Carménère – 30 Jahre nach der Wiederentdeckung

Aus den Anden in die Welt

Text und Fotos: Miguel Zamorano

Aus purem Zufall stolperte im November 1994 ein französischer Rebexperte in Chile über eine Sorte, die lange als verschollen galt: Carménère. Die Traube war gemeinsam mit Cabernet & Co. über hundert Jahre zuvor aus Bordeaux ins Andenland gelangt. Von hier brach sie erneut auf, zu einer Reise, die sie zurück in die Alte Welt führte.

Wiederentdeckungen haben ihre Tücken. Sie bringen neue Erkenntnisse hervor, an denen sich jeder Neugierige erfreut. Und gerade das kann einen ganz schön vor Rätsel stellen.

November 1994: Als der französische Ampelograph Jean-Michel Boursiquot bei Viña Carmen im chilenischen Maipo-Tal den Carménère mitten in Merlot-Parzellen entdeckte, standen die Weinmacher des Andenlandes vor einem Dilemma. Lange waren sie dem Irrtum des «Merlot Chileno» aufgesessen. Sie hatten sich gewundert, dass dieser Merlot würziger und grüner daherkommt, als von der Sorte eigentlich gewohnt. Dass die Trauben in diesen Parzellen zudem bis zu einen Monat später reif wurden, hatte sie auch gewundert. Aber egal, der Wein schmeckte ja.

Mit der Lösung des Rätsels kamen nun neue Fragen auf: Wie ist der wiederentdeckte Carménère zu kultivieren, wann zu lesen und wie zu vinifizieren? Die Winzer mussten ja fast alles von vorne lernen. Auch mit dem Wissen, dass die Eigenschaften der Sorte nicht jeden Weinliebhaber begeistern. Etwa wegen der Pyrazine. Der Geruch von grüner Paprika bis hin zu grünem Blattwerk nimmt, wenn ungezähmt, komplett den Wein ein. Eine Folge dieses Zauderns: Viele Weinmacher verzichteten erstmal auf das Wort «Carménère» auf dem Etikett.

Über 30 Jahre später ist die Sorte aus dem Rebsortenspiegel des Andenlandes nicht mehr wegzudenken. Carménère ist heute das, was ­Malbec für Argentinien ist – Ikone und Identitätspfeiler einer Weinkultur, deren Einflüsse mittlerweile in die Alte Welt zurückreichen. Sogar in Rheinhessen findet man mittlerweile Carménère im Wingert.

Entblättern ist angesagt

Doch erstmal zurück nach Chile. Bei Clos de Luz im Almahue-Tal findet Weingutsleiter ­Ga­briel Edwards folgende Erklärung für den Erfolg der Sorte: «Wenn er gut gemacht ist, dann bringt Carménère sehr elegante und vielschichtige Weine hervor. Wir haben gelernt, dass die Pflanze ihre grüne Aromatik stark von der Wahl des Bodens abhängig macht.» Demnach bevorzugt Carménère tiefliegende Lehm- und Schieferböden. Edwards: «Die Traube ist sehr anfällig für Überreife.» Während der Wachstumsphase sollte die Pflanze daher einem gewissen Wasserstress ausgesetzt sein, damit das Blattwerk kaum oder wenig wächst. Und enorm viel Sonnenlicht benötigt sie, am besten müsse man die Blätter konsequent wegschneiden, fügt ­Nicolás Pérez hinzu. Der Önologe bei de ­Martino erklärt: «Wir haben gelernt, die Sorte mit moderatem Alkohol, guter Säurestruktur, phenolischer Reife und niedriger Pyrazin-Konzentration zu lesen.» Das sei der Trick, um einen guten Carménère zu machen.

