Neue Lage

Interview mit Steffen Christmann, Präsident des VDP

Text: Harald Scholl, Fotos: Anna Ziegler

Man kann ohne Zweifel von einem Erfolgskonzept sprechen. Mit der Einführung der Klassifikation von Weinbergslagen in die vier Qualitätsstufen Gutswein, Ortswein, Erste Lage und Grosse Lage ist dem VDP eine Schärfung des deutschen Weinprofils gelungen. Um auf der Höhe der Zeit zu bleiben, will der Verband die Einteilung der einzelnen Lagen auf den Prüfstand stellen. Was in Teilen der Weinszene für Unruhe gesorgt hat.

Steffen Christmann, wie würden Sie das aktuelle System der VDP.Lagen-Klassifikation jemandem, der völlig unbedarft ist – vielleicht weil er nicht aus Deutschland kommt –, erklären?

Unsere Grundidee ist tatsächlich einfach. Je präziser die Herkunft bezeichnet wird, umso individueller und authentischer sollte der Wein sein. Wir glauben, dass die Menschen es auch ganz gut verstehen, dass ein Wein, der aus mehreren Ländern der Europäischen Union stammt, weniger Authentizität und Qualität hat als ein «Deutscher Wein» oder ein «Vin de France». Und dann kommen darüber hinaus regionale Bezeichnungen, wie zum Beispiel «Pfalz» oder «Baden». Es wird noch individueller, wenn zusätzlich ein Ort draufsteht. Und noch individueller wird es, wenn eine Lage wie «Kirchenstück» dazukommt. Und da müssen wir dann klären, ob es sich um eine Erste Lage – analog zum Premier Cru – oder um eine Grosse Lage – analog zum Grand Cru – handelt.

Also, dass es vom Grossen, Allgemeinen, immer fokussierter, immer kleiner und enger wird?

Richtig. Diese engere Bezeichnung ergibt aber nur dann einen Sinn, wenn der Wein auch anders schmeckt als andere Weine. Es hat dagegen keinen Sinn, auf ein Produkt, das exakt gleich schmeckt wie andere, fünf verschiedene Namen zu schreiben. Das macht den deutschen Wein oft schwer verständlich. Wir vom VDP haben damals die Diskussion über die Frage, was ein Grosses Gewächs ist, in Gang gesetzt. Nachdem das weitestgehend geklärt ist, scheint es nach 25 Jahren Grosses Gewächs an der Zeit, zu analysieren. Was wurden in diesen Jahren für Erfahrungen gesammelt? Wir wissen, dass es riesige Veränderungen gegeben hat. Nicht nur, weil sich das Klima verändert hat, sondern auch, weil wir inzwischen wissen, dass die Persönlichkeit des Winzers oder der Winzerin ein massgeblicher Bestandteil für jedes Grosse Gewächs ist. Und so sind wir darauf gekommen, dass wir die Reputation der Weinberge und Lagen dokumentieren wollen und so unsere eigenen Einstufungen auf den Prüfstand stellen können. Wobei uns völlig klar ist, dass nicht alles exakt so bleibt, wie es im Augenblick ist. Im Wesentlichen sind wir schon davon überzeugt, dass es überwiegend richtig ist, was wir gemacht haben. Dennoch: So ein Prozess der Überprüfung läuft nur ab mit der klaren Massgabe, dass nicht alles in Stein gemeisselt ist. Aber ebenso wenig, dass alles neu gemacht wird.

Es soll also noch stärker als bisher das burgundische Klassifikationssystem mit ganz eng gefassten Lagenzuschnitten umgesetzt werden?

Es geht bei einer Klassifikation in Burgund gar nicht um den exakten Zuschnitt oder das Potenzial einer Lage, sondern es geht viel stärker um die erworbene Reputation. Und diese Wertschätzung manifestiert sich dann in der Klassifikation. Dass natürlich eine hohe Reputation nur in einem hochkarätigen Weinberg jemals erreichbar ist, dürfte klar sein. Aber anders als im Burgund denken wir, dass es immer wieder ein Auf und Ab geben kann. Wir denken, es muss alle fünf oder zehn Jahre evaluiert werden und dann gegebenenfalls dazu führen, Lagen auf- oder absteigen zu lassen. Und auch Neuanlagen müssen die Chance haben, nach oben aufzusteigen.

Sollen Dinge wie Geologie, Topografie und Kleinklima ebenfalls in die Bewertung einfliessen?

Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass wir darauf heute keine so eindeutige Antwort mehr geben können wie früher. Ein Kriterium im Rheingau war zum Beispiel die Frage, wann erreichen die Trauben 80 Grad Oechsle? Das ist heute völlig irrelevant aus meiner Sicht, weil ein solches Kriterium in neun von zehn Jahren problemlos zu erreichen ist. Heute ist es doch eher die Frage, ob die Trauben Ende August gelesen werden oder der Winzer sich Zeit lassen kann bis Ende Oktober. Aber ich würde mir nicht zutrauen, daraus etwas abzuleiten, zu sagen, der Weinberg, der erst Ende Oktober reif wird, ist schlechter als der Weinberg, der schon Ende August oder Anfang September die reifen Trauben hat. Die vergleichbare Frage stellt sich auch beim Boden. Ist der Winninger Uhlen wertvoller, weil er blauen Schiefer hat, gegenüber dem roten Schiefer im Erdener Prälat? Ist Buntsandsteinboden wertvoller als Kalkmergel? Also ich sehe da keine qualitative Aussage. Und selbst bei der Topografie: Wenn man an der Mosel zu Hause ist, kann man sagen, dass ein flacher Nordhang nicht so gut ist wie ein steiler Südhang, das kann ich hundertprozentig nachvollziehen. In einer Region wie der Pfalz spielt dies aber keine Rolle. Da haben die Moselwinzer ein bisschen gelacht, als ich auf der Mitgliederversammlung gesagt habe, dass es für uns Pfälzer kein Thema ist. Ich habe dann vorgeschlagen Château Lafite zu besuchen. Wenn sie von dort zurückkommen mit der Bestätigung, dass die Steilheit der Lage ein wesentliches Kriterium für die Bonität des Terroirs ist, können wir im VDP überlegen, das in allen Gebieten aufzunehmen (lacht). Spass beiseite: Trotzdem werden die einzelnen Regionalverbände die Möglichkeit haben, die Gewichtung zwischen den einzelnen Qualitätsparametern nach ihren Vorstellungen umzusetzen. Da geben wir als Bundesvorstand nur gewisse Leitplanken vor.

Diese Episode bringt mich zur Frage: Wie hoch ist denn die Bereitschaft, da mitzugehen – den Faktor Mensch und die Qualität im Glas stärker in die Lagenklassifikation einzubeziehen?

Die Akzeptanz im Verband ist grundsätzlich sehr hoch, wir haben bis jetzt alle diesbezüglichen Entscheidungen einstimmig getroffen. Das ist umso wichtiger, wenn wir diese Diskussion um die Lagenbewertung in der deutschen Weinwirtschaft insgesamt bestehen wollen. Wenn wir ernsthaft mit einem Winzer diskutieren über die Frage, ob ein Weinberg als Erste oder Grosse Lage eingestuft wird, dann dürfen wir uns nicht irgendeine Rücksichtnahme auferlegen. Dann müssen wir auch bereit sein, wirklich schonungslos unsere eigene Einstufung auf den Prüfstand zu stellen. Haben die Produkte der letzten zehn Jahre die Klassifikation gerechtfertigt? Rechtfertigt das Ansehen im Markt die Klassifikation? Das Interessante ist, dass die Kollegen das wirklich verstehen und dass sie das insgesamt mittragen.



Das heisst in der Konsequenz aber auch, dass es für den einen oder anderen Kollegen bedeuten kann, dass seine Lage abgestuft wird. Dass aus der Grossen Lage eine Erste Lage wird. Was ja wirtschaftliche Auswirkungen haben kann.

Die ökonomische Bedeutung einer Lage manifestiert sich wesentlich in der Internationalität. Wie viele Exportmärkte interessieren sich für dieses Produkt? Und auf wie vielen Märkten der Welt wird dieser Wein gekauft und verkauft? Was gesteht der Markt dem Winzer, dem Wein, dem Weinberg in Summe für einen Preis zu? Wie bewerten die internationalen Experten die Weine und damit die Weinberge? Wie ist die nationale Sicht auf dieses Thema? Das sind nach unserer Überzeugung wesentliche Kriterien. Wir wollen keine neue Lagenklassifikation, wie teilweise zu lesen war. Wir bewerten und überprüfen unsere bisherigen Einstufungen, mehr nicht, aber auch nicht weniger. Die Abstufung in Grosse Lage und Erste Lage bleibt eins zu eins. Die Frage, die beantwortet werden muss, ist: Welche Lage bleibt in welcher Etage? Das muss im VDP ergebnisoffen besprochen werden.

Dann besteht doch auch die Möglichkeit, dass es mehr Grosse Lagen und Erste Lagen geben wird – wenn es wirklich ergebnisoffen ist?

