Sonoma Freestyle
Kalifornien setzt neue Akzente
Text: Thomas Vaterlaus, Foto: gettyimages / halbergman
Buntes «LGBTQIA+»-Feeling im ehemaligen Holzfäller-Städtchen Guerneville. Rooftop-Jazz und alternative Haute Cuisine im hippen Healdsburg. Wahrgewordene Visionen von regenerativem Wein-bau im küstennahen Hügelland. Pinots und Chardonnays mit salziger Meerbrise. Das Sonoma County hat Napa als wichtigsten Impuls-geber im kalifornischen Weinbau abgelöst. An und hinter der wilden Pazifikküste werden neue Lebens- und Anbauformen erprobt.
«Wir leben hier mit Schwarzbären, Kojoten, Pumas und Klapperschlangen. Handy-Empfang ist Glückssache. So lenkt uns nichts von unserer Mission einer aufbauenden Wein-Landwirtschaft und all den anderen wichtigen Dingen des Lebens ab», sagt der junge Winzer, der zu dem Team gehört, welches die McNab Ranch betreut, das Zentrum des Bonterra-Projektes im Mendocino County. Mit 378 Hektar ist es wohl noch immer das weltweit grösste biodynamisch bewirtschaftete Weingut, das heute nebst der Demeter- inzwischen auch über die ROC(Regenerative Organic Certified)-Zertifizierung verfügt und für einen Weinbau in einem ganzheitlichen Ökosystem mit maximaler Artenvielfalt und Tierhaltung steht. Mehr als 60 Jahre sind vergangen, seit der Holzhändler Barney Fetzer mit seinen elf Kindern in diesen abgelegenen, paradiesischen Winkel am Übergang zwischen Sonoma County und Mendocino gezogen ist und hier unter anderem die ehemalige McNab-Schafsfarm zu einem visionären Weingut umgestaltet hat. Ja, die Fetzer-Familie stand schon lange bevor der Ausdruck «Sustainability» in Gefahr geraten ist, zu Tode zitiert zu werden, für biologischen Anbau, aber auch für ökologische Weinbau-Architektur und erneuerbare Energie. Was Barney Fetzer damals an Visionen und Ideen gesät hat, ist im Sonoma County auf fruchtbaren Boden gestossen. Obwohl Fetzers Weingut mehrfach verkauft worden ist und heute zur international agierenden Concha y Toro-Gruppe gehört, zeigt sich die McNab Ranch mehr denn je als ein Garten Eden, der von einer jungen Winzer-Generation sorgsam gepflegt wird und Besucher aus aller Welt inspiriert. Die Kraft dieses Ortes scheint so stark, dass er seinen Betreuern, die sich stolz als «Stewards of the Land» bezeichnen, den Weg weist. Kleine Bäche mäandern zwischen den Rebbergen, überall blühen Sträucher und Bäume und flinke Echsen flitzen über die sonnengegerbten Holzfassaden der Scheunen.
Das spektakulär schöne Sonoma County mit der wilden Pazifikküste, der Costal Range mit den tausendjährigen Redwood-Mammutbäumen in den nebligen Seitentälern und dem östlich daran anschliessenden, wärmeren Hügelland mit seinen Weiden, Wiesen und Rebbergen, in dem früher Farmer, Viehzüchter und Holzfäller den Ton angaben, hat in den letzten Jahren besondere Menschen angezogen. Ausgeprägte Individualisten mit visionären Ideen. Musiker, Komponisten, Schriftsteller, Künstler, Esoteriker, Cannabis-Produzenten, Cider- und Ginmakers, Baristas, Küchenchefs, Chocolatiers, Gastgeber und viele andere mehr. Und immer noch schwebt über dieser Szenerie ein wenig die Aura der Surfer und Hippies der 60er Jahre. Der Aufschwung von Sonoma hat auch mit den immer augenfälliger werdenden strukturellen Problemen der Stadt San Francisco zu tun, deren einst überaus lebendiges Zentrum immer mehr zur Geisterstadt zu werden droht. Viele Frisco-People haben deshalb die Stadt verlassen und sind nordwärts gezogen, vor allem ins weitläufig-idyllische Sonoma County, das jedem genug Platz bietet, um sich zu entfalten. Gleichzeitig ist Sonoma immer mehr zum Impulsgeber der kalifornischen Weinbauszene geworden und hat diesbezüglich Napa abgelöst. Ohne Frage: Mit dem «Napa Cab» sicherte sich Kalifornien einen privilegierten Platz in der internationalen Weinwelt. Doch in den letzten Jahren hat sich die Szenerie gewandelt.