Andere Häuser arbeiten biodynamisch. Bei Koyle etwa, einem der grossen Produzenten im Colchagua-Tal: «Wir setzen auf die Autoregulierung der Pflanze», erklärt der Önologe Rafael Bianchi. Eine konventionelle Bewirtschaftung führe zu einem zu starken Grünwuchs. Bianchi sieht die vergangenen 30 Jahre als Lernprozess: «Es war wichtig, dass wir von einer Position des Nichtwissens gestartet sind. Das hat uns angetrieben, die besten Bedingungen für unseren Carménère zu finden.» Bei Koyle sind das die vulkanischen Basalt-Böden ihrer Top-Cuvée Cerro Basalto G2.

Auch das Weingut Viu Manent hat mit dieser Art von Böden Erfahrungen gesammelt. Die Reben für die Cuvée Loma Blanca stammen von weissen Granit-Böden vulkanischen Ursprungs. Die Cuvée ist von einfachem, aber sehr anziehendem Charakter und verblüfft mit einer feinen, konzentrierten Saftigkeit. Gegenüber Cabernet Sauvignon hat die Sorte zudem einen entscheidenden Vorteil: Das Tannin ist sehr fein, von fast zarter Anmutung.

Im Veneto: Cabernet Italico

Und doch hat Carménère nicht das Zeug, als exklusives Aushängeschild des Andenlandes zu fungieren. Anders als man vermuten mag, fristet Chiles jüngster Beitrag zur Weinwelt eine Existenz im Schatten des Königs Cabernet Sauvignon. Von den knapp 124 000 Hektar (2023) werden 34 000 (28 Prozent) mit dieser Sorte kultiviert. Cabernet Sauvignon ist damit die am meisten angepflanzte Weintraube in Chile. Dagegen steht die Carménère-Rebe auf etwa 10 000 Hektar, fast acht Prozent, wie das chilenische Amt für Agrarpolitik in seiner jüngsten Statistik aufführt. Das ist immer noch die grösste Fläche dieser Sorte weltweit, je nach Schätzungen sind es 95 bis 98 Prozent der weltweiten Fläche.

Was auffällt: Die Verwechslung der Sorte mit einer anderen Traube hat so auch woanders stattgefunden. Etwa in Norditalien. Dorthin gelangten Bordeaux-Sorten in einem ähnlichen Zeitraum wie nach Südamerika, nämlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Und zeitgleich findet ein fast identischer Irrtum statt – hier hiess Carménère lange Zeit Cabernet Italico. Eine Verwechslung mit einem Elternteil der Sorte, die aus einer Kreuzung von Cabernet Franc und Cabernet Gros hervorging. Knapp 4000 Hektar wurden damit kultiviert, mittlerweile sind nur noch etwas mehr als zehn Prozent übrig geblieben. «Friuli, das Veneto und Trentino waren damit bepflanzt», erklärt Matteo Inama. Das gleichnamige Weingut Inama aus Verona macht auf über 85 Hektar vor allem Soave-Weissweine. Und dazu: Carménère und andere Bordeaux-Sorten.

Dass die Sorte lange Zeit als ein etwas komischer Merlot durchging, zaubert bei ­Matteo Inama ein schelmisches Grinsen ins Gesicht. «Ich gehe davon aus, dass die Kartons der Setzlinge auf ihrem Weg in die Neue Welt in Bordeaux falsch gelabelt wurden.» In Italien gäbe es derzeit sechs lokale Klone der Sorte, die ausschliesslich autochthon seien. Inamas Stossrichtung ist klar: «Wir arbeiten hier an einer europäischen Stilistik der Sorte.»

Matteo erklärt, wie es dazu kam, dass sie Anfang der 2000er-Jahre das Projekt Rotwein angingen. Matteos Vater mochte Amarone nicht, was für einen Winzer im Soave-Gebiet die erste Wahl gewesen wäre. Doch die Arbeit mit getrockneten Trauben war nicht sein Ding. Deshalb wich er westlich von Soave in den Colli Berici aus, um dort lokale Klone des Cabernet Italico zu pflanzen. Und zwar in der Lage San Lorenzo, die zu den Toprotweinlagen der ­Inama zählt, und aus der die Trauben für die drei Carménère-Weine stammen.