Was wir daher brauchen – ich bin fest davon überzeugt – ist eine prozentuale Obergrenze der Fläche, die in den jeweiligen Stufen klassifiziert wird. Erst wenn wir die Begrenzung haben, fängt die Qualitätsdiskussion ernsthaft an. Einfach weil wir gezwungen werden, wirklich nur das Beste zu klassifizieren. Das war vielleicht manchmal das Problem im VDP, dass es nicht so leicht ist, einem Kollegen zu sagen: «So passt das nicht, das ist keine Grosse Lage.» Und dass man es auch nicht musste, weil es ja im Prinzip egal war, wie gross die klassifizierte Fläche insgesamt wird. In ganz Deutschland sollte unserer Vorstellung nach der Anteil der Grossen Lagen nicht über drei oder fünf Prozent der Gesamtfläche sein. Und die Fläche der Ersten Lagen sollte nicht über fünf oder acht Prozent liegen. So dass wir in der Summe vielleicht maximal zehn Prozent der Rebfläche Deutschlands klassifiziert haben. Selbstverständlich kann man dann noch darüber nachdenken, ob die Pfalz oder Rheinhessen vielleicht mit einem geringeren prozentualen Anteil im Spiel sind als die Mosel oder der Rheingau. Die aus natürlichen Gründen keine Möglichkeit zum Wachsen haben.

Wird diese Neubewertung mit einhergehender Mengenbeschränkung der Flächen nicht auch dazu führen, dass der VDP vielleicht das eine oder andere Mitglied verlieren wird?

Wir verlieren ja, wenn man es nüchtern betrachtet, schon immer Mitglieder. Ich bin seit 2007, als ich das Amt von Michael Prinz zu Salm-Salm übernommen habe, Präsident des VDP. Da waren wir 170 Mitglieder. Von den damals 170 Mitgliedern sind 70 oder 80 ausgeschieden, aber über 100 sind seitdem dazugekommen. Wir werden immer wieder Mitglieder verlieren. Das ist ein natürlicher Prozess. Ich glaube jetzt noch nicht mal unbedingt, dass sich das durch unsere Neubewertung ändern wird. Ich denke, dass alle Betriebe, die es jetzt im VDP hält und die qualitativ weiter mit an Bord sind, sich auch in irgendeiner Form in der Klassifikation wiederfinden werden.

Wie weit ist denn der Prozess im Verband vorangeschritten? Was würden Sie sagen: Wo stehen Sie aktuell?

Wir sind da in einem wirklich flotten Prozess. Der Startschuss und das «Go!» sind auf der Bundesmitgliederversammlung im Juni gegeben worden. Wir treffen uns jetzt Ende August und legen im Bundesvorstand die regionale Gewichtung fest. Die nehmen wir in Anführungszeichen «ab». Jedes Gebiet macht sich seine Gedanken, präsentiert seine Vorstellung, wie in seinem Bereich zwischen Grosser Lage und Erster Lage unterschieden wird. Und dann ist vorgesehen, dass das vom Start der Evaluation Ende August bis zur Klausursitzung des VDP.Bundesvorstands im Januar 2024 komplett einmal durchgelaufen sein soll. Und dann wollen wir für jedes Gebiet festlegen, wo die Schwelle zwischen Erster und Grosser Lage ist. Womit wir auch zur Frage kommen, an welcher Einstufung sich etwas ändern soll. Etwa wenn es nach oben gehen soll, was ja auch passieren kann. Es kann ja auch Erste Lagen geben, die zu Grossen Lagen werden. Das soll aber nur passieren, wenn es die Erzeuger wirklich wollen. Wenn es nach oben gehen soll, gibt es drei Jahre Bewährungszeit, in der die Betriebe die Chance haben zu beweisen, dass sie auf dem richtigen Weg sind. Und dann wird nach drei Jahren evaluiert. Wenn es dann nicht gerechtfertigt ist, steigt die Lage nicht auf. Wir werden ein erstes Ergebnis dieser Bewertungen noch im Frühjahr nächsten Jahres haben. Also ein relativ konzentrierter, straffer Prozess. Wir haben die Hoffnung, dass wir bis zum Sommer 2024 eine Meinungsbildung zum Thema Lagenklassifikation im deutschen Weinbau insgesamt haben. Um so an die Bundesregierung und die Länderregierungen herantreten zu können, damit das Ganze auch in Weinrecht umgesetzt wird.

Jetzt mal der Blick in die Kristallkugel – oder in die Weinflasche, um im Bild zu bleiben. Was schätzen Sie, wie viel Prozent der Lagenklassifikation wird sich verändern? Reden wir über ein, fünf oder zehn Prozent, die neu bewertet werden?

