Gletscherwein
Der Mythos lebt
Text: Benjamin Herzog
Ein Gletscherforscher kann aus dem ewigen Eis die Klimageschichte unseres Planeten ablesen. Schmilzt das Eis, ist die Geschichte weg. Wer vom legendären Gletscherwein von Grimentz kostet, trinkt ein gutes Stück Alpenhistorie mit. Wird der Wein vernachlässigt, ist die Geschichte weg. Höchste Zeit für einen Ausflug ins kühle Val d’Anniviers im Wallis.
Von Sierre nach Grimentz geht es praktisch nur bergauf. Mehr als 1000 Höhenmeter überwindet man auf der 25 Kilometer langen Strecke. Man lässt das grosse Rhonetal hinter sich und mit ihm die berühmte Walliser Reblandschaft. Spätestens auf halber Strecke beginnt sich der Reisende zu fragen, wie zum Teufel hier oben schon im elften Jahrhundert Menschen leben konnten.
In Grimentz gibt es eigentlich nur einen Mann, der diese Geschichte erzählen kann: der 83-jährige Jean Vouardoux. Ein Dorforiginal, neunfacher Grossvater, Hobbyhistoriker und nicht zuletzt der Hüter des geheimnisvollsten Walliser Weins, des Gletscherweins der Bourgeoisie – der Bürgergemeinde von Grimentz.
Wir sind mit Jean Vouardoux am Dorfeingang von Grimentz verabredet. Schon bei der Begrüssung merken wir, dass Jeans Französisch ganz anders is tals das, was wir aus dem Wallis sonst kennen. Er spricht noch das Patois des Val d’Anniviers, eine alte, regionale Alpensprache, die irgendwo zwischen Italienisch und Französisch liegt. «Wir müssen einen kleinen Umweg machen», sagt er, bevor wir loslaufen. In Grimentz’altem Dorfkern sind gerade Bauarbeiter mit schwerem Gerät zugange. Die schmale Gasse zwischen den jahrhundertealten Häusern liegt offen, die Männer verlegen ein riesiges blaues Wasserrohr, wie man es unter den Strassen einer Grossstadt, aber sicher nicht in einem alpinen Dorf erwarten würde.
Von der Alpwiese zum Stausee
«Grimentz hat etwa 450 Einwohner», erzählt Jean. «In der Hochsaison im Winter sind es aber gut und gerne zehnmal so viele.» Das Dorf liegt inmitten zweier Skigebiete, letztes Jahr sind diese mit einer neuen Seilbahn miteinander verbunden worden. Seit in den 1970er Jahren der Tourismus einsetzte, geht es den Einwohnern des Dörfchens ganz gut, doch das war nicht immer so. Die Menschen, die sich hier oben vor Jahrhunderten niederliessen, waren Bauern. Sie kümmerten sich im Sommer um die schwarzen Eringer Kühe, die Kampfkühe des Val d’Anniviers, im harten Winter blieben nur wenige auf dem Berg. Die Alp Moiry lag einst dort, wo 1957 der grosse Stausee angelegt wurde. Ein grünlich schimmerndes Gewässer, das vom Schmelzwasser des Moiry-Gletschers gespeist wird. Der Bau der Staumauer war für die Bewohner des nahe gelegenen Grimentz aber keine Katastrophe wegen des Verlusts der Alp, im Gegenteil, er brachte den Bergbauern sichere Arbeit.
Jean Vouardoux stoppt vor einer niedrigen, hölzernen Tür auf der Hinterseite eines typischen Walliser Hauses mit einem Fundament aus Stein, das gleichzeitig als ebenerdiger Keller dient, und mehreren daraufsitzenden Stöcken aus Holz, die wie verbrannt von der alpinen Sonne wirken. «Das war mal ein Keller», sagt Jean und klopft mit seinem Gehstock gegen die Tür. «Der wurde aber vor einigen Jahren aufgegeben – samt dem Gletscherwein, der darin reifte.» Im Dorf von Grimentz existieren 17 Keller, nach Jeans Schätzung gibt es insgesamt aber nur noch etwa 15 Gletscherweine, alleine in der Bourgeoisie liegen zwei davon – früher hatte jede Familie im Tal mindestens ein Fass dieser Spezialität.
