonsumenten andererseits nicht mit Pestiziden gefährden.»

STEFAN VETTER

«Mer ham mit nix angefangen», sagt der Quereinsteiger, «das hier ist ja kein Familiending, mein Vater war Beamter.» Bevor der 36-jährige Franke sein Dreieinhalb-Hektar-Weingut hochgezogen hat, studierte er in Geisenheim Weinbau und arbeitete dann fünf Jahre als Winzer auf dem österreichischen Demeter-zertifizierten Gut von Anita und Hans Nittnaus. Heute produziert er rund 6000 Flaschen Sylvaner und 2500 Flaschen Müller-Thurgau aus drei Einzellagen in Franken. Ehefrau Katja, die als Erzieherin für verhaltensauffällige Mädchen tätig war, unterstützt Stefan Vetter bei der Büroarbeit und im Marketing. Die beiden leben mit Tochter Josepha in Gambach.

«ES GIBT MEHR ALS GUT UND BÖSE»

WIE ÜBERALL HERRSCHT AUCH IN DER ÖKOWINZER-SZENE LAUTSTARKE PLURALITÄT. EINER, DER GERN MITBRÜLLT, IST REINHARD LÖWENSTEIN. BIODYNAMISCHE METHODEN SETZT DER MOSEL-WINZER SELBST EIN, STARRE WEINBAUDOGMEN LEHNT ER KATEGORISCH AB.

Herr Löwenstein, was verstehen Sie als Biowinzer unter Naturwein?

Es gibt keinen Naturwein. Ein Weinberg ist keine Landschaft und Wein kein Naturprodukt. Wein ist per se Kultur.

Dann so herum: Schmecken Ihnen Weine, die sich immer näher an die Ursprünglichkeit herantasten, etwa Orange Wines?

Das meiste von dem Zeug empfinde ich als Körperverletzung. Beim Orange Wine sollten manche Kollegen auch darauf achten, dass der Herstellungsprozess nicht zu dominant wird, der Wein seine Erkennbarkeit nicht verliert und «heimatlos» wird – besonders bei terroirgeprägten Rebsorten wie Riesling. Es gibt aber fantastische Produzenten dieses Weinstils in der Steiermark wie Ewald Tscheppe und Reinhard Muster.

Und Ihre Haltung zu ungeschwefelten Gewächsen?

Ich schätze es, wenn sich vor allem junge Winzer auf die Suche nach neuen Aromenspektren machen. Auch wenn die Hälfte davon ins Höschen geht und die Theorie dahinter meist beknackt ist. Werden Sherrytouch, die Nuancen von saurer Butter in so manchen Schwefelfreien mag, soll sie sich schmecken lassen.

Einige Kollegen aus der Biodyn-Szene werfen Ihnen vor, dass Sie mit Glyphosat arbeiten – ein Unkrautspritzmittel, das krebserregend sein soll.

In dem Moment, als wir erfahren haben, Glyphosat sei potenziell karzinogen, haben wir aufgehört, es einzusetzen. Das war vergangenes Jahr. Dass der Vorwurf ausgerechnet aus der anthroposophischen Ecke kommt, wundert mich. Ich kenne eigentlich kaum einen Biodyn-Winzer, der nicht mit seinem Traktor krebsforcierende Emissionen in die Luft bläst. Es gibt mehr als Gut und Böse.

Es herrscht ja schon länger angespannte Stimmung zwischen Ihnen und einigen Biodynamikern. Woran liegt’s?

Mich stört nicht allein deren Nähe zu Rudolf Steiner, der später viele Anhänger bei führenden Nazis wie Himmler oder Heß hatte. Was mich genauso abstösst, ist die Doppelmoral bei den Richtlinien. Leute wie ich sollen das Unkraut mit der Hand zupfen, sonst erwartet mich ein Shitstorm. Die Verwirrmethode RAK 1+, bei der synthetisch hergestellte Hormone gegen den Traubenwickler zum Zuge kommen, ist aber zugelassen.

Inwiefern unterscheidet sich der Winzerverein Fair’n Green von fundamentalistischen Biowinzern?

In unserem Verein wird nichts in Moral verpackt, wir sind keine ideologischen Ökoaktivisten. Der Schwerpunkt unserer Organisation liegt auf Ökobilanz durch zukunftsorientierte Produktionsverfahren, frei von Vorschriften. Das heisst, unsere Mitglieder schmeissen ihren Denkapparat von selbst an und entwickeln die Kriterien, nach denen wir zertifiziert werden, ständig mit und weiter, um die Nachhaltigkeitsziele zu erreichen.

