Es kann einem ganz schön auf den Wecker gehen, das Elsass der Weihnachtsmärkte und der massentouristisch bis in den Nanobereich ausgeschlachteten Weinstrasse. Riquewihr oder Ribeauvillé an einem Frühlingswochenende? Ein Horror für jeden Weinfreak, der sich etwas Individualität und Authentizität wünscht und sich dann in einer Menschenmasse wiederfindet, die durch Fachwerk- und Blumenkisten-Orgien geschleust wird. Und das gastronomische Angebot in den pseudorustikalen Weinstuben vervollständigt die Tristesse. Verkochtes Choucroute Garnie mit Würsten, Speck und Rippchen und ein überreifer, plumper Riesling als Karikatur seiner selbst sind hier gewissermassen Standard. Also: Warum soll man sich sowas antun? Nun vielleicht, weil es eben nicht ein Elsass gibt, sondern mindestens drei verschiedene. Die weinkulinarische Tradition, die in den Ausflugslokalen zur Karikatur verkommt, kann absolut grossartig sein, wenn sie mit präzisem Qualitätsdenken und besten Zutaten umgesetzt wird. Nirgends wird das klassische Elsass gastronomisch, aber auch ganzheitlich kulturell so eindrucksvoll zelebriert wie nun schon über Generationen hinweg von der Familie Haeberlin in der «Auberge de l’Ill». Ganz egal wie viele Sterne dieses Lokal nun hat, kein anderes vereint in dieser Weise das Beste einer Region. Im veganen Zeitalter mögen Gerichte wie Gänseleberterrine oder Froschterrine Mousseline «Paul Haeberlin» etwas aus der Zeit gefallen anmuten, aber gerade die zeitlose Finesse dieser Speisen fern aller Trends und Moden macht diese Auberge so einzigartig. Klar, dass auch die Weinkarte die grossen Klassiker dieser Region vereint, in einer Jahrgangstiefe, wie sie kaum mehr anderswo anzutreffen ist. So sind hier Elsässer Mariagen mit perfekt ausgereiften Crus von Häusern wie Domaine Trimbach, Zind-Humbrecht oder Domaine Weinbach möglich.
Von der Sorte zum Terroir
Doch es gibt noch ein anderes Elsass. Seit über 20 Jahren feilt hier eine Gruppe von Winzern an einer neuen Weinkultur. Die Region setzt nicht nur mit ihrem hohen Anteil an kontrolliert biologisch oder biodynamisch hergestellten Weinen nachhaltige Standards. Neben dem Jura hat sich auch das Elsass als Vorreiter der Naturweinherstellung etabliert. Winzer wie Jean-Pierre Frick, Patrick Meyer (Domaine Julien Meyer) oder Christian Binner gehören auch international zu den Aushängeschildern dieser Bewegung. Und der neue Spirit hat eine ganze Reihe von Weinen hervorgebracht, die es bisher im Elsass nicht gab. Schon als VINUM vor genau zehn Jahren ein umfassendes Naturwein-Spezial publizierte, war der höchstbewertete Wein ein Elsässer, nämlich der Zellberg 1997 Pinot Gris de Voile vom Weingut Julien Meyer. Obwohl dieser ungeschwefelte Wein zum Zeitpunkt der Verkostung schon über 15 Jahre alt war, betörte er mit einer glasklaren Frische, Komplexität und Lebendigkeit. Und selbst heute, nach 25 Jahren in der Flasche, ist er nach wie vor ein Weltklasse-Wein, der beim Verkosten oder noch besser beim Geniessen ganz besondere Emotionen auslöst. Ohne Zweifel haben die Maischegärung und der Verzicht auf jegliche Zusätze (auch Schwefel) den Elsässer Weinen ein völlig neues sensorisches Spektrum eröffnet. Christian Binner fasst es wie folgt zusammen: «Konventionell hergestellte Weine sind zwar im önologischen Sinn des Wortes nie schlecht, manchmal vielleicht sogar besser als ein natürlicher Wein, der die Freiheit hat, seinen eigenen Weg zu gehen. Und doch sind es ganz besonders die naturbelassenen Weine, die eine besondere Vibration, Energie und Emotion hervorrufen können. Und genau das wollen wir, Weine, die Emotionen wecken. Trotz anfänglicher Bedenken haben wir es versucht und auch geschafft! Unsere Weine, die seit fast 20 Jahren frei sind, bestätigen unsere Idee, dass der Wald auf natürliche Weise schön ist, ohne dass der Mensch sich einmischen muss.»