Doch was genau ist dieser Gletscherwein? Dieser anscheinend sherryartige Walliser Weinmythos? Jean Vouardoux lächelt ob unserer Frage: «Nicht so ungeduldig, Sie werden das schon noch erfahren», sagt er bestimmt. Er hat wohl schon oft Menschen zur Geduld anhalten müssen, die nur wenig oder zumindest für seinen Geschmack zu wenig Zeit mitgebracht haben, um den Gletscherwein kennenzulernen. Jeden Montag von Dezember bis Mitte April und von Mitte Juni bis Mitte Oktober zeigt Jean Vouardoux Besuchern kostenlos den Kellerschatz der Bourgeoisie. «Wer von einem anderen Gletscherwein kosten will, muss den Besitzer kennen. Und der muss einen dann auch noch einladen», erklärt Jean.
Der alte Dorfkern von Grimentz befindet sich nicht etwa auf einem Plateau, sondern am Hang. Wie in vielen anderen Bergdörfern wurden die Häuser in die Höhe gebaut, wenn eine Familie wuchs. «Wie in Manhattan», scherzt Jean. «Sehen Sie: Der unterste Stock stammt aus dem 13. Jahrhundert, der mittlere aus dem 16. und der oberste aus dem Jahr 1791.» Er deutet auf die Jahreszahlen, die an der Seite des Hauses eingeritzt sind, doch auch an der Bauweise, der Grösse der Fenster und der Färbung des Holzes kann man die verschiedenen Bauepochen des Hauses ablesen. «Die Fenster waren früher so klein, weil man die Wärme im Haus behalten wollte und auch weil die Menschen Angst hatten – vor dem Wolf etwa», erzählt Jean Vouardoux. «Wovor haben die Menschen in Grimentz heute Angst?», fragen wir Jean Vouardoux unvermittelt. Er zuckt mit den Schultern, wird dann aber für einen Moment ernst und erklärt, dass man in den Bergen alle Arbeiten gemacht habe, um Katastrophen zu verhindern, aber man hier oben halt nie so genau wisse, was passiert. Und beginnt sogleich wieder zu lächeln: «Einige von uns haben wohl auch Angst, dass die Touristen nach dem stressigen Winter einfach hier bleiben.»
Ein Haus voller Geschichte
Wir erreichen das 1550 gebaute Bürgerhaus von Grimentz. Ein Haus, das ebenso viel Geschichte hat wie die umliegenden Gebäude – oder sogar noch mehr. Jean Vouardoux führt uns in einen grossen Saal mit Holzmobiliar, zeigt uns die Zinnkrüge, die je einem einstigen Präsidenten der Bürgergemeinde gewidmet sind. Doch nicht nur die Krüge, die hölzernen Trinkbecher oder die Urkunden vergangener Weinwettbewerbe erzählen die Geschichte des Dorfes und des Gletscherweins, sogar die grossen Tische in dem Raum haben alle etwas zu erzählen. «Jeder dieser Tische war früher einer bestimmten Gruppe zugeteilt», sagt Vouardoux mit ernster Miene. «Hier sassen die Leute der Behörden, und zwar nur die. Hier drüben die jungen, da vorne die älteren Arbeiter.» So hat man Konflikte zwischen den verschiedenen Gesellschaftsgruppen verhindert, sicher eine gute Strategie an einem schwer zugänglichen und auch schwer zu verlassenden Ort wie Grimentz.
Erst seit 1901 führt eine Strasse ins Dorf, bis dahin kam man nur zu Fuss oder mit Lasttieren dorthin und auch wieder weg. Der alte Maultierpfad ins Tal ist von Grimentz aus noch immer deutlich zu sehen. Endlich. Jean Vouardoux schaut auf die Uhr: «Es ist nach elf, wir können also mit der Verkostung beginnen. Vas-y!» Wir gehen in die unterste Etage des Bürgerhauses, Vouardoux öffnet ein Metallkästchen gegenüber der Kellertür, darin liegt ein übergrosser, alter Schlüssel mit einem ebenso riesigen Schlüsselbart. Jean schliesst damit die Kellertür auf, und wir treten ein.
