Der Chasselas, die weisse Leitsorte der Westschweizer Winzer, steht für subtile Weine mit zurückhaltender Säure. Mit neu selektionierten alten Chasselas-Typen und maischenvergorenen Weinen im Orange-Stil versuchen nun immer mehr Winzer, der Traditionssorte mehr Struktur und Frische zu verleihen. Mit erstaunlichem Erfolg, wie unser VINUM-Profipanel beweist.
In der Westschweiz, besonders im Kanton Waadt, ist der Chasselas noch immer eine Grossmacht. Hier bringt er in den besten Lagen nicht nur trinkige Alltagsweine hervor, sondern vom Terroir geprägte Grands Crus, die zudem über ein oft kaum für möglich gehaltenes Entwicklungspotenzial verfügen. Und doch hat die weisse Leitsorte über die letzten Jahrzehnte hinweg stark an Einfluss verloren. Vergleicht man die heutige Anbaufläche mit jener vor 30 Jahren, ergibt sich ein Minus von 30 Prozent. Vor allem die Walliser Winzer haben sich dabei überproportional stark vom Chasselas abgewandt. Allerdings konnte der Rückgang in den letzten Jahren gebremst werden, und gerade in Fachkreisen, also bei Journalisten, Sommeliers und Weinhändlern, wird der Sorte zunehmend eine Renaissance zugetraut. Wenn die Traditionssorte aber neue, vor allem auch jüngere Weinliebhaber für sich gewinnen will, muss sie ihr sensorisches Spektrum erweitern. Im VINUMProfipanel «Chasselas New Age» wurden 25 Weine verkostet, die sich in verschiedener Hinsicht von den Standard-Gewächsen abheben. Das Fazit der Probe: Im Chasselas steckt in vielerlei Hinsicht mehr, als viele von uns glauben!
Da sind zuerst einmal die «neuen, authentischen Klassiker», zu denen etwa der Le Chapitre und der Mont-de-Vaux von der Domaine Henri Cruchon, aber auch der Fichillien vom Cru de l’Hôpital in Môtier oder der Fendant von der Domaine de Beudon gehören. Alle diese Weine werden heute kontrolliert biodynamisch angebaut und natürlich, das heisst ohne Zugabe von Reinzuchthefen, vergoren. Der Verzicht auf jegliche Aufzuckerung (Chaptalisation) und Filtrierung gehört ebenso zu diesem Konzept. Diese naturbelassene Vinifizierung verleiht den Weinen einen spürbar lebendigeren Charakter. Und trotzdem bleiben sie als klassische Chasselas erkennbar. Kein Wunder also, dass diese Gruppe von Weinen in diesem Panel durchwegs hoch, nämlich im Bereich von 17 Punkten, bewertet wurde.
Bei der Mehrheit der im Panel verkosteten Weine handelt es sich um sogenannte Orange-Weine, also um Chasselas, die eine längere Maischenstandzeit beziehungsweise eine Maischengärung durchlaufen haben. Im Prinzip sind diese Weine wie Rotweine vinifiziert worden. Die Bewertungen für diesen Typ von Wein waren höchst gegensätzlich. Auf der einen Seiten erreichten sie die Plätze 1 bis 3 und gehören damit zu den Siegern dieser Verkostung. Andere Vertreter dieses Weintyps erhielten dagegen eher schwache Bewertungen und wurden von einzelnen Verkostern gar als fehlerhaft eingestuft. Trotz dieser Diskrepanz beweist das VINUM-Panel: Das Orange-Winemaking hat beim Chasselas ein sehr grosses Potenzial, wenn es der Winzer richtig einsetzt. Wie auch beim Gewürztraminer, der wie der Chasselas zu den säureärmeren Sorte zählt, sorgt der Hautkontakt für jenen zusätzlichen Gerbstoff, der den Weinen merklich mehr Grip und Struktur verleihen kann. Doch weil der Chasselas im Vergleich zum Gewürztraminer von Natur aus die subtileren Weine ergibt, ist bezüglich Orange-Winemaking ein zurückhaltendes Konzept angesagt. Werden zu viele Gerbstoffe ausgelöst, erscheinen die Weine schnell zu hart und zu bitter. Oder gar in unharmonischer Weise «apfelmostig». Wie dagegen ein rundum gelungener Chasselas Orange riecht und schmeckt, zeigt Marjorie Bonvin, die junge Kellermeisterin vom Maison Henri Badoux in Aigle. Für ihren Henri Vin Orange 2020 aus dem Chablais hat sie die Chasselas-Trauben abgebeert und den Saft mit den Häuten (aber eben ohne Stiele) in Edelstahltanks über einen Zeitraum von drei bis vier Wochen vergären lassen, bis er dann abgepresst und nochmals acht Monate im Stahltank ausgebaut worden ist. Das Resultat ist ein vielschichtiger, präziser, vor allem aber trinkiger Wein, der immer noch den Charakter der Sorte erkennen lässt. Keine Frage: Im besten Falle erweitert das Orange-Konzept das sensorische Spektrum des Chasselas gewaltig. Vor allem eröffnen diese Weine auch völlig neue Möglichkeiten in Bezug auf das Foodpairing.So harmonieren Orange-Chasselas vorzüglich zu verschiedenen Spielarten der asiatischen Küche, aber auch zu vegetarischen Gerichten und verschiedensten Käsen.