«Koventionell hergestellte Weine sind zwar im önologischen Sinn des Wortes nie schlecht, manchmal vielleicht sogar besser als ein natürlicher Wein, der die Freiheit hat, seinen eigenen Weg zu gehen. Und doch sind es ganz besonders die naturbelassenen Weine, die eine besondere Vibration, Energie und Emotion hervorrufen können.»
Waren die ersten Naturweine aus dem Elsass noch sortenreine Gewächse, so gewinnt seit einigen Jahren zusehends die Assemblage oder der Mischsatz an Bedeutung. Die Naturwinzer wollen mit dieser Entwicklung auch an die Ursprünge des Weinbaus im Elsass anknüpfen. «Historisch gesehen standen im Elsass, wie in allen anderen französischen Weinbauregionen auch, ganz die Herkunft und das Terroir im Vordergrund. Die Rebsorten hingegen wurden nicht erwähnt. Erst in der Zeit des germanischen Einflusses wurde diese Praktik verdrängt und die aromatischen Rebsorten wurden stärker in den Vordergrund gerückt», betont Christian Binner. Mit dem Bekenntnis zur Assemblage wird der Sortencharakter zurückgenommen und die Terroirdimension gestärkt. So nähert sich das Elsass wieder dem historischen Modell des französischen Weinbaus an. Übrigens: Die Naturweine haben dem Elsass auch eine dringend notwendige Verjüngungskur auf verschiedenen Ebenen beschert. Eine jugendliche Generation hat mit ihnen das Elsass neu entdeckt. Zudem dringen diese Weine in neue kulinarische Sphären vor. Kaum jemand wird den Le Scarabée Skin Touch von Christian Binner oder den Orange Riesling von Kumpf & Meyer zu Froschschenkeln oder Gänseleber geniessen, dann eher schon zu Wurzelgemüse mit Knoblauchcrème oder Kartoffelschmarrn mit Sellerie und schwarzen Trüffeln. Und das ist gut so
Es war eine Verkostungsanordnung wie aus dem Lehrbuch. Allein schon was die Farbe der Weine anbelangt. Die zehn klassischen Gewächse der ersten Serie funkelten alle klar und hell grüngelb im Glas. Ab Wein Nummer elf begann das Orange-Spektakel, die Farbpalette variierte nun von Safrangelb über Rostrot und Bernstein bis zu Mokkabraun. Und das alles noch in unterschiedlicher Trübung. Wer kein bekennender Orange-Wine-Liebhaber ist, wird bei so einer Farbpalette skeptisch. Doch mit fortlaufender Dauer der Verkostung schwand die Skepsis und wich einer stetig wachsenden Faszination für diese Elsässer Rohdiamanten. Zum Schluss erzielten die zehn Elsässer «Unplugged»-Interpretationen mit 17.1 Punkten fast den identischen Durchschnittswert wie die zehn klassischen Elsässer, die 17.2 Punkte erreichten. Und die Auswahl der Klassiker war mit Ikonen wie dem Riesling Cuvée Frédéric Emile aus dem Hause Trimbach oder dem Pinot Gris Rotenberg von Zind-Humbrecht prominent besetzt.