Allein der Duft beim Eintreten ist einzigartig. Es riecht süsslich nach reifem Obst und auch nach Holz, aber nicht nach Eiche. Ein echter Glacier – die Abkürzung der Einheimischen für den Vin de Glacier, den Gletscherwein – liegt ausschliesslich in Lärchenfässern. Ursprünglich wurde die autochthone Sorte Rèze für die Herstellung dieser Weine verwendet, heute kommt aber vor allem die Sorte Marsanne zum Einsatz, die im Wallis Ermitage genannt wird. Gletscherwein heisst der Wein nicht, weil er etwa in einer Gletscherhöhle reift, sondern weils ich bei Grimentz gleich zwei grosse Gletscher befinden und auch weil ein Keller für die Herstellung eines Gletscherweins kühl sein muss, so kühl wie möglich. «Unten in Sierre würde das nicht funktionieren», sagt Jean Vouardoux.
Zum Einstieg verkosten wir einen verhältnismässig jungen Wein. Auf dem Fass steht Ermitage 1969, das Jahr der Erstbefüllung. Es ist das Jahr der ersten bemannten Mondlandung und die Zeit, in der in Grimentz der Tourismus gerade so richtig zu boomen begann. Jean Vouardoux öffnet das Hähnchen am Fass und lässt vorsichtig etwas von dem Wein in kleine Gläschen fliessen. Wir verkosten nicht aus einem Weinglas, sondern aus einem kleinen Gobelet – einer Art Shotglas, aus dem man im Wallis traditionellerweise Wein trinkt. Auf einen Weinliebhaber wirkt so ein Gläschen zunächst befremdlich, doch man akzeptiert stillschweigend, dass das hier nun einmal so gemacht wird.
Der Wein, der sein Leben 1969 begann, zeigt sich überraschend jugendlich mit Frucht- und Gewürzaromen sowie einer präsenten Säure und erinnert an leichten Fino-Sherry. Kein Wunder: Der Herstellungsprozess eines Gletscherweins ist dem in den Sherry-Soleras Südspaniens ähnlich, allerdings gibt es im Wallis keine Florhefe zum Schutz vor Oxidation, die Fässer werden einfach voll gehalten. Frischer Wein wird nur in das Fass mit dem durchschnittlich jüngsten Wein gefüllt, der Inhalt dieses Fasses dient zur Befüllung des nächstälteren Weins und der Inhalt dessen wiederum zur Befüllung des nächstälteren. Gletscherwein ist immer ein Jahrgangsverschnitt.
Eigensinnige Alpen-Soleras
Nicht jedes Jahr wird ein neues Fass angelegt: Im Keller der Bourgeoisie wird das älteste Fass von 1886 mit dem Wein aus dem 1888er Fass aufgefüllt, das 1888er wiederum wird von einem Fass gespeist, das 1934 erstmals befüllt wurde, und schliesslich gibt es noch das 1969er, dessen Inhalt wir gerade im Glas haben, es wird dem 1934er zugeführt. Der 69er Wein schliesslich wird mit dem neuen Jahrgang aufgefüllt. Im Durchschnitt braucht die Bourgeoisie dafür etwa 25 Liter. «Wie viel man jeweils zugeben muss, hängt davon ab, wie viel wir trinken. Rund ein Prozent des Inhalts jedes Fasses verdunstet aber immer. Beim 1886er Fass, das 900 Liter fasst, sind das also ganze neun Liter», erklärt Vouardoux.
2008 entschied sich die Bourgeoisie, ein neues Fass mit Rèze zu befüllen, frühestens 2018 wird dieser Wein bereit sein, seinen älteren Pendants zugeführt zu werden. «Diese Weine brauchen Zeit, viel Zeit», sagt Jean gelassen. Gletscherwein wird nur zu speziellen Anlässen getrunken, etwa zu Taufen, Beerdigungen oder Hochzeiten. Der Wein aus dem ältesten Fass von 1886 ist der rarste – er wird nur an Ehrengäste ausgeschenkt, auch uns gibt Jean Vouardoux nichts davon. «Er ist so ähnlich wie der von 1888», sagt Jean verschmitzt und verrät uns dann einen Trick, wie wir doch dazu kommen könnten, davon zukosten: Am 15. August findet die Fête patronale de Grimentz statt. Die Statue des Saint-Théodule, des Schutzheiligen von Grimentz, wird an diesem Tag aus dem Dorf gebracht, um weiter in andere Ortschaften zu ziehen. «An dem Tag trauen wir uns, den Kirchenbesuchern nach der Messe ein wenig vom Bischofsfass auszuschenken», sagt Jean Vouardoux leise.
