Eine Stunde mit Michel Chapoutier, eigensinniger Unternehmer und Biodynamik-Pionier

«Die Welt braucht mehr Leichtsinn»

Interview: Barbara Schroeder, Fotos: Rolf Bichsel

Mit 24 Jahren wollte Michel Chapoutier nur eines: absolute Entscheidungsfreiheit. Er übernahm das Unternehmen seiner Familie und krempelte den Weinstil komplett um, begann früh mit biodynamischem Anbau. Heute ist er einer der grossen Kommunikatoren des Weins.

 

Michel Chapoutier, Sie tragen den Namen einer alten, inzwischen weltbekannten Familienmarke. Chapoutier wurde 1808 gegründet.

Ich stieg 1988 ins Geschäft ein. 1990 kam das Unternehmen in grosse wirtschaftliche Schwierigkeiten. Hinzu kam, dass ich die Weinphilosophie der Familie gar nicht teilte. Für mich gab es daher nur zwei Möglichkeiten: aussteigen oder selber zum Inhaber werden. Mit totaler Entscheidungsfreiheit. Ich entschied mich für die zweite Möglichkeit. Ich war gerade 24 Jahre alt und ziemlich vermessen.

Dabei gab es doch damals einen Stil Chapoutier, der vielen Weinfreunden gefiel.

Aber nicht mir. Die Marke war omnipräsent. Deren Stil dominierte alle Weine, egal woher sie stammten. Von Terroir keine Spur. Die Weine waren reich an Alkohol, wurden in Kastanienfässern ausgebaut und vor dem Abfüllen filtriert. Das Resultat mag Anhänger gehabt haben – ich wollte das genaue Gegenteil.

Wie reagierte die Umgebung?

Mein Grossvater verstand exakt, was ich wollte, und unterstützte mich. Die Konkurrenz hingegen rieb sich vergnügt die Hände und wartete darauf, dass Chapoutier an der erstbesten Klippe Schiffbruch erlitt. Alle waren schrecklich nett zu mir. Nicht aus Solidarität, sondern aus purem Interesse. Es galt als gesetzt, dass ich binnen zwei Jahren pleite sein würde und unsere Weinberge dann zum Verkauf stünden. Doch Konsumenten und Presse stellten sich rasch hinter uns. 1993 war es dann so weit: Alle dachten, so ein klimatisch schwieriges Jahr übersteht der Michel nicht. Wir arbeiteten damals erst seit zwei Jahren biodynamisch. Doch die Qualität unserer Weine war hervorragend. Meine besten Pseudofreunde wurden quasi über Nacht zu meinen bösesten Feinden.

Bio war damals noch nicht in Mode wie heute. Wer hat Sie beeinflusst?

Einerseits Claude Bourguignon, der bekannte Bodenspezialist, andererseits François Bouchet, der grösste Biodynamiker Frankreichs. Beiden habe ich viel zu verdanken. Denn ehrlich: Ich hatte von Tuten und Blasen keine Ahnung, hatte nicht einmal studiert. Aber ich wollte lernen. Und ich war ein unbeschriebenes, unformatiertes Blatt. So konnte ich mir alle Freiheiten leisten und betrieb meine eigenen Recherchen, ohne Rücksicht darauf, was andere davon hielten.

Wenn ich Sie richtig verstehe, sindSie eher instinktiv an die Biodynamie herangegangen als rationell.

Richtig. Ich hatte die Wahl zwischen HIF – Herbizid + Insektizid + Fungizid – oder diesem nebeligen Ding, das mit aktivem Leben zu tun hat. Biodynamie, das Leben in Aktion. Wäre ich intelligent und rationell gewesen, hätte ich diesen Schritt nie gemacht. Eine Marke, die auf der Kippe steht, mit einem neuen Stil zu belasten, ist ja nun wirklich nicht das, was im Handbuch des gewieften Unternehmers steht. Mathematisch gesehen hatte ich null Chancen. Doch dem Tumben winkt das Glück.

Und Michel Chapoutier eroberte die Welt…

…indem er sich in die Lage des Weinliebhabers versetzte. Warum gibt es in einer bestimmten Preisklasse keine guten Weine? Erste Feststellung: Der Preis beinhaltet den Arbeitsaufwand. Zweite Feststellung: Ein Drittel geht in die Amortisation des Reblandes. Nur da kann man sparen, nicht bei der Arbeit. Sonst geht die Qualität flöten.

«In der untersten Preisschiene haben wir keine Chance gegen die Neue Welt. Aber uns bleibt die Mittelklasse in ihrer ganzen Vielfalt und Feinheit.»

Also sucht man nach erschwinglichem Terroir mit Potenzial.

