NAHE

Die Spitze ist Nahe

Texte: Eva Maria Dülligen, Fotos: Thomas Epping

  • Perfektes Klima durchdringt den 120 Jahre alten Gewölbekeller von Rainer Marx. Bis zu zwölf Monate reifen seine Spätburgunder Reserve hier in neuen Barriques.

Ein polymorpher Rebenteppich war die Weinbauregion Nahe bis vor 45 Jahren – ohne nennenswerte Winzer, ohne einheitlichen Weinstil. Heute sorgen die rund 4000 Hektar mit Rieslingen von erstklassigen Einzellagen für weltweite Aufmerksamkeit. Aber die Geschichte ist mit der Avantgarde von Diel bis Dönnhoff nicht zu Ende erzählt: Mit Spätburgundern von morgen aus Windesheim, dem Generationenwechsel in packenden Betrieben um Bad Kreuznach und ungehobenen Weinschätzen aus dem Alsenz-Seitental schlägt man weitere Kapitel auf.

Vor rund 30 Millionen Jahren jagten hier Riesenhaie durchs Tertiärmeer. Karibisches Klima herrschte an den Uferzonen des Mainzer Beckens. Seine Buchten lagen da, wo im Nordwesten der Nahe-Region heute noch trockenes Lokalklima herrscht. Ein paar Windesheimer Winzer nutzen heute die Kiesböden für exzellente Spätburgunder.

Der Teufel steckt tatsächlich im Detail. Sofern ein Weinglas noch als Detail gelten kann. Vor allem, wenn es von diesem Ausmass ist. Gläsermogul Georg J. Riedel hat bei einer Verkostung mal bemerkt: «Es gibt Spötter, die bezeichnen unser 1000-ccm-Grand-Cru-Burgunderglas als Goldfishbowl. Ihr Problem, wenn sie es bis zum Rand füllen.» Das bauchige Monsterglas, das an diesem Hochsommertag im Windesheimer Weingut Lindenhof zur Degustation bereitsteht, stammt nicht aus der österreichischen Riedel-Manufaktur und umfasst den Wein auch nur bis zur breitesten Stelle im hauchdünnwandigen Kelch. «Grosse Burgunder brauchen eine grosse Oberfläche», sagt Martin Reimann und wirbelt die rubinrote Pfütze vorsichtig gegen den Uhrzeigersinn durch das Kristallglas. So kämen sie mit viel Luft in Kontakt und könnten ihre Aromen von leicht getoastetem Holz bis hin zur Waldhimbeere entfalten.

Mit seinem Ergebnis des 2011er Spätburgunders «R» bin ich ebenso einverstanden wie der Inhaber und Kellermeister des hundert Jahre alten Familienweinguts selbst. Ein Hauch von Thymian, Lederschuh und ein Spritzer Grapefruit bahnen sich den Duftpfad in die Nase. Auch der folgende 2013er Frühburgunder Reserve versprüht ein Parfüm, das blindverkostet schwer von manchem Pinot aus dem Burgund hätte unterschieden werden können. «Frühburgunder ist nur eine Spielerei von mir. Er entzerrt die Arbeitsspitze bei der Ernte, weil er früher gelesen wird», grinst Reimann später beim Grillen, während er eine Schalotten-Bratwurst auf dem Rost wendet. So ertragsinstabil diese Spätburgunder-Mutation auch ist, so hochpreisig seine anfälligen Frühchen durch den enormen Arbeitsaufwand im Endverbrauch liegen – für den 50-jährigen Winzermeister ist die wenig verbreitete Rebsorte «sexy»: «Betörendes Aroma bei weicheren Gerbstoffen im Vergleich zum Spätburgunder», meint er.

Pinot für Hellwache

Dass die roten Burgunder-Sorten von der Nahe erst ein paar Ausgeschlafene erreicht haben, juckt den Winzer kaum. Seine stehen auf der Weinkarte des Gourmet-Restaurants im unweiten Wellnesshotel «BollAnts». Oder werden in Weinführern wie «Gault & Millau» und «Eichelmann» diskutiert. Die sind längst darüber im Bild, dass der Lindenhof über nennenswerte Rieslinge der Grauschieferlage Schweppenhäuser Steyerberg hinaus kleine rote Mineralbomben aus verwittertem Sandstein und Küstensand des Tertiärs in der Einzellage Rosenberg vinifiziert. Trotz geeignetem Bodengefüge aus Sand-Lehm-Gemisch, durchzogen von Kiesadern, und sonnenreichem, regenarmem Kleinklima bildet ein halbes Dutzend nennenswerter Spätburgunder-Produzenten immer noch eine Diaspora in Windesheim.

