Topweine aus Deutschland und der Schweiz werden mehrheitlich zu früh getrunken. Denn erst nach fünf und mehr Jahren zeigen sie ihr ganzes Potenzial. Das zeigt das VINUM-Profipanel, welches von zehn repräsentativen Weinen die Jahrgänge 2020, 2015 und 2010 verkostet hat. Das überraschendste Fazit: Die verkosteten Rotweine erreichten die ideale Trinkreife tendenziell früher als die Weissen.
«Junge Weine trinken ist für mich Arbeit, so richtig Genuss bereiten nur gereifte Gewächse. Darum kommen bei mir zuhause selten Weine auf den Tisch, die nicht mindestenszehn Jahre auf dem Buckel haben, bei Bordeaux braucht’s dann noch ein paar Jährchen mehr…», sagte Bordeaux-Papst René Gabriel im grossen VINUM-Interview in der November-Ausgabe des letzten Jahres. Die Resultate unseres Profipanels zum Thema «Trinkreife» mit zehn repräsentativen Topweinen, von denen jeweils die Jahrgänge 2020, 2015 und 2010 verkostet worden sind, bestätigen die These von René Gabriel voll und ganz. Nicht nur die Crus aus Bordeaux und Burgund gewinnen mit der Reife an trinkiger Finesse und Klasse, dasselbe gilt für Spitzenweine aus Deutschland und der Schweiz. So wurde zwar den zehn Weinen des Jahrgangs 2020, die vielerorts noch im Handel erhältlich sind, viel Qualität und Entwicklungspotenzial attestiert, doch die Durchschnittsnote aller 2020er war mit 17.8 Punkten doch deutlich tiefer als jene der Jahrgänge 2015 (18.25 Punkte) und 2010 (18.15 Punkte). Diese Resultate deuten darauf hin, dass deutsche und helvetische Spitzenweine im Zeitfenster von acht bis zwölf Jahren am meisten Genuss bereiten, und zwar unabhängig davon, ob es sich um Weissweine oder Rotweine handelt. Denn während bei den vier Rotweinen im Panel der Jahrgang 2015 die beste Durchschnittsnote erzielte, schnitten bei den Weissweinen die Jahrgänge 2010 und 2015 ex aequo sehr gut ab, während die weissen 2020er doch deutlich zurückblieben. Zum guten Abschneiden der gereiften Weissen trugen übrigens nicht nur die beiden Top-Rieslinge aus Deutschland bei, von denen bekannt ist, dass sie Flaschenreife brauchen, um ihr ganzes Potenzial zu entfalten, sondern genauso der vorzügliche Sauvignon Blanc Fumé aus der Pfalz und der Chasselas aus dem waadtländischen Dézaley.
Früher reif und doch sehr lagerfähig!
Leider hat die Kultur des Geniessens reifer Weine in den letzten Jahren deutlich abgenommen. «Früh abfüllen, früh verkaufen, früh trinken» heisst heute die Devise. «Wenn ich mir vorstelle, wie viele von den 2020er-Gewächsen aus dieser Probe schon getrunken worden sind, tut das richtig weh», resümierte etwa der Koch und Weinraritäten-Liebhaber Beat Caduff. Auch die Weinmedien und die Gastronomie haben zu dieser Entwicklung beigetragen. Die generelle Message: Durch die Klimaerwärmung und das stetig gewachsene Know-how der Winzer kämen heute mehrheitlich Weine in die Flaschen, die schon im jugendlichen Stadium sehr viel Genuss bereiteten. Und gerade bei den Burgundersorten oder dem Riesling schwärmen viele Verkoster oder Sommeliers explizit von der edlen Reduktion in den Jungweinen mit Noten wie Feuerstein oder Streichhölzer. Ohne Zweifel haben grosse Weine mit edler Reduktion einen ganz besonderen Charme, doch bereiten sie wirklich grösstmöglichen Genuss, gerade auch als Essensbegleiter? Sicher ist: In ein paar Jahren zeigen sie andere, in den meisten Fällen noch faszinierendere Facetten. Vor allem aber mehr animierende Trinkigkeit. «Erst wenn die Weine mit dem Alter gelassener und ruhiger werden und Frucht, Alkohol, Säure und Gerbstoff zu einem harmonischen Gefüge finden, stellt sich für mich das höchste aller Weingefühle ein. So wie in dieser Probe», lautete das Resümee des Weinhändlers Thomas Hari aus Spiez. Das besondere Phänomen: Es sind explizit auch die Weine, die heuteschon kurz nach der Abfüllung viel Genuss bereiten, die mit zunehmender Reife noch an Qualität dazugewinnen
Weniger «Reifes» in der Gastronomie
Früher war es vor allem die Gastronomie, welche die unnachahmlichen Qualitäten gereifter Weine als Essensbegleiter zelebrierte, mit Weinkarten, in denen viele Weine mit einer Tiefe von zehn, zwanzig oder mehr Jahrgängen vertreten waren. Viele Geniesser haben in solchen Lokalen oder aber bei Raritätenverkostungen die Magie reifer Weine kennengelernt und haben später in ihren privaten Weinkellern von ihren Lieblingsweinen ebenfalls Jahrgang um Jahrgang eingelagert. Das Verfolgen eines Weines über Jahre und Jahrzehnte hinweg durch regelmässiges Verkosten und Geniessen und das Ermitteln des individuell besten Genussfensters ist das grösste von vielen Abenteuern, das einem der Wein vermitteln kann. Nur: Die Rolle der Gastronomie hat in dieser Hinsicht stetig nachgelassen. Lokale mit einer breiten Auswahl reifer Weine auf der Karte sterben langsam aus. Institutionen wie der «Schwarze Adler» in Vogtsburg-Oberbergen am Kaiserstuhl, mit mehr als 2000 trinkreifen Weinen auf der Karte, müssten eigentlich unter Artenschutz gestellt werden. Von den grossen Bordeaux-Châteaux ist hier gegenwärtig der Jahrgang 2010 der jüngste auf der Karte. Aber eben nicht nur das. Grau- und Weissburgunder aus eigenem Anbau sind zurück bis 1986 vertreten und auch an reifen Topgewächsen anderer deutscher Spitzen-Weingüter mangelt es nicht. Doch wie gesagt: Lokale wie dieses sind heute Ausnahmen. Wer Topweine aus Deutschland oder der Schweiz trinkreif geniessen möchte, muss selber dafür sorgen, dass diese in den privaten Weinkeller gelangen und dort der optimalen Trinkreife entgegenschlummern.