Littorai ist heute kein klassisches Weingut mehr, sondern ein paradiesisches Stück Land, das unter anderem auch Trauben hervorbringt.
Der Chardonnay, mehr auf Frische getrimmt als früher, erlebt eine Renaissance und noch spektakulärer erscheint der Aufschwung des Pinot Noir, der heute hinter dem Cabernet bereits die am zweithäufigsten angebaute Sorte in Kalifornien ist. Und exakt diese beiden burgundischen Leitsorten finden in pazifiknahen Subregionen wie Russian River Valley, Sonoma Coast oder Fort Ross-Seaview ihr ideales Terroir. Dabei haben sich die Winzer hier auf der Suche nach mehr Eleganz und Frische mit ihren Neuanpflanzungen immer mehr der kühlen, feuchten und sehr windigen Pazifikküste angenähert. In Weingütern wie Flowers Vineyards oder Hirsch Vineyards wachsen die Reben keine fünf Kilometer mehr von der Küste entfernt und haben teilweise freie Sicht auf den Pazifik. Es sind charismatische Persönlichkeiten, die dieses wilde Stück Land für den Weinbau erschlossen haben. David Hirsch etwa wuchs in der New Yorker Bronx auf und kam 1980 an die Sonoma Coast. Er kaufte Land an einem Hügelzug über der Küste bei Fort Ross, wo zuvor ein Buschfeuer gewütet hatte. Eigentlich wollte er das Land, wo seit ewigen Zeiten Redwoods gewachsen waren, wieder aufforsten. Doch dann entschied er sich Pinot Noir anzupflanzen. Als er sein Weinprojekt startete, gab es auf seinem Estate keine Elektrizität, kein Wasser und die Naturstrasse war nach Regen nicht passierbar. Heute zählt der Hirsch-Vineyard längst zu den Toplagen in Sonoma, genauso wie andere, nach ihren Schöpfern benannte Rebberge in Küstennähe wie Heintz oder Rochioli.
Sonoma-Pinot ist anders
Es liegt auf der Hand, dass die Chardonnays und Pinots aus dem Sonoma County mit den Crus aus dem Burgund verglichen werden. Viele Winzer der neuen Generation haben zudem bei führenden Domänen im Burgund gearbeitet und nennen das Burgund ihre wichtigste Inspirationsquelle. Und doch haben die Sonoma-Winzer der Versuchung widerstanden, die Originale aus dem Burgund kopieren zu wollen. Während die Sonoma-Chardonnays, die in den letzten 20 Jahren merklich an Fett, Eichenwürze und auch Alkoholpower verloren haben, tendenziell schwieriger von den Crus der Côte de Beaune zu unterscheiden sind, zeigen die Pinot Noir von der Pazifikküste durchaus eine eigene Stilistik. Im Gegensatz zum Burgund erscheinen sie trotz der beerigen Frucht, die sie gemeinsam haben, eine Spur kraftvoller. Zudem zeigen sie weniger erdige, dafür mehr salzige Noten. Der nahe Pazifik scheint vielen Sonoma-Pinot, die nahe der Küste reifen, durchaus einen eigenständigen Charakter zu verleihen. Schon vor 30 Jahren haben führende Sonoma-Weingüter wie Kistler Vineyards oder Williams Selyem Winery damit begonnen, Einzellagen nach burgundischem Vorbild zu selektionieren. Heute sind diese Rebbergs-Abfüllungen die Flaggschiff-Weine aller führenden Domänen, wobei es selbst für Kenner der kalifornischen Szene schwierig bis unmöglich ist, in Blindverkostungen herauszufinden, in welchem Rebberg ein solcher Single Vineyard Chardonnay oder Pinot gewachsen ist.