Der neue Wein, den er jedes Jahr zum Fass mit dem jüngsten Durchschnittsalter gibt, stammt nicht aus Grimentz – hier auf über 1500 Metern über Meer wachsen keine Reben. Diese stehen in den Lagen der Bourgeoisie oberhalb von Sierre. Vinifiziert wird der Wein im Tal und danach hochgebracht. «Bevor es die Strasse gab, schleppten ihn Maultiere hoch», erklärt Jean Vouardoux. Er fordert uns auf, den 1969er auszutrinken, und schreitet zum Fass des 1888ers. Wieder lässt er vorsichtig etwas davon in die Gläschen fliessen. Wir riechen zunächst, das kann man bei dem Wein fast stundenlang tun: Nüsse, gedörrte Früchte, Holz und allerlei Gewürze, am Gaumen absolut harmonisch und klar, knackig und vor allem knochentrocken. «Das gefällt vielen Leuten heute leider nicht mehr», erzählt uns Jean Vouardoux. Er hätte sogar schon Gäste gehabt, die einen Schluck probierten und den Rest auf den Boden schütteten. Eine Untat in seinen Augen. Gletscherwein gehört zu den lange in Holzfässern ausgebauten Weinen, wird aber nicht gesprittet. Er unterscheidet sich sensorisch aber auch im Grad der Oxidation von Sherry, Vin Jaune, Madeira und Co.
«Forcierte Oxidation ist beim Gletscherwein ein Fehler», lehrt uns Jean Vouardoux und macht damit klar, warum es so wichtig ist, dass man sich um diese Weine ständig kümmert. Neben Wein muss man ab und zu auch Schwefel dazugeben. Nur wenige Häuser weiter sei kürzlich ein Gletscherwein aufgegeben worden, er sei von alten Leuten an vier Kinder vererbt worden. «Die hatten kein Interesse an diesem Erbe», sagt Vouardoux wehmütig. «Ein Gletscherwein, der mehrere Jahre unbeaufsichtigt bleibt oder von dem nur getrunken und nichts nachgefüllt wird, verkümmert.» Früher wäre es niemandem eingefallen, einen Gletscherwein verkümmern zu lassen. Denn die Bergbevölkerung hatte nicht nur Angst vor dem Wolf, vor Lawinen oder dem Feuer, sondern auch vor dem Tod oder zumindest davor, bei der eigenen Beerdigung keinen Wein für die Gäste zu haben, und so hatte man stets welchen in Fässern bereitstehen. Natürlich ging es auch um die Gastfreundschaft zu Lebzeiten. Denn wenn ein Fremder den weiten Weg nach Grimentz auf sich nahm, dann wollte man ihm auch ein Glas Wein offerieren können – aus demselben Grund möge man auch reifen Käse hier oben, meint Jean Vouardoux.
«Der Gletscherwein entstand nicht aufgrund eines Planes», erklärt er weiter. «Es muss wohl im 13. oder 14. Jahrhundert gewesen sein, als man in einem dunklen Keller ein kleines Fass Rèze für mehrere Jahre vergass und realisierte, dass der ungeplante lange Ausbau dem Wein ganz gut tat.» Wie alle ländlichen Gebiete kann auch das Wallis als konservativ bezeichnet werden. Hier mag man Traditionen. «Was wir haben, haben wir», sagt Jean trocken, und vor diesem Hintergrund überrascht es auch nicht, dass der Gletscherwein von Grimentz weder in Genf noch in Zürich und auch nicht in Brig zu finden ist. «Der echte Gletscherwein wird nicht in Flaschen gefüllt», sagt Jean Vouardoux.« Mit Gletscherwein trinken Sie schliesslich nicht einfach ein Getränk, Sie trinken auch einen Teil unserer Geschichte.»
Seit dem Jahrgang 2013 ist der Gletscherwein mit einer Ursprungsbezeichnung geschützt. Er darf nur aus dem Val d’Anniviers stammen und muss aus den Sorten Rèze, Ermitage, Petite Arvine oder Heida produziert werden. Erklärtes Ziel war es auch, die Vermarktung dieses Weines zu verbieten, doch es gibt zumindest einen Produzenten im Val d’Anniviers, der seinen Wein in Flaschen füllt und verkauft. Man kann sich darüber streiten, ob es sich hier um den bekannten Effekt des Ferienweins handelt, doch als wir in Zürich die mitgebrachte Flasche öffneten, hat dem Wein tatsächlich etwas gefehlt. Jean hat uns ja gewarnt.