Frischer Riesling – barocker Pinot Gris
Jahrzehntelang prägten reinsortige Selektionen und Grands Crus aus Leitgewächsen wie Riesling, Pinot Gris und Gewürztraminer das Image der Südtiroler Weine. Auch diese klassische Schule zeigt sich heute in einer beeindruckenden Form. Im VINUM-Panel traten in der klassischen Kategorie jeweils fünf Rieslinge und fünf Pinot Gris an. Dabei wurden die Rieslinge (17.5 Punkte) im Durchschnitt deutlich höher bewertet als die Pinot Gris (16.9 Punkte). Unterschiede ergaben sich auch bei der sensorischen Beurteilung der beiden Sorten. So wurden alle fünf Rieslinge als «trocken und frisch» wahrgenommen, vier der fünf Pinot Gris dagegen als «feinherb und eher barock». Hier tanzte einzig der grossartige Pinot Gris Rotenberg 2019 von Zind-Humbrecht aus der Reihe, ein geradezu knackiger Wein. Die Auswertung lässt die Schlussfolgerung zu, dass heute die trockenen Rieslinge mit ihrem Schmelz, ihrer Präzision und ihrer fast immer spürbaren Mineralik (Petrol, Feuerstein etc.) bei den Weinfreaks allgemein besser ankommen als Pinot Gris und Gewürztraminer (letztere Sorte war allerdings bei dieser Panelverkostung nicht vertreten). Zudem zeigen die Elsässer Rieslinge ein eigenständiges Profil in der internationalen Riesling-Vielfalt, die von Südaustralien über Deutschland und Österreich bis in die USA und Kanada reicht. Ganz anders der Pinot Gris, der mit seiner feinherb barocken Art viel eher dem traditionellen Bild eines Elsässer Weissweins entspricht. Einen eigenständigen Charme weisen freilich auch diese Weine auf, und in der passenden Situation genossen, etwa zu einer Fleischpastete in einer gemütlichen Winstub, kann es der ultimativ richtige Wein sein. Das interessanteste Fazit dieser Probe ist aber die Erkenntnis, dass in den letzten Jahren immer stärker eine gänzlich andere Vision von Elsässer Spitzenwein an Bedeutung gewonnen hat. Von einer neuen Schule zu sprechen wäre falsch, beruhen diese Weine doch auf uralten Ideen. Nicht wenige glauben gar, dass diese Weine, die wir in unserem Panel als «funky» oder «unplugged» bezeichnen, zu den Ursprüngen des Elsässer Weinbaus zurückführen. Klar ist auch, dass es sich bei den Weinen nicht um einen einheitlichen Typ handelt. Einige brechen mit der sortenreinen Doktrin und sind Assemblagen oder gar Field Blends, stammen also aus Parzellen, die gemischt mit mehreren Sorten bepflanzt worden sind. Andere sind klassische Orange-Weine und haben eine Maischegärung durchlaufen. Zudem wurde der Mehrheit der Weine in dieser zweiten Kategorie kein Schwefel zugesetzt. Das Resultat sind Weine, die grosse aromatische Ausdruckskraft und Schmelz mit einer präsenten Säure und einer kernigen Herbe in sich vereinen. Verblüffend waren die Ausgewogenheit, die Balance und auch die Reinheit dieser Weine. Störende Noten von Apfelmost oder Pferdestall waren kaum auszumachen. Was sich nicht eindeutig klären liess, war die Frage, inwieweit diese «Funky Elsässer» ihre Herkunft erkennen lassen, oder ob die Vinifikation den Sortencharakter und das Terroir verdeckt. Wobei: Terroir ist zweifellos drin in diesen Weinen, selbst dann, wenn es sich nicht so leicht erkennen lässt wie beim reinsortigen Riesling oder Pinot Gris der alten, klassischen Schule.
In beiden Kategorien erhielten Weine die höchste Benotung, die ihre unterschiedliche Elsässer Konzeption in fast schon perfekter Weise vertreten. So gewann bei den Klassikern der Riesling Schoenenbourg 2016 der Domaine Trapet. Das Ausserordentliche an dieser Domäne ist, dass sie eigentlich im Burgund, genauer in Gevrey-Chambertin zuhause ist und dort zu den Topbetrieben gehört. Erst seit 2002 bewirtschaften sie auch ihr Gut im Elsass, dass Andrée Trapet von ihren Eltern übernehmen konnte. Mit burgundischer Vision und biodynamischem Anbau keltern sie aus der Lage Schoenenbourg einen Cru, der zuallererst sein Terroir aus Mergel, Gips, Kies und Muschelkalksandstein vertritt. Bei den «Unplugged»-Weinen schwang mit dem Le Scarabée Skin Touch 2016 von Christian Binner ein Gewächs obenaus, das als Ikone der Elsässer Orange-Bewegung gilt. Die Assemblage aus Gewürztraminer, Riesling und Muskat stammt aus der Grand-Cru-Lage Kaefferkopf, enthält einen Anteil Vendange-Tardive-Trauben und wurde 24 Monate im grossen Holzfass ausgebaut. Zweimal grosses Elsässer Kino, wenn auch so unterschiedlich wie nur möglich.
