Willkommen im Phänomen Saint-Émilion! Wo jeder Wein ein Grand Cru ist. Wo weltbekannte Weingüter erbittert um die Klassifizierung streiten. Und wo die Weine über Jahre immer fetter geworden sind. Aber jetzt schlägt das Pendel zurück. Zurück zu mehr Finesse und Eleganz. Also höchste Zeit für einen Besuch in diesem fast zu schönen Weinstädtchen, das gerade eine Zeitenwende erlebt.
Es gibt Sprüche in der Weinszene, die mit wenigen Worten sehr viel über eine Region aussagen. Einer dieser Sprüche lautet: «Es ist einfacher, einen schlechten Wein aus Saint-Émilion zu verkaufen als einen guten Wein aus einer weniger bekannten Appellation in Bordeaux.» Diese Worte umschreiben den Nimbus von Saint-Émilion ziemlich treffend, denn die Region Saint-Émilion ist für ihre erstklassigen Rotweine weltbekannt. 1999 als «Kulturlandschaft» in die Liste des UNESCO Weltkulturerbes aufgenommen liegt die Appellation Saint-Émilion im Libournais an der sogenannten Rive Droite. Kaum mehr bekannt ist heute, dass in Saint-Émilion bis zum Ende des 19. Jahrhunderts mehr Weisswein als Rotwein produziert wurde. Dies änderte sich, als die Nachfrage nach Rotwein stieg und die Weinproduzenten erkannten, dass sowohl Klima als auch Böden besonders gut geeignet waren für den Anbau von Merlot und Cabernet Franc.
Die Appellation Saint-Émilion erstreckt sich über neun Gemeinden, wobei vielen Bordeauxbegeisterten neben dem Städtchen Saint-Émilion selbst, wo viele der renommierten Weingüter ansässig sind, auch Ortsnamen wie Saint-Christophe-des-Bardes und Saint-Etienne-de-Lisse geläufig sein dürften. In diesen Gemeinden befinden sich nämlich einige aufstrebende Weingüter, die zu fairen Preisen hervorragende Qualitäten bieten.
Auf Kalk, Lehm und Sand gebaut
Das Terroir von Saint-Émilion lässt sich in drei Bereiche unterteilen. Da ist zum einen das Kalkplateau selbst, das Rückgrat der Region. Hier treffen die Reben nach einer nur dünnen Erdschicht rasch auf den harten Kalksteinfels und müssen darin mit fein verästeltem Wurzelwerk nach Nährstoffen suchen. Der Fels trägt insbesondere im Sommer, wenn das im Asterienkalkstein enthaltene Wasser durch kapillares Aufsteigen wie ein Schwamm zu wirken beginnt, aktiv zur Wasserversorgung der Reben bei. Die Weine vom Plateau bestechen durch ihre unverkennbare Mineralität.
Dann gibt es die sogenannten «Coteaux», Lagen an den Hängen des Kalksteinplateaus, die den Reben eine hervorragende Sonneneinstrahlung bieten und eine frühe Traubenreifung begünstigen. Die «Coteaux» sind von ton- und kalkhaltigen Molasse-Böden geprägt, einem weichen Gestein, das von den Wurzeln der Reben gut durchdrungen werden kann. Der Lehm im Unterboden sorgt für Kühle und eine ausreichende Wasserversorgung im Sommer, das Abfliessen von Regenwasser verhindert in feuchten Perioden eine Überversorgung der Reben mit Wasser.
Schliesslich gibt es die Ebene am Fusse der Hänge. Hier dominieren Sand- und Lehmböden, die eher warm sind und das Traubengut früh reifen lassen. Die Wurzeln der Reben dringen hier tiefer in den Untergrund ein, um in den unteren Bodenschichten nach Feuchtigkeit und Nährstoffen suchen zu können. In den besten Lagen der Ebene findet man stark lehmhaltige Unterböden, welche im Sommer einen zu starken Wasserstress verhindern.