Ganz genau. Meine ersten Banyuls-Reben kaufte ich 1995. Der Verkäufer wollte 25 000 französische Francs, also 4000 Euro pro Hektar. Das ist wenig nach heutigem Massstab, doch damals war das für mich eine stattliche Summe. Ich konnte mich nicht entscheiden. Auf der Rückfahrt hörte ich im Auto Jacques Brels «Le monde se meurt detrop peu d’imprudence» («Die Welt stirbt an zu wenig Leichtsinn»). Ich verstand es als Wink des Schicksals, hielt an der nächsten Tankstelle an und bestätigte per Telefon den Kauf der 2,5 Hektar. In Victoria im Nordwesten Australiens fand ich die grösste Bodenvielfalt und konnte mit unveredelten Syrah-Reben arbeiten. Danach ging ich nach Portugal. Ich bin ein grosser Fan der Touriga Nacional. Es folgte das Elsass. Eigentlich hatte ich gar nicht vor, vom Rieslingliebhaber zum Hersteller zu werden, aber in einer feuchtfröhlichen Nacht mit ein paar Freunden liess ich mich zum Kauf einer Domäne überreden.

Michel Chapoutiers Revolutionen, wie die Blindenschrift auf dem Etikett: reines Marketing?

Ganz und gar nicht. Mit Wein teilt man Vergnügen. Er ist ein Antikriegsserum, ein Kollektivserum gegen den Individualismus. Im Rahmen der Vereinigung M.Chapoutier Vins & Santé, die ich 1994 gründete, setzen wir uns für Leukämieerkrankte ein und suchen nach Spendern von Knochenmark, das ihre Überlebenschancen erhöht. Die Blindenschrift entwickelten wir mit einem Blindenverein. Die medizinischen Recherchen haben mehr als ein Jahr gedauert, hätten wir mehr Unterstützung gehabt, wären wir noch weitergegangen.

Wie sehen Sie die Entwicklung des französischen Weinbaus?

Solche Fragen mag ich! Frankreich verleugnet seine Wurzeln. Hier wurden die kontrollierten Herkunftsbezeichnungen geschaffen. Doch die AOC oder AOP soll den Verbraucher schützen und nicht den Produzenten. Sie ist keine soziale Errungenschaft, sondern eine Verpflichtung. Wenn sie in Misskredit gekommen ist, dann nur, weil die Produzenten ihre Rechte mit ihren Pflichten verwechseln.

Die Konkurrenz aus der Neuen Welt?

Als ich begann, konsumierten die USA fünf Liter pro Kopf, heute sind es acht. Ein Liter pro Kopf entspricht der gesamten Produktion der Côtes du Rhône. Die Neue-Welt-Länder teilen heute unsere Marketingkosten, indem sie ihre Biertrinker zu Weintrinkern erziehen. Von den ehemaligen Biertrinkern bleiben vielleicht zehn Prozent bei Sortenweinen hängen, die anderen interessieren sich rasch für die Herkunft der Weine, für ein Land, eine Region, einen Winzer. Unsere Sozialkosten sind zu hoch, als dass wir in der untersten Preisschiene mithalten könnten. Doch uns bleibt die ganze Mittelklasse, die der Neokonsument in ihrer ganzen Vielfalt und Feinheit geniessen kann.

«Die Zukunft des Weines liegt in der Courage zu sagen: Dieser Wein ist teuer, weil er es wert ist.»

Ist das weltweite Weinangebot nicht schon viel zu gross?

Ein Konsument braucht doch nicht alle Weine der Welt zu kennen! Ich bin ein Verfechter der Hierarchisierung. Die Zukunft des Weines liegt in der Courage zu sagen, dieser Wein ist teuer, weil er es wert ist. Um seinem Wein den richtigen Preis zu geben, muss der Winzer ihn erst einmal selber mögen. Und er braucht einen guten Namen. Allerdings macht ein Name noch längst keinen Wein.

Sie schauen also optimistisch in die Zukunft?

Total. Solange man das System respektiert, kommt jeder auf seine Kosten.

Vita

Der 1964 geborene Michel Chapoutier übernahm 1990 die Leitung des Familienbetriebes Chapoutier und kaufte nach und nach alle Anteile auf. Bereits im selben Jahr begann er, in Weinberg und Keller mit neuen Arbeitsmethoden zu experimentieren, 1996 erhielt er seine ersten Biozertifizierungen (Ecocert und Biodyvin), 2002 folgte das Demeter-Label. In Australien investierte Michel Chapoutier ab 1997: Er begründete eine Partnerschaft mit Ron und Elva Laughton (Jasper Hill) sowie Rick Kinzbrunner (Domaine de Giaconda) und erwarb die Domaine Tournon nordwestlich von Melbourne. 2009 kaufte Chapoutier die Domaine Schieferkopf in der Gemeinde Villé und investierte im Douro (Pinteivera).

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