Nächster Halt: Rheinhessen

Dolgesheim liegt nicht in Chile und doch findet man in den Böden dieser rheinhessischen Gemeinde ideale Bedingungen. Hier hat Axel Seck gewartet, bis die Lage Schützenhütte frei wurde, und diese mit Carménère neu bepflanzt. «Ich habe die Sorte in Chile kennengelernt, als mein Sohn dort ein Praktikum machte.» Bis zu 30 Prozent Steigung weisen die Parzellen der Schützenhütte auf, die Böden sind aus Kalkmergel mit einer Lehm-Auflage, die Ausrichtung verläuft nach Süden. 2021 erntete Seck hier seinen ersten Jahrgang.

Bei der Arbeit mit der neuen Traubensorte kommt die Erfahrung des Weinguts Seck mit internationalen roten Sorten zum Vorschein: eine Maischezeit von drei bis fünf Wochen, Ausbau in gebrauchten Barriques aus mehreren Belegungen. Der Seck-Carménère mag Luft, er wirkt schlank und ist doch intensiv. Die Suche nach dem eigenen Stil ist noch nicht abgeschlossen. «Es dürften noch zehn Jahre ins Land gehen.»

Man kann, wenn man das so betrachtet, ins Schmunzeln geraten – Carménère aus Rheinhessen. Doch so komisch ist das alles gar nicht. Mittlerweile bauen Winzer aus dem schweizerischen Wallis Malbec an, Tempranillo und Sangiovese mit der Herkunftsangabe «Pfalz» auf der Flasche sind auch keine Seltenheit mehr. Warum also nicht auch Carménère aus Rheinhessen?

16 Kilometer südlich, in Bemersheim, geht Christian Peth ans Telefon und antwortet auf die Frage mit folgenden Worten: «Es macht Spass, Weine zu machen, die mithalten können mit denen aus anderen Teilen der Welt.»

Auch in Chile wurde der Betriebsleiter und Inhaber des Weinguts Peth-Wetz dazu inspiriert, während eines Praktikums bei Odfjell Vine­yards vor knapp 20 Jahren. Als er 2008 die Arbeit im Weingut anging, beschloss er, sich in der Nische der internationalen Sorten zu spezialisieren. Rückblickend war das die richtige Entscheidung. «Der Klimawandel schlägt voll zu, da ist es gut, Rebsorten zu haben, die mit der Wärme klarkommen.» Peth-Wetz’ Carménère folgt der Stilistik des Hauses, die sich mit Kraft und viel Holz schön über den Gaumen spannt. Rheinhessens Carménère goes New World.

Rückkehr zum Bordeaux-Blend

Zurück nach Chile. Ob die Sorte beim Transport falsch gelabelt wurde, ist mittlerweile nebensächlich. Unbewusst wurde Carménère in der Neuen Welt vor der Phylloxera gerettet, als diese Ende des 19. Jahrhunderts den Bordelaiser Weingarten dezimierte. Wie bei vielen anderen Sorten auch, hat sich diese Traube bis heute nicht davon erholt. In ihrer einstigen Heimat ist sie fast verschwunden. Nur noch die Châteaux Clerc Milon und Mouton Rothschild geben ihren Cuvées etwas Carménère bei.

Ihre Kraft als Verschnittpartner, der in der Cuvée hervorragende Ergebnisse zeigt, hat die chilenische Wiederentdeckung indes immer wieder bewiesen. «Die Sorte ergänzt auch sehr gut die Blends mit Cabernet Sauvignon», erklärt Gabriel Edwards von Clos de La Luz.

Bei Clos Apalta, dem Topweingut von Domaine Bournet Lapostolle im chilenischen Colchagua-Tal, wird diese Lehre in die Tat umgesetzt. Die Assemblage des Erstweins wird heute im Vergleich zu den Sorten Cabernet Sauvignon und Merlot mehrheitlich von Carménère dominiert. Die Rebstöcke stehen auf eigenen Wurzeln, nicht auf amerikanischen Unterlagen, und sind mittlerweile im Schnitt über 80 Jahre alt. Der Bordeaux-Blend hat somit hier, auf der anderen Seite der Welt, eine besondere Art des Revivals erlebt – auch dank des Carménère.