Das Gerangel um die Klassifizierung
Ein kontroverser Aspekt von Saint-Émilion ist das sogenannte «Classement de Saint-Émilion», eine Klassifizierung der Weingüter, die erstmals im Jahr 1955 erstellt und seither – nicht ganz in der geplanten Zehnjahresfrist – sieben Mal revidiert wurde. Zu Revisionen der Klassifizierung kam es in den Jahren 1958, 1969, 1986, 1996, 2006, 2012 und zuletzt 2022, wobei das System spätestens seit der Einstufung von 2006, die zu langwierigen rechtlichen Auseinandersetzungen führte, hitzig diskutiert wird. Die ursprünglich als Orientierungshilfe für Weinliebhaber gedachte Qualitäts-Rangierung wurde nämlich im März 2007 durch das Verwaltungsgericht Bordeaux für ungültig erklärt. Doch schon im November desselben Jahres hat der französische Staatsrat die Klassifizierung wieder in Kraft gesetzt. Acht Weingüter legten dagegen Berufung ein, so dass die Klassifizierung im Juli 2008 erneut vom Verwaltungsgericht Bordeaux aufgehoben wurde, was den französischen Senat dazu zwang, die eigentlich nicht mehr gültige Klassifizierung aus dem Jahr 1996 um weitere drei Jahre bis 2009 zu verlängern. Die Annullierung der Klassifizierung durch das Verwaltungsgericht Bordeaux wurde im März 2009 vom Appellationshof von Bordeaux und im Dezember 2011 durch den Staatsrat bestätigt. Dennoch blieb es den acht Gütern, die 2006 von der verbesserten Einstufung profitiert hätten, erlaubt, die Bezeichnungen «Grand Cru Classé» (Châteaus Bellefont-Belcier, Destieux, Fleur Cardinale, Grand Corbin, Grand Corbin-Despagne und Monbousquet) respektive «Premier Grand Cru Classé» (Châteaus Pavie-Macquin und Troplong-Mondot) auf den Etiketten zu verwenden. Aktiv mit der Bezeichnung zu werben wurde ihnen hingegen untersagt.
Als Folge auf dieses Hickhack wurde beschlossen, für die Klassifizierung von 2012 eine neue Vorgehensweise einzuführen und die Bewertung der Weingüter durch die nationale INAO durchführen zu lassen. Diese passte die Kriterien für die Klassifizierung an, was seither nicht nur hinter vorgehaltener Hand kritisiert wird. Im September 2012 wurde die neue Klassifizierung von der INAO veröffentlicht und im November desselben Jahres durch die Publikation im Staatsblatt bestätigt. Doch auch dieses Mal kam es zu rechtlichen Streitereien, so dass die Klassifizierung von 2012 im Jahr 2013 mehrmals aufgrund von Fehlern und Verstössen gegen die Vorschriften für ungültig erklärt wurde. Drei Winzer, denen die Klassifizierung aberkannt worden war, erhoben Klage wegen unrechtmässiger Interessenvertretung. Sie beanstandeten, dass Hubert de Boüard, der Besitzer von Château Angélus und Vorsitzender der Klassifizierungskommission, befangen sei. Im Oktober 2021 verurteilte ein Gericht de Boüard zu einer Geldstrafe in Höhe von mehreren 10 000 Euro.
Ein Kommen und Gehen
Während sich viele Weinproduzenten mit der komplizierten Situation abgefunden haben und nach einer besseren Einstufung streben, indem sie ihre Betriebe auf die veränderten Bedingungen der Klassifizierung ausrichten, stellen andere die Kriterien und den Prozess der Klassifikation grundsätzlich in Frage oder treten sogar freiwillig aus der Klassifizierung aus. So kam es im Sommer 2021 zum Eklat, als die beiden seit der Einführung der Klassifizierung als Premier Grands Crus Classés «A» eingestuften Châteaus Ausone und Cheval Blanc verkündeten, dass sie zukünftig auf diese Auszeichnung verzichten wollen. Pauline Vauthier von Ausone und Pierre Lurton von Cheval Blanc begründen den Austritt damit, dass die Balance zwischen Kriterien wie Terroir und Weinqualität sowie neuen Anforderungen wie Önotourismus oder einem Auftritt in sozialen Medien nicht stimmig sei.
Diese beiden gewichtigen Austritte sollten jedoch noch nicht genug sein. Im Sommer 2022 folgte mit Château Angelus ein weiterer Abgang, so dass heute das frisch aufgestiegene Château Figeac (seit 2022 offiziell Grand Crus Classé «A») und das der Familie Perse gehörende Château Pavie, ebenfalls Grand Cru Classé «A» die offizielle Klassifikation von Saint-Émilion anführen.