Das Highlight dieser Probe war eindeutig der Jahrgang 2015, der gegenwärtig fast schon perfekten Genuss bereitet. Dabei waren die Prognosen anfangs merklich vorsichtiger gewesen. Den tendenziell warmen Jahren wie 2015 oder auch 2018 oder 2022 trauen heute viele Fachleute keinen Marathonlauf mehr zu. Und könnten sich mit dieser Einschätzung gewaltig irren. Ein gutes Thema für ein künftiges VINUM-Profipanel.
«Eine spannende Probe, die meine These stützt, dass nach fünf Jahren Reife ein erstes Trinkfenster aufgeht, bei Rot- wie auch bei Weissweinen. Bestätigt hat sich auch, dass 2015 ein grandioses Jahr ist. Auch 2010 steht sehr gut da. Die Pinots enttäuschten ein wenig. Cayas war von A bis Z top, Sassi Grossi eine Bank, Mosel 2015 schlicht grandios und der Sauvignon Blanc aus Deutschland grosses Kino.»
Adrian van Velsen Autor und Blogger, Windisch
«Die beiden Länder Schweiz und Deutschland sind auch beim Thema Wein grundverschieden. Mit der mineralischen Brillanz von Riesling und Silvaner können Chasselas und Petite Arvine meiner Meinung nach nicht mithalten. Auch mit zunehmendem Alter bleibt dieser Eindruck. Anders sieht es bei den Roten aus für mich, vor allem beim Merlot aus dem Tessin. Da haben die Eidgenossen die Nase vorne.»
Harald Scholl Chefredaktor VINUM Deutschland, München (D)
«Was für eine hohe Durchschnittsqualität über alle 30 Weine, bei einigen Gewächsen stellt sich ein ‹Gänsehaut›-Effekt ein. Dies gilt vor allem für die ältesten Weine des Jahrgangs 2010. Es ist schon verblüffend, wie frisch sie immer noch sind. Man spürt auch die Weiterentwicklung in den Gütern. Bei manchen hat seit 2010 ein Generationswechsel stattgefunden, andere haben einfach immer weiter dazugelernt.»
Beat Caduff Gastgeber und Consultant, Zürich
«Die drei Rotweine aus der Schweiz bewegten sich auf sehr hohem Niveau. Die 2020er haben durchwegs noch nicht ihr volles Genusspotenzial erreicht. Obwohl viele meinen, dass Topweine heute schon im frühen Stadium Spass machen, so ist das Resümee dieser Probe, dass es sich immer lohnt, ein paar Jahre zu warten. Das Entwicklungspotenzial ist auch ein Zeichen für die Grösse der verkosteten Weine.»
Ivan Barbic MW Weinhändler und Consultant, Thalwil
Die Jury
Von links nach rechts
Adrian van Velsen
Weinjournalist und Blogger in Windisch
Sein Favorit: Syrah Cayas 2015 von Jean-René Germanier (CH)
Harald Scholl
Chefredaktor VINUM Deutschland in München
Sein Favorit: Wehlener Sonnenuhr Riesling Spätlese* 2015 vom Weingut Selbach Oster (D)
Miriam Grischott
Weinvermittlerin und Consultant in Küsnacht
Ihr Favorit: Merlot «Sassi Grossi» 2010 von Gialdi Vini (CH)
Miguel Zamorano
Redaktor VINUM in Zürich
Sein Favorit: Syrah Cayas 2015 von Jean-René Germanier (CH)
Timothy Magnus
Weinhändler in Zürich
Sein Favorit: Wehlener Sonnenuhr Riesling Spätlese* 2010 vom Weingut Selbach Oster (D)
Stefan Iseli
Sommelier und Gastgeber in Zürich
Sein Favorit: Sauvignon Blanc Fumé trocken 2010 vom Weingut Oliver Zeter (D)
Thomas Vaterlaus
Chefredaktor VINUM in Zürich
Sein Favorit: Kiedrich Gräfenberg Riesling trocken GG 2015 vom Weingut Robert Weil (D)
Thomas Hari
Weinhändler und Kaffeeröster in Spiez
Sein Favorit: Silvaner «L» 2015 vom Weingut Rainer Sauer (D)
Jean-René Germanier
Winzer in Vétroz
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Beat Caduff
Gastgeber und Consultant in Zürich
Sein Favorit: Pinot Noir 2020 von Martha und Daniel Gantenbein (CH)
Ivan Barbic
MW, Weinhändler und Consultant in Wädenswil
Sein Favorit: Syrah Cayas 2015 von Jean-René Germanier (CH)
Paul Liversedge
MW, Weinhändler und Consultant in Vico Morcote
Sein Favorit: Silvaner «L» 2010 vom Weingut Rainer Sauer (D)