Das ist schwierig zu sagen. Ich glaube schon, dass es mehr sein wird als ein Prozent. Und dass es zehn Prozent werden, das glaube ich auch wiederum eher nicht. Irgendwo dazwischen wird sich das einpendeln. Wir müssen ein Gefühl dafür entwickeln, wie wir das einordnen, wenn wir wirklich sehen, was da ist. So oder so werden wir dann das erste Mal eine nachvollziehbare Grundlage haben, um diese Gespräche führen zu können. Und es werden ganz andere Gespräche sein. Im Moment läuft das mehr à la «Na ja, ich habe so das Gefühl, es ist so und so». Wir werden dann klar sagen können, da haben wir die Lage falsch eingeschätzt, weil das sind dann halt doch bloss zwei-, dreitausend Flaschen in der Preisklasse um die 25 Euro, die aus dieser Lage kommen. Und die Bewertungen liegen auch eher so im oberen 80er-Bereich, vielleicht Anfang der 90er-Punkte und nicht im Bereich von 92 bis 98 Punkten, je nachdem. Und das passt irgendwie nicht zu einer Grossen Lage.

Mit dem aktuellen Vorstoss in Sachen Neubewertung der Lagen übernimmt der VDP eine klare Führungsrolle innerhalb der deutschen Weinbranche…

Ich glaube, dass es für den VDP seit seiner Gründung im Jahr 1910 eigentlich immer die Idee war, nicht ein «closed shop» zu sein und nicht nur für sich die notwendigen Fragen zu klären. Man wollte immer auch ein Stück weit Vorbild sein dafür, wohin sich der deutsche Wein insgesamt weiterentwickeln kann. Mit unterschiedlicher Fortune über die Jahre hat man das auch ganz gut hinbekommen. Nehmen Sie nur die Themen Nachhaltigkeit oder Produktionsweise. Wenn wir alle unsere Mitgliedsbetriebe dazu bringen, über sich nachzudenken und sich selbst den Spiegel vorzuhalten, hat das eine Wirkung auf viele andere Weinbaubetriebe. Ich glaube, auch hier setzen wir durchaus Massstäbe. Das ist auch verständlich, als Verein mit 200 Mitgliedern haben wir es immer ein bisschen leichter zu agieren. Wir können sehr viel schneller zeigen, dass es – um ein Beispiel zu nennen – durchaus auch in der Steillage möglich ist, nachhaltig zu wirtschaften. Viele Dinge, die man am Anfang mit Skepsis betrachtet hat – wie etwa unser Grosses Gewächs, das wir Mitte der 1990er Jahre eingeführt haben –, wurden zu Beginn für eine total skurrile Idee gehalten, und es wurde knallhart gesagt: «Das funktioniert niemals!» Hat es aber doch, wie wir heute wissen. Und wird auch von Nicht-VDP-Betrieben gerne genutzt.

Eine Frage, die sich an das Thema Qualität unmittelbar anschliesst: Muss deutscher Wein teurer werden?

Auf jeden Fall! Er muss nicht unbedingt in der Spitze teurer werden. Die Spitzenweine werden automatisch dann teurer, wenn die Nachfrage gross genug ist. So wie bei allen Spitzenweinen auf dieser Welt. Aber auch insgesamt, der gesamte deutsche Wein sollte teurer werden. Wir wissen, dass zu viel Wein bei uns für 2,99 Euro oder 3,49 Euro erzeugt wird. Meiner Meinung nach muss das anders werden, weil in welchem Bereich der Welt würde man sagen, Deutschland ist dafür zuständig, das günstigste Produkt herzustellen? Auf die Idee, wenn wir jetzt mal über Spiegelreflexkameras sprechen, dass wir in Deutschland die billigen Modelle am besten herstellen würden, sagt doch jeder Konsument: Blödsinn. Wenn sich in diesem Bereich überhaupt etwas hält, dann ist es Leica. Und die sind garantiert nicht bekannt für Billigprodukte. Oder wenn wir uns den Automobilsektor ansehen, dann sind wir auch nicht diejenigen, die Autos herstellen in der Preisklasse zwischen 10 000 und 20 000 Euro. Wir sind spezialisiert auf die Autos, die hochwertig und hochpreisig hergestellt werden. So ist es eigentlich bei allen Produkten, die aus Deutschland kommen. Bloss beim Wein haben wir den Drang, auch das herstellen zu wollen, was am billigsten ist. Aber wir haben Rahmenbedingungen, die gerade auch die Winzer dazu zwingen, sich immer stärker zu ändern. Wenn ich allein die Arbeitskosten für die Saisonarbeiter in den letzten sieben, acht Jahren sehe, kann es gar nicht funktionieren, hierzulande billigen Wein zu produzieren. Wenn wir all diese Dinge zusammennehmen, ist es doch illusorisch, darauf zu setzen, dass wir weiterhin diejenigen sein können, die billige Weine produzieren und mit denen konkurrieren, die die billigsten Produkte in der Welt herstellen. Unser Weg sollte anders aussehen. Hin zur Qualität, die einen wirtschaftlich vernünftigen Preis erzielt.

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