Daneben gibt es zwölf Premier Grand Cru Classé Weingüter mit den klingenden Namen Château Beau-Séjour Bécot, Château Beauséjour (Héritiers Duffau-Lagarrosse), Château Bélair-Monange, Château Canon, Château Canon la Gaffelière, Clos Fourtet, La Mondotte, Château Larcis Ducasse, Château Pavie Macquin, Château Troplong Mondot, Château Trottevieille und Château Valandraud. Auf der dritten Stufe folgen dann 71 Châteaus, die sich als «Grand Cru Classé» bezeichnen dürfen, was deren potenziellen Marktwert natürlich erhöht. Auf der untersten Stufe schliesslich finden sich die «Saint-Émilion Grand Cru». In dieser Kategorie finden sich Weine, deren Auszeichnung, ganz im Gegensatz zu den «Grand Crus» aus dem Burgund, nicht mehr sagt, als dass sie im entsprechenden geografischen Raum nach den Qualitätsvorgaben der AOC produziert worden ist. Kurz: Ein Saint-Émilion Grand Cru ist das Einfachste, ein Burgunder Grand Cru dagegen das Nobelste, was die jeweilige Region zu bieten hat – so viel zur Logik hinter den französischen Ursprungsbezeichnungen.
Ein neuer, frischer Stil
Wendet man sich vom Klassifizierungs-Hickhack ab und konzentriert man sich auf die Weine und deren Eigenschaften, kann man getrost feststellen: Saint-Émilion hat die Frische wiederentdeckt. Nach dem schrittweisen Rückzug von Robert Parker, dessen für den Markterfolg hochrelevante Bewertungen zu sogenannt «parkerisierten Weinen» führten, haben sich viele Weingüter einem frischeren, eleganteren Stil zugewendet. Vorbei sind die Zeiten fetter, durch Neuholz dominierter Trinkmarmelade-Weine, von denen man nach einem halben Glas bereits genug hat. Heute setzen die meisten Saint-Émilion-Winzer wieder auf Eleganz und Finesse. Man sucht nach einem Gleichgewicht zwischen reifen Fruchtaromen, feinen Tanninen und einer lebendigen Säure. Das moderne Saint-Émilion produziert seit einigen Jahren wieder ungemein ansprechende Weine, die bereits in ihrer Jugend grosse Trinkfreude bieten und dennoch ein hervorragendes Alterungspotenzial aufweisen. Wer also während der Parker-Jahre einen Bogen um die Weine aus Saint-Émilion gemacht hat, sollte über seinen Schatten springen und den jüngsten Jahrgängen dieser Region eine Chance geben; positive Überraschungen sind garantiert.
Dynamik dank viel Biodynamik
Nicht zuletzt gehört die Region Saint-Émilion auch zu den Trendsettern in Sachen Bio und Biodynamik. Eine der Leuchtfiguren dieser Entwicklung ist sicherlich Alain Moueix, der ehemalige Besitzer von Château Fonroque in Saint-Émilion und Château Mazeyres in Pomerol. Schon in den 1990er Jahren experimentierte er mit biodynamischen Methoden und beeinflusste eine ganze Generation von jungen Winzern, die es ihm heute gleichtun. Diese zunehmende Umstellung auf biologische oder biodynamische Praktiken zeigt das wachsende Bewusstsein für ökologischen Weinbau und Nachhaltigkeit in Bordeaux. Zwar hört man noch immer oft, dass Bordeaux im Vergleich zum Burgund wenig Wert auf Bio lege, doch in Tat und Wahrheit steht Bordeaux generell und Saint-Émilion im Speziellen dem Burgund in nichts nach. Fährt man heute durch die Rebberge von Saint-Émilion, trifft man nur noch ganz selten auf kahle, tote Parzellen. Im Gegenteil: Es kreucht und fleucht zwischen den Reben, verschiedenste Sträucher, Gräser, Kräuter und Blumen gedeihen, bieten Insekten, Vögeln und Amphibien ein wahres Paradies. Schritt für Schritt, Jahr für Jahr ist die Biodiversität in die Rebberge von Saint-Émilion zurückgekehrt, und zusammen mit der wiederentdeckten Präferenz für Frische und Eleganz glänzen die Weine von Saint-Émilion heute heller als je zuvor.
Der Bio-Vorreiter
Alain Moueix, der Biodynamie-Pionier von Château Fonroque
Er begann schon in den 1990er Jahren mit biodynamischen Methoden zu experimentieren, und 2002 war sein Château Fonroque das erste als Saint Émilion Grand Cru Classé eingestufte Weingut, das die offizielle Bio-Zertifikation erhielt. Seine Weine waren schon immer schlank, vertikal und nie überladen – standen zu Parkers Zeiten daher etwas im Schatten der fetten Brummer –, und wurden in Verkostungen oft übersehen. Seiner Linie stets treu geblieben und seit 2021 mit neuen Kelleranlagen, gehört Fonroque zu den ehrlichsten Vertretern eines Saint-Émilion-Stils, der Frische über Extraktion stellt.