Ein Grossteil der führenden Weingüter im Sonoma County beteiligt sich heute am California Sustainable Winegrowing Program, dessen Kodex in 15 Kapiteln über 200 Kriterien auflistet. Eine weitgehend autarke Energieversorgung mittels Photovoltaikanlagen ist heute bei vielen Topgütern ebenso Standard wie der sparsame Umgang mit Wasser (das für die Weinproduktion verwendete Wasser wird in Pflanzenkläranlagen natürlich wiederaufbereitet und anschliessend zur Bewässerung der Reben verwendet). Der Katalog an Sustainable-Massnahmen überrascht mitunter auch mit verblüffend originellen Ideen. Zum Beispiel die neue «Flugwaffe», die kurz vor der Erntezeit in manchen Gütern eingesetzt wird, um die reifen Trauben vor Vogelfrass zu schützen: Die Firma Airstrike Bird Control setzt trainierte Falken ein, welche die Rebberge vor hungrigen Vögeln schützen. Dabei kann ein einzelner Falke mehrere Hektar schützen, wobei meist allein das Kreisen des Falken am Himmel genügt, um andere Vögel fernzuhalten. Wagt es trotzdem mal einer, sich den Trauben zu nähern, setzt der Falke zu seinem berüchtigten Sturzflug an, bei dem er Spitzengeschwindigkeiten von bis zu 350 Stundenkilometer erreicht. So machen die Falken den Einsatz von fragwürdigen Plastiknetzen oder Schreckschussanlagen überflüssig.
Der ewige Gärtner
Kein anderes Weingut vereint ausserordentliche Qualität mit Burgundersorten an der Sonoma Coast und grösstmöglich regenerative Landwirtschaft in so beeindruckender Weise wie das Littorai-Projekt. Ted Lemon studierte ab 1981 Önologie an der Universität von Dijon und arbeitete für führende Burgunder-Domänen wie Guy Roulot, Georges Roumier oder Dujac, bevor er nach Kalifornien zurückkehrte und zusammen mit seiner Frau Heidi ab 1992 eigene Weine in die Flasche brachte. Im Jahr 2008 realisierten sie mit dem Bau ihrer Farm und Weinkellerei, Gold Ridge Estate genannt, die letzte Etappe ihrer Vision. Wer Ted Lemon, im typischen Farmer-Outfit und mit breitem Strohhut auf dem Kopf, auf einem Rundgang durch seine Farm begleitet, wobei er stets von seinen Hunden eskortiert wird, sieht keinen Winzer mehr, sondern einen Landwirt im ursprünglichsten Sinn des Wortes, auf den die etwas pathetisch anmutende Bezeichnung «Steward of the Land» zutrifft wie auf kaum einen anderen Winzer.
Folglich spricht er weniger über seine Reben, sondern mehr über seinen Kompost, die Komplexität des Baumschnittes, seine Baumschule für Nutzpflanzen, die grosse Bedeutung der Hecken entlang der Strässchen, Wege und Rebberge und die Perfektionierung der Vegetation entlang der kleinen Bäche mit heimischen Gewächsen, inklusive Redwood-Bäumen. Schnell wird dem Besucher klar, dass dies hier kein Weingut im klassischen Sinn mehr ist, sondern ein komplex ineinander verwobenes Stück Natur, das nebst anderem auch Trauben hervorbringt. Aber nicht zu viele, denn von den zwölf Hektar, welche diese Modell-Farm umfasst, besteht der grösste Teil aus Weideland, Wald und Nutzgärten, nur auf gerade mal drei Hektar wachsen Reben. Es gibt kaum einen anderen Ort, wo die Ideen von Permakultur, Agroforst und regenerativer Landwirtschaft so nachhaltig verwoben werden wie hier.