Alte Klone – neu entdeckt!
Im Panel vertreten waren zudem auch die Versuchsweine aus jenen fünf Chasselas-Biotypen, welche die Familie Paccot in Féchy für das Conservatoire Mondial du Chasselas keltert. Dieses 2009 lancierte Conservatoire geht auf eine Initiative des Ausnahmewinzers Louis-Philippe Bovard in Cully zurück. Grundlage des Projektes war die Chasselas-Referenzsammlung der Forschungsanstalt Agroscope in Pully, die über 380 Klone oder Biotypen der Sorte Chasselas umfasst. Aus diesem Schatz an Chasselas-Gewächsen wurden schliesslich 19 Typen aufgrund von Qualitätskriterien wie Säurepotenzial oder hefeverwertbarem Stickstoff ausgewählt und ab 2010 zunächst in einem ersten Versuchsrebgarten von Louis-Philippe Bovard in Rivaz neu angepflanzt. 2017 wurde dann in der Domaine La Colombe der Familie Paccot in Féchy ein zweiter Versuchsweingarten mit den identischen Biotypen angelegt. Nach einer zweiten Selektion wurden schliesslich von den fünf Biotypen Fendant Roux, Fendant Vert, Giclet, Bois Rouge und Blanchette so viele Stöcke angepflanzt, dass von beiden Versuchsanlagen entsprechende Mikro-Vinifikationen vorgenommen werden konnten. Die fünf ausgewählten Biotypen waren früher alle in den Rebbergen der Westschweiz heimisch, bevor sich der Fendant Roux als Standard-Typ durchsetzte und die anderen verdrängte. Heute wird aber vor allem diesen seinerzeit verdrängten Biotypen wieder ein zukunftsträchtiges Qualitätspotenzial zugeschrieben. So verschwand etwa der Giclet, weil er markant säurebetontere Moste ergab, und der Bois Rouge, weil er deutlich weniger produktiv ist.
«Die Bezeichnung Chasselas ist gar nicht so alt, wie wir allgemein glauben, sondern hat sich erst allmählich im 19. Jahrhundert durchgesetzt», betont der Agroscope-Rebenzüchter Jean-Laurent Spring, der in die Arbeit des Conservatoires ebenfalls involviert ist. Zuvor sei der Wein viel eher unter dem Namen der Biotypen, vor allem Fendant Roux und Fendant Vert, bekannt gewesen. Gut möglich, dass langfristig das Pendel vom Sammelbegriff Chasselas wieder zu den Namen der einzelnen Biotypen zurückschlägt. Die fünf verkosteten Conservatoire-Versuchsweine von der Domaine La Colombe stammen alle aus biodynamischem Anbau und sind natürlich, also ohne Zusatz von Reinzuchthefen, in kleinen Stahltanks vinifiziert worden. Das bei unserer VINUM-Panelverkostung ausgerechnet der heute dominierende Standard-Typ Fendant Roux die höchste Benotung erhielt, mag erstaunen, ist aber als Momentaufnahme in diesem langfristig angelegten Projekt zu sehen. Die beteiligten Winzer Louis-Philippe Bovard in Cully sowie Laura und Raymond Paccot in Féchy vertreten die Meinung, dass polyklonal bepflanzte Rebberge, also Parzellen, die gemischt mit allen fünf Biotypen bepflanzt werden, das beste Qualitätspotenzial aufweisen. Bis wir Weine aus solchen Mischsätzen verkosten können, wird es allerdings noch einige Zeit dauern. Aber das VINUM-Panel beweist schon heute: Beim Chasselas tut sich was!
«Es freut mich, wenn der Chasselas mit mehr Selbstbewusstsein auftritt. Es braucht auch ein paar Ecken und Kanten, um aus der Masse hervorzustechen. Einigen Weinen in dieser Probe ist dies auf beeindruckende Weise gelungen, duftig, saftig, frisch, charakterstark, im Kern aber immer noch klar als Chasselas erkennbar. Aber es gab auch Weine, die man wohl eher als Laune der Natur betrachten muss.»
Lidwina Weh Sommelière, Wohlen
«Wie erwartet, waren die Qualitätsschwankungen in diesem Panel sehr gross. Einige Weine wirkten unausgewogen oder unfertig. Doch die besten Weine waren faszinierende Gewächse. Zudem haben diese Orange-Chasselas das Potenzial, ein junges Publikum für die Westschweizer Traditionssorte zu begeistern, was dringