Rheinhessen, Worms
Liebfraumilch geht stiften
Text: Ursula Heinzelmann, Fotos: Jana Kay
Muss ein Bericht über die Weine aus dem Wormser Liebfrauenstift-Kirchenstück, einer vom VDP als Grosses Gewächs klassifizierten Lage, immer noch mit Liebfraumilch anfangen? Oder ist das angesichts des rheinhessischen Aufschwungs unangebracht? Wir tun es trotzdem, weil die Lage heute wieder ein Wormser Aushängeschild ist.
Liebfraumilch als süsser, ziemlich billiger und vor allem für den Exportproduzierter Massenwein ist der lange Schatten, der in manchen Köpfen unverändert über dem Rheinhessen-Boom hängt. «After the Debacle Called Liebfraumilch» titelte die «New York Times» im Oktober 2012 einen Bericht über die Weingüter Keller, Wittmann und Wagner-Stempel. Doch das Hier und Jetzt sieht ganz anders aus. Vier Weingüter sind heute in den 14,5 Hektar der Lage Wormser Liebfrauenstift-Kirchenstück massgeblich tätig: Gutzler, Schembs (beide jeweils 19 Ar), Spohr (knapp 1 Hektar) und das zum Weinhandelshaus Valckenberg gehörige Weingut Liebfrauenstift (knapp über 13 Hektar). Alle vier erzeugen jeweils einen trockenen Lagen-Riesling, Spohr ausserdem einen trockenen Lagen-Chardonnay und das Weingut Liebfrauenstift, dessen Besitz ausschliesslich im Kirchenstück liegt, jeweils einen trockenen und feinfruchtigen Gutswein sowie einen Rieslingsekt. In seltenen Ausnahmejahren gibt es edelsüsse Weine.
Eine Horizontale der vier trockenen Lagen-Rieslinge aus 2013 beeindruckt in vielerlei Hinsicht. Einerseits geht es hier trotz 13 Volumenprozent Alkohol nie wuchtig zu, sondern trotz aller Lebendigkeit angenehm leise, beinahe diskret. Die Weine nehmen einen vielmehr durch ihre stets ein wenig exotische, cremig gelbe Frucht gefangen. Bei Christian Spohr wird sie von einigen wenigen Gramm Restsüsse noch unterstrichen und erinnert an Ananas und Pfirsich. Tilman Queins arbeitet sie im Valckenberg-Keller eher säurebetont heraus, während bei Gutzler hefeherbe Maracujatöne zum Vorschein kommen. Der Schembs-Wein fordert am meisten (lohnende) Geduld ein: Er braucht viel Luft, um unter der burgundisch anmutenden würzigen Art die gelbweisse Frucht zu entfalten, bleibt dabei aber auf der eleganten Seite.
Zuverlässig hohe Qualität
«Beim Kirchenstück geht es nicht um Power», bestätigt Queins, der seit 2001 bei Valckenberg mit dem Segen von Eigentümer Wilhelm Steifensand als Kellermeister auf dieser Flur mitten in der Stadt Worms viel bewegt hat. Gerhard Gutzler betont, wie wichtig ihm auch im Kirchenstück gesundes Lesegut sei, um «filigrane trockene Weine zu erarbeiten, die durch eine ausgeprägte Fruchtaromatik bestechen – wir dulden keinerlei Botrytis in unserem Erntegut». Arno Schembs hebt stellvertretend für alle vier hervor, dass die geschützte Lage durch den grundsätzlich sehr frühen Austrieb und die gute Wasserversorgung besonders in schwierigen Jahren zuverlässig hohe Qualität liefert, die Weine sich aber in einem allgemein guten Herbst wie etwa 2009 eher ins vorherrschende Qualitätsspektrum eingliedern (dann nutzt er den Riesling als «Seele» seiner Château-Cuvée). Christian Spohr schliesslich sagt, es sei immer wieder überraschend, dass sowohl Chardonnay als auch Riesling im Vergleich mit Weinen aus anderen Lagen grundsätzlich weicher in der Säure ausfielen – und dass die «alte Geschichte» gar nicht so bekannt sei, wie man als Wormser annehmen würde!
Die «alte Geschichte», damit meint er natürlich Liebfraumilch. Und die ist nicht nur ein Debakel, sondern auch die spannende, lehrreiche Story des ersten Kultweins unserer Geschichte. 1687 berichtete der Franzose Maximilien Misson vom Liebfrauenstift-Wein, der so süss schmecke «wie die Milch unserer lieben Frau»; im Wormser Stadtarchiv ist ein Wein dieses Namens 1755 zum ersten Mal belegt. Bereits seit dem 14. Jahrhundert pilgerten die Wallfahrer zur Schutzmantelmadonna in Worms am Rhein. Ab 1630 wurden sie von Kapuzinermönchen verköstigt, sicher auch mit Wein aus dem Klosterkeller, der im Nibelungenlied als der «guote win, den besten, den man kunde vinden umben Rin» gepriesen wird. Der grosse Liebfraumilch-Erfolg begründete sich jedoch im Zeitgeist des 19. Jahrhunderts, als sich Kunst und Religion mit romantisierender Naturschwärmerei zum Rausch der Idylle verbanden. 1827 sorgte Karl Baedeker mit seinem Vorläufer des Lonely-Planet-Guides für einen wahren Run von Engländern auf die Stadt am Rhein. Der Wormser Wein wurde zum Kult, die Nachfrage stieg, die Preise auch. Einfach jeder, der in England Mitte des 19. Jahrhunderts etwas auf sich hielt, wollte diesen frischen, leichten Weisswein, der so viel cooler war als die verstaubten Portweine, Sherrys und Madeiras der Eltern. Um 1900 war Liebfraumilch auf den Weinkarten der Welt einer der Vertreter deutscher Weinkultur und ebenso teuer wie grosse Gewächse aus Bordeaux.
Nichtsdestotrotz schrie der Markt nach mehr. Eigentlich durfte sich nur das Liebfraumilch nennen, was in den ummauerten 3,5 Hektar im Schatten der spätgotischen Kirchtürme gewachsen war. Die tüchtigen Weinhändler in Worms (bereits seit römischen Zeiten ein bedeutender Umschlagplatz für Wein) kamen dem ebenso geflissentlich nach wie ihre Kollegen in der Umgebung. Man erweiterte die Lage um angrenzende Rebflächen auf 14,5 Hektar – und schielte dann gierig und erfolgreich ins Hinterland sowie in andere Regionen. Bereits 1910 wurde Liebfraumilch zum Typenwein deklariert, bis heute ist dieser als lieblicher weisser Qualitätswein aus Nahe, Pfalz, Rheingau oder Rheinhessen definiert, der zu 70 Prozent aus Riesling, Silvaner, Müller-Thurgau und/oder Kerner bestehen muss und mit den Reben rund um den Liebfrauenstift nicht das Geringste zu tun hat. Noch vor 25 Jahren wurden über 1,2 Millionen Hektoliter exportiert, doch die Verwandlung der süssen Milch in bittere Tränen ist seit langem Fakt. Die Produktion ist kontinuierlich rückläufig; laut Deutschem Weininstitut ist sie 2013 auf 285 000 Hektoliter geschrumpft.
Aber die Lieblichkeit der Madonna erwies sich als stärker als die schnöden Kräfte des freien Marktes. 1997 erwarben Gutzler und Schembs ihre Parzellen, weil sie neugierig auf den besonderen Charakter der Lage waren: Unter den vom Schwemmland des Rheins geprägten sandig-kiesigen Lössböden verbirgt sich vom Flüsschen Pfrimm aus den Alzeyer Hügeln angeschwemmtes Rotliegendes. Das Interesse der beiden bestärkte offensichtlich das Haus Valckenberg, an alte Grösse anzuknüpfen. Schliesslich gesellte sich 2003 Spohr zum Wiederbelebungsteam. Bereits 1910 waren die ursprünglichen Liebfraumilch-Weingärten als Wormser Liebfrauenstift-Kirchenstück repositioniert worden. Heute kommt ihr besonderer Charakter im Glas wieder zum Ausdruck. Der Typenwein ist gewissermassen stiften gegangen.
Steckbriefe
Christian Spohr (40) | Weingut Spohr, Worms-Abenheim
Er sagt zur Zukunft des Kirchenstücks: «Es geht uns hier darum, Tradition neu zu beleben. Wir sind dabei, dieser Lage wieder zu einem Ruf zu verhelfen, und das ist viel Arbeit, und es ist langwierig.»
Tilman Queins (45) | Weingut Liebfrauenstift, Worms
Der Önologe hat in den letzten Jahren nicht nur die Weinqualität kontinuierlich gesteigert, sondern dies auch zusammen mit Geschäftsführer Peter Bohn durch die Beschränkung auf Riesling und wenige Weine erfolgreich kommuniziert.
Michael Gutzler (31) | Weingut Gutzler, Gundheim
Der Junior übernahm 2008 die Verantwortung für den Keller im Familienweingut von Vater Gerhard (58), der sich heute vor allem um die Weinberge kümmert. Die Weine sind seitdem auf positive Weise weniger kraftbetont und ausladend; besonders die Spätburgunder wirken heute angenehm elegant.
Arno Schembs (52) | Château Schembs, Worms-Herrnsheim
Er ist schon lange Rheinhessen-Visionär. 2006 übernahm er die Keller von Schloss Herrnsheim. Dort baut er auch den Kirchenstück-Riesling aus, spontan vergoren, lange auf der Hefe, ohne Filtration und nur durch Falldruck abgefüllt.