Das Gros der Weinbaugemeinde am Ufer vom Nahe-Nebenfluss Guldenbach profiliert sich wie der Rest der 4000-Hektar-Weinregion über die weissen Sorten – Riesling, Grau- und Weissburgunder. «Hier machen die meisten Winzer einen Roten nur so nebenher», sagt Johannes Sinß, diplomierter Ingenieur für Weinbau und Önologie. Er und eine Handvoll Kollegen aus dem Dorf bilden in seinen Augen die «Burgunder-Enklave» von der Nahe. Natürlich rekrutiert sich die Weinkollektion bei Sinß nicht ausschliesslich aus der roten Sorte. Damit könnte man kaum den nächsten Winter überstehen. Aber neben Riesling und Grauburgunder stemmt sie ein Viertel des Sortiments. Johannes Sinß macht Ernst mit der Mission Pinot Noir. Er hat den Holzeinfluss noch weiter verschlankt. Seine burgundischen Barriques der Holzküferei François Frère oder die Stückfässer von Hösch sollen unterstützend zum Wein arbeiten. Wenig amüsiert zeigte sich Vater Sinß, als sein Nachwuchs 2010 auf traubeneigene Hefen umstellte. «Spontanvergärung ist extrem wild und eigen», erklärt der 29-Jährige, «sie kitzelt mehr heraus, wo der Wein gewachsen ist. Die Weine brauchen zwar länger, sich zu entfalten, aber am Ende brummen sie.»

Pinot und Wild-Burger

Mit Labradorhündin Frieda, die ungelogen drei Tennisbälle auf einmal in ihrer Schnauze unterbringt, fahren wir in die Weinberge zum alljährlichen Windesheimer Spektakel. «Wein im Wingert» präsentiert drei Gemeinschaftsstände, die Riesling und Burgunder ans Nahe-Volk verteilen. Wir haben freie Platzauswahl bei der Affenhitze. Die meisten kommen erst am kühleren Abend, wenn hundert Lichter und zuckende Laser die Rebfelder illuminieren. Im gelben Imbiss-Mobil «Forst Food» bereitet Jurist und Jäger Klaus Nieding schon mal Wildburger und Gourmet-Wildbratwürste vor. «Keine Massentierhaltung, keine Medikamentengabe, kein Schlachtstress. Und so schmecken die Happen auch», lässt der rhetorisch geschulte Fachanwalt für Bank- und Kapitalmarktrecht aus dem Innern des Food-Mobils wissen. Brennend interessiert, wie sich das Wildbret zum lokalen Spätburgunder schlägt, balanciere ich Würstchen und Burger zu einer der Festbänke. Im Probierglas schwimmt Sinß’ 2010er «R». Bevor Wein und Wildschwein-Delikatessen am Gaumen aufeinanderknallen, frage ich den Jungwinzer, ob es einen Spätburgunder-Stil aus Windesheimer Terroir gibt: «Zweifelsohne. Zupackende Kraft im Zusammenspiel mit Eleganz. Unser Spätburgunder springt einen nicht an. Er ruht in sich, ist alles andere als ein Poser.» Es ist wirklich nicht die typische Nase, wo man sofort die Ahr rausschnuppert. Man muss konzentriert hineinschnüffeln, sich einlassen, ihm Zeit geben. Dann belohnt die rote Flüssigkeit durch mineralische Nuancen, medizinische Anklänge, dazwischen Himbeere, frische Minze und Marzipan. Der Saft durchdringt die krosse Haut des Würstchens und harmonisiert den Wildgeschmack darunter.

Ob das ähnlich gut mit weiteren Spätburgundern aus dem Winzerdorf funktioniert, teste ich eine Holzbank weiter. Silke und Rainer Marx laden mit ihrem Reserve 2011 zum Vergleichstest. Dezentes Selbstbewusstsein klettert aus dem Glas. Auch hier geht es eher auf den Papillen rund: integriertes Holz, angenehmes Tanningerüst, ein Mix aus markanter Fruchtsäure, Lagerfeuer und Kräuterbeet – passt perfekt zum deftigen Wildburger. Ein Geisenheimer Klon hat kleine, aromenkonzentrierte Beeren für diesen Lagen-Burgunder entstehen lassen.

Alle Mann an Bord

Allerdings verursachen herrschende Hitze und Trockenheit dem Winzerpaar für den Jahrgang 2015 Kopfzerbrechen: «Den älteren Rebanlagen machen die extremen Temperaturen wegen der Wurzeltiefe nicht so viel Stress. Die holen sich Wasserreserven aus den untersten Bodenschichten», sagt Rainer Marx, «gefährdet sind die jüngeren Rebstöcke, deren flaches Wurzelwerk keine Feuchtigkeit mehr erreicht.» Katastrophal wäre es – sind sich die Winzerkollegen um den Holzklapptisch einig –, wenn jetzt anhaltende Regengüsse den ausgetrockneten Boden aufweichen würden. Also abwarten und weiter Rotwein aus Windesheim trinken.

Anhand von drei getesteten Spätburgunder-Talenten kann man schwerlich einen nationalen oder gar weltweiten Popularitätsschub für die «Rotweininsel Windesheim» heraufbeschwören. Martin Reimann ist eher glücklich über den Geheimtipp-Status: «Alles, was übervermarktet ist, wird ganz schnell langweilig. Wir besitzen den Reiz, nicht so perfekt in Szene gesetzt zu sein», bemerkt der Lindenhof-Besitzer, der inzwischen auch auf dem Fest aufgeschlagen ist, um Rote und Weisse aus der Winzergemeinde auszuschenken. Es sei unglaublich, wie die sich auf ein Ding in diesem Dorf geeinigt hätten, kommentiert ein Winzerkollege aus dem benachbarten Langenlonsheim den beneidenswerten Teamgeist. Der lässt viel Luft, vielleicht mal ein fetter roter Punkt auf der deutschen Weinlandkarte zu werden.

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