REINHARD LÖWENSTEIN

Mit weltweit prämierten Rieslingen gehört Reinhard Löwenstein zu den profiliertesten Winzern Deutschlands. Nach Stationen in Paris und Kuba kehrte der Winzersohn in 13. Generation in sein Heimatdorf Winningen an der Mosel zurück und bewirtschaftet dort gemeinsam mit Ehefrau Cornelia 15 Hektar in VDP-klassifizierten Ersten Lagen. Weinqualität gründet für den 61-jährigen Agraringenieur nicht auf Öchsledenken, sondern auf Terroir. Mostkonzentration und Schönung lassen aus seiner Sicht so wenig authentischen Wein entstehen wie Reinzuchthefen. Der VDP-Vizepräsident ist Gründer des Winzervereins Fair’n Green, der unter anderem Nachhaltigkeitsziele und soziales Engagement verfolgt.

KLEINE EVAPEDIA DES ÖKOWEINS

Naturwein

Winzer, die konsequent «Naturwein» produzieren, tun das mit dem geringsten Eingreifen in die Natur. Die Formel könnte lauten: nix Künstliches rein (Pestizide, Schönungsmittel) – nix raus (Filtration). Spontanvergärung sowie kleine Schwefelmengen gehören zu weiteren Parametern. Geschützt ist die Bezeichnung allerdings nicht, hat also keine weinrechtliche Relevanz und darf auch nicht auf dem Etikett aufgeführt sein. Seriös wird es für den Verbraucher erst da, wo die Zertifizierung beginnt.

EU-Biolabel

Seit der Ernte 2012 dürfen Biowinzer nach den EU-Vorschriften die Begriffe «ökologischer Wein» oder «Bio-Wein» verwenden. Die Vorgaben regeln etwa die Höchstmenge für Sulfite oder das Verbot von bestimmten Zusätzen. Der Anbau von genmanipulierten Rebsorten ist nicht zulässig. Zur Bekämpfung von Pilzkrankheiten oder Insektenbefall dürfen die Winzer bestimmte chemische Mittel verwenden. Die Stickstoffdüngermenge ist nicht begrenzt.

Bioland-Label

Um das Logo aufs Etikett zu bekommen, müssen die Winzer unter anderem für ganzjährige Begrünung im Weinberg sorgen (Vermeidung von Monokultur, Ansiedlung von Nützlingen), der Regulierung von Stickstoffdüngermengen entsprechen und einer standortorientierten Rebsortenwahl nachkommen. Nur wenige Handelsdünger sind erlaubt. Über 250 Winzer aus allen deutschen Anbaugebieten und Südtirol produzieren ihre Weine nach diesen Massgaben.

Ecovin-Label

Der 1985 gegründete Weinbauverband hat sich einiges auf die Richtlinien-Liste geschrieben: von der Biodiversität durch artenreiche Begrünung und aktiven Artenschutz bis zur Verbannung von Gentechnik in Anbau und Produktion. Statt auf den Einsatz von Herbiziden, organischen Fungiziden und chemischsynthetischen Insektiziden setzt Ecovin auf gesteigerte Selbstregulation im Weinberg, zum Beispiel mit Algenextrakten, anorganischen Kupferpräparaten, Paraffinwachsen und Pheromonen.

Demeter-Label

Die strengsten Auflagen stellt der älteste Bio-Bauernverband Deutschlands. Mondphasen, nach denen gearbeitet werden soll, die jährlich maximale Menge von drei Kilogramm Kupfer pro Hektar zum Pflanzenschutz und homöopathische Spritzpräparate wie Hornkiesel und Hornmist machen nur einen Bruchteil der Vorgaben aus. 58 Weingüter gehören dem deutschen Demeter-Verband an, weltweit gibt es 616 mit rund 8200 Hektar Rebfläche.

Schwefel

Als Konservierungsmittel war Schwefel schon in der Antike bekannt. Bis heute dient SO2 als Oxidationsschutz und zur Hemmung von Mikroorganismen. Un- bzw. minimal geschwefelte Weine können Aromen wie Pferdeschweiss mit sich bringen. Wird zu viel geschwefelt, kann das Facetten im Bouquet überdecken. Einige Biowinzer bewegen sich mit 25 Milligramm freiem Schwefel pro Liter in einem fast schwefelfreien Rahmen. Je besser das Lesegut, umso weniger muss geschwefelt werden.

Kupfer

Will der Winzer auf synthetische Pflanzenschutzmittel verzichten, weicht er auf Kupferlösungen aus. Als «halbwegs alternativlos» bezeichnet Biowinzer Stefan Vetter diese Methode. Verglichen mit der Kupfermenge von ca. 50 Kilogramm, die pro Hektar und Jahr in den 1950ern ausgebracht wurden, sind drei Kilo, die einige Biowinzer heute ausbringen, äusserst moderat.

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