Viu Manent Valle de Colchagua El Incidente 2020

95 Punkte | 2025 bis 2033

85% Carménère, 15% Malbec. Feine dunkelfruchtige Nase, mit Aromen von dunkler Kirsche und Pflaumen, Minze und Eukalyptus, Weihrauch. Am Gaumen straffer Auftakt, das Frucht-Potpourri um einen saftigen Säurekern gewickelt. Eingebundenes Tannin.

49,95 Euro (2019) | weinhaus-paus.de

Weingut Seck Carménère trocken 2021

90 Punkte | 2025 bis 2030

Dunkelbeerige Aromen, feuchtes Erdreich, herbale Noten, Pyrazin und Lorbeerblatt. Der Gaumen zeigt einen fruchtigen Auftakt, mit geschliffenem Tannin und einer stützenden Säure ausgestattet. Die Sorte ist unverkennbar.

29,80 Euro | weingut-seck.de

Koyle DO Colchagua Los Lingues Vineyard Cerro Basalto Cuartel G2 2022

94 Punkte | 2025 bis 2032

Pyrazin, Küchengewürze, dunkle Brotrinde, schwarze Waldfrucht, wirkt mit mehr Luft delikater. Am Gaumen Anklänge von Kardamom, geprägt von einer feinen, saftigen und schlanken Struktur sowie stützender Säure.

33,90 € (2016) | chilewinetrading.com

 

Martino DO Valle del Maipo Carménère Legado 2021

93 Punkte | 2024 bis 2032

Brombeernoten, Cassis und Holzwür-ze, Anklänge von Oregano und Lorbeerblatt. Die Luft öffnet immer mehr das Bouquet. Am Gaumen dicht, nicht überladen, von eleganter, muskulöser Statur. Lakritze im Abgang, fast salzig.

14,90 € (2020) | koelner-weinkeller.de

 

Domaines Bournet-Lapostolle DO Apalta Clos Apalta 2021

96 Punkte | 2025 bis 2035

75% Carménère, 18% Cabernet Sauvignon, 7% Merlot. Lakritze und Tannenzapfen, rote Waldfrucht, Cassis und Brombeere. Delikat, anziehend. Die Pyrazine deuten sich an. Am Gaumen spielt der Wein die ganze Bouquet-Klaviatur – mit Tiefe und Dichte. Enorm.

109 Euro | tesdorpf.de

 

Inama Colli Berici DOC Carménère Carminium 2019

94 Punkte | 2025 bis 2030

Duftet verschwenderisch und fein nach herbalen Noten, es folgen schwarzer Pfeffer, Nelken und Weihrauch. Am Gaumen perfekte Wiedergabe der Aromatik, saftiger Ansatz gepaart mit sanfter Kraft. Lang, superb und grossartig.

28 Euro | superiore.de

 

Weingut Peth-Wetz Carménère Grand Vintage R 2022

91 Punkte | 2025 bis 2032

Kaffeebohnen, Edelschokolade, Kerzenwachs, Weihrauch, duftet intensiv und anziehend. Die dunkle Kirsche zeigt sich im Hintergrund. Am Gaumen ebenso reichhaltig wie kraftvoll, präsentiert eine satte Konzentration der Bouquet-Aromen. Feuerholz-Aromen im Abgang.

57 Euro | peth-wetz.com

 

Clos de Luz DO Cachapoal Carménère Luz 2021

94 Punkte | 2025 bis 2034

Komplexes Bouquet, Aromen von Waldfrüchten, Lorbeerblatt, Oregano, Pilzen und Eukalyptus. Am Gaumen perfekter Anschluss, von einer finessenreichen, schlanken und saftigen Struktur geprägt. Griffiges, feingeschliffenes Tannin. Viel Extrakt. Grossartige Länge.

Auf Anfrage | closdeluz.com

 

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