Vitiforst
Weshalb immer mehr Bäume in Weinbergen wachsen
Text und Fotos: Kaspar Keller
Niedrigere Temperaturen, mehr Wasserverfügbarkeit, bessere Nährstoffaufnahme. Wo früher einzelne Reben oder gar ganze Reihen wuchsen, pflanzen einige Weinbauern Bäume an. Was sind ihre Ideen, und was versprechen sie sich von den Bäumen? VINUM hat vier Weingüter mit vier unterschiedlichen Vitiforst-Systemen besucht.
Lavaux im Hochsommer: umgeben von einem Mosaik aus Reben, mit einem guten Jahrgang im Glas und einem traumhaften Blick über den Genfersee, wo die Abendsonne die französischen Alpen vergoldet. So lässt es sich leben, so als Mensch. Doch so idyllisch die Szene auf mich auch wirken mag, sie täuscht darüber hinweg, dass es nicht allen gleich ergeht wie mir. Angefangen bei den Weinbauern. Wie vielerorts war auch für jene, die zwischen Lausanne und Montreux Reben anbauen, das Jahr 2024 ein besonders anspruchsvolles. Zwar war der Frost am Genfersee weniger ein Thema, doch mit dem vielen Niederschlag stieg auch hier der Krankheitsdruck. Weil Blätter und Böden im Frühling stets von neuem durchnässt wurden, waren die Zeitfenster für das Spritzen von Fungiziden gegen den Falschen Mehltau sehr eng. Denn Kontaktmittel wie Kupfer, die im Bioweinbau erlaubt sind, behalten ihre Schutzfunktion nur bis zum nächsten Niederschlag. Biowinzer mussten folglich öfter ausrücken, da sie keine synthetischen Mittel nutzen können, die in die Pflanze eindringen und länger wirken. Zwar konnte der Jahrgang – vielerorts in kleineren Mengen – so ins Trockene gebracht werden, dafür litten die Böden. Denn je öfter man mit dem Traktor ausfahren muss und je nässer die Erde ist, desto höher ist die Bodenverdichtung.
Zudem reichert sich Kupfer im Boden an und gefährdet dort Organismen, die für die Reben wichtig sind. «Das Jahr 2024 war sehr schwierig. Aber es kann doch nicht sein, dass wir 15-mal spritzen müssen – oder gar 17-mal wie im Jahr 2021», sagt André Bélard. Der Winzer ist schon länger in der Region aktiv, doch der 2023er ist der erste Jahrgang, den er mit seiner neu gegründeten Domaine des Dryades abgefüllt hat. Er gehört zu einer Generation von Weinbauern, die nach neuen Lösungen suchen, um einen ökologischeren Weinbau zu betreiben. Eine Arbeitsweise, die einerseits die Biodiversität fördern und gleichzeitig dem Klimawandel die Stirn bieten soll. Aus diesem Grund hat Bélard Bäume zwischen die Reihen gepflanzt. Noch sind diese eher klein, doch in einigen Jahren dürften sie im Hochsommer Schatten spenden. Das ist hilfreich, denn bei Temperaturen ab 35 Grad Celsius schränkt die Rebe die Verdunstung ihrer Blätter ein, um sich vor dem Austrocknen zu schützen. Die Pflanze wechselt quasi in den Überlebensmodus und reduziert die Photosynthese.
André Bélard ist einer von immer mehr Weinbauern, die ihren Rebberg als Ökosystem sehen, das nicht am Ende der eigenen Parzelle aufhört. Basierend auf den Ideen der Agroforstwirtschaft erhoffen sie sich mit ihren sogenannten Vitiforst-Systemen nicht nur gesündere Böden, mehr Biodiversität und resilientere Reben, sondern auch eine bessere Qualität im Glas. Dies ist denn auch einer der Hauptunterschiede zwischen Agroforst und Vitiforst. Während ein Bauernbetrieb mit einer Reihe Apfelbäume zwischen den Getreidekulturen stets auch sein Angebot diversifizieren will, bleibt beim Thema Vitiforst der Wein – die Ausnahme bestätigt die Regel – stets im Zentrum. «Wir Winzer sind oftmals egoistisch, denn es geht uns nur um die Reben», sagt Linnéa Hauenstein mit einem Augenzwinkern. Sie forscht beim Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL) zum Einfluss von Bäumen im Weinberg. Und dieser geht weit über das unmittelbar Sichtbare wie den Schattenwurf hinaus: Die Magie spielt sich unter der Erdoberfläche ab. Eines der Ziele ist die Förderung von sogenannten Mykorrhizen, Symbiosen zwischen den Wurzeln von Bäumen und Pilzen. Doch die Forschung zu diesem «Wood Wide Web» – wie es der britische Pilzforscher Merlin Sheldrake in seinem Buch «Entangled Life» genannt hat – und dessen Einflüssen auf Rebe und Wein steckt noch in den Kinderschuhen. Trotzdem haben Erkenntnisse aus Vitiforst-Systemen das Potenzial, den Begriff des Terroirs nachhaltig zu verändern.
Die Sonne ist hinter dem französischen Jura abgetaucht, doch die Flasche ist noch nicht leer. Savoir-faire, Geologie und Mikroklima haben diesen Wein zu dem gemacht, was er ist. Und während ich mir nachschenke, stelle ich mir das Leben unter und zwischen den Reben dieses Calamins vor. Welchen Einfluss wohl diese Organismen hatten?