Selten zeigte ein VINUM-Panel mit 20 Weinen so grosse stilistische Unterschiede. Fazit: Elsass 2023 ist so spannend wie noch nie!
«Diese Verkostung glich einer Wundertüte. Klar ist, dass die Elsässer Winzer das alte Klischee, wonach ihre Weine brav und einheitlich sind, auf beeindruckende Weise abgeschüttelt haben. Etliche Weine zeigten grosses Format. Besonders überrascht war ich von der Trinkbarkeit und Eleganz der Naturweine. Die Probe beweist, dass hier Aufbruchstimmung herrscht. Die zentrale Frage lautet: Quo vadis?»
Lidwina Weh Sommelière, Wohlen (AG)
«Die Verkostungsanordnung mit zehn klassischen Weinen und zehn Naturweinen gab einen sehr interessanten Einblick in das, was das Elsass heute zu bieten hat. Die mazerierten Weine zeigten viel persönlichen Ausdruck. Trotz ihres Reichtums waren einige von Säure und einer leichten Härte geprägt. Ich frage mich, zu welchen Gelegenheiten man diese Weine am besten geniesst.»
Paul Liversedge Weinhändler, Autor und Consultant, Vico Morcote (TI)
«So macht das Elsass Spass! Beeindruckt hat mich vor allem die unglaubliche stilistische Bandbreite innerhalb dieses doch überschaubaren Panels. Aber auch die hohe Qualität der maischenvergorenen Weine war für mich eine Überraschung. Zudem waren die Gewächse generell deutlich weniger süss, als ich es erwartet hatte.»
Adrian van Velsen Autor und Blogger, Windisch (AG)
«Die Elsässer Weinszene bewegt sich und geht in die nächste Runde. Und für Weinfreaks lohnt es sich, mitzufahren. Denn die neuen oder, besser ausgedrückt, die neuen alten, weil ursprünglichen Elsässer Weine haben eine Qualität, die nicht nur die Naturweinfreaks begeistern wird, sondern alle, die nach Gewächsen suchen, die sich mit Mut zu eigenständigem Charakter von der Masse abheben.»
Karin Wymann Weinhändlerin, Zürich (ZH)
Die Jury
Von links nach rechts
Miguel Zamorano
Redaktion VINUM, Zürich
Sein Favorit: Riesling Alsace AOC 2019/2020 von Kumpf & Meyer
Paul Liversedge MW
Weinhändler, Autor, Consultant, Vico Morcote
Sein Favorit: Riesling Cuvée Frédéric Emile Alsace AOC 2016 von Domaine Trimbach
Karin Wymann
Weinhändlerin, Zürich
Ihr Favorit: Le Scarabée Skin Touch Alsace AOC 2016 von
Domaine Christian Binner
Adrian van Velsen
Autor und Blogger, Windisch
Sein Favorit: Pinot Gris Rotenberg von Domaine Zind-Humbrecht
Thomas Vaterlaus
Chefredaktor VINUM, Zürich
Sein Favorit: Pinot Gris Alsace AOC 2019 von Jean Ginglinger
Stefan Iseli
Gastgeber und Sommelier, Zürich
Sein Favorit: Riesling Roche Roulée Alsace AOC 2020 von Domaine Zind-Humbrecht
Lidwina Weh
Sommelière, Wohlen
Ihr Favorit: Riesling Schoenenbourg Alsace AOC 2016 von Domaine Trapet
Carsten Fuss
Weinhändler und Lehrer (Académie du Vin)
Sein Favorit: Riesling Schoenenbourg Alsace AOC 2016 von Domaine Trapet