Der Frucht-Künstler
David Suire, der Revolutionär auf Château Laroque
Über 15 Jahre hinweg hat er sich unter anderem bei renommierten Nachbarn wie Château Beauséjour Duffau-Lagarrosse (1er Grand Cru Classé) und Château Larcis Ducasse einen Namen gemacht. Der ausgebildete Önologe und Sohn eines Winzers kennt die unterschiedlichen Ausprägungen des Kalkstein-Terroirs von Saint-Émilion wie seine Westentasche und hat es in wenigen Jahren geschafft, dem grössten Weingut der Appellation auch eine qualitative Grösse zu verleihen. Wer Weine mag, die über Floralität, Würze, delikate Frucht und salzige Mineralik verfügen, sollte sich einen Château Laroque ab dem Jahrgang 2016 gönnen.
Die jungen Wilden
Karl und Yann Todeschini, die jungen Wilden von Château Mangot
1992 hat ihr Vater zum ersten Mal einen eigenen Wein abgefüllt, dreissig Jahre später, 2022, wurde das Weingut verdient in den Kreis der Grand Cru Classés aufgenommen. Die Rebberge liegen in unmittelbarer Nähe von Silvio Denz’ Faugère und Peby-Faugère an den Hängen des Kalkstein-Plateaus. Karl hat Weinbau und Önologie studiert und unter anderem auf Château Beauséjour Bécot und Château Ausone gearbeitet. Yann ist vielseitig begabt und kreativer Kopf des Gespanns. Die Brüder, hoch motiviert, talentiert und experimentierfreudig, produzieren nach biodynamischen Methoden einen eleganten und fruchtbetonten Wein, der über Tannine verfügt, die man sonst nur in deutlich teureren Weinen findet.
Der Brückenbauer
Jean-Christophe Meyrou von Vignobles K
ean-Christophe Meyrou von Vignobles K studierte Betriebswirtschaft und übernahm später die Leitung mehrerer renommierter Weingüter, darunter Château Le Gay und Château La Violette. Seit 2014 verantwortet er die Châteaus von Peter Kwok (Vignobles K), zu denen Château Haut-Brisson, Château Tour Saint-Christophe, Château La Patache und seit 2018 auch Château Bellefont Belcier gehören. Letzteres liegt zwischen Pavie, Larcis Ducasse und Tertre Roteboeuf auf einem der besten Terroirs der Appellation. Mit seinem grossen Wissen, einem guten Netzwerk, Charme und einem top motivierten Team beweist Jean-Christophe Meyrou als Brückenbauer zwischen China und Bordeaux, dass ausländische Investitionen eine lokale Tradition durchaus bereichern können.
Der Perfektionist
François Despagne von Château Grand Corbin-Despagne
Er leitet das seit sieben Generationen zur selben Familie gehörende Weingut, und die achte Generation ist bereits in Sicht, denn Louis, François’ Sohn, arbeitet ebenfalls im Betrieb. Seit 2019 werden die Weine biodynamisch produziert und François Despagne ist Mitglied verschiedener Organisationen, die sich für nachhaltigen Weinbau und den Erhalt des Terroirs engagieren, was ihm in der Weinwelt viel Anerkennung eingebracht hat. Grand Corbin-Despagne ist ein ausgezeichneter Vertreter eines klassischen, eleganten Saint-Émilion-Stils. Seit der Umstellung auf biodynamische Methoden haben die Weine nochmals an Präzision dazugewonnen. Sie bieten bereits in der Jugend viel Trinkspass und altern dennoch ausgezeichnet.
Die CabernetFranc-Anhängerin
Marie-Laure Latore leitet das im Besitz von Olivier Decelle stehende Château Jean-Faure
Das Gut liegt nur einen Steinwurf von Château Cheval-Blanc entfernt und verfügt über einen atypisch hohen Anteil von 65 Prozent Cabernet Franc, was spannend ist – auch im Hinblick auf den Klimawandel. Marie-Laure ist Ingenieurin für Landwirtschaft und Önologie und stammt aus einer Winzerfamilie. Sie setzt voll auf biodynamische Prinzipien und liess Jean-Faure mit dem Biodyvin-Label zertifizieren, dem auch renommierte Weinbetriebe wie Clos de Tart, Domaine Leflaive und die Domaine de la Romanée Conti im Burgund oder die Châteaus Fonroque, Mazeyres, Grand Corbin-Despagne, Ferrière, La Lagune, Palmer und Pontet-Canet im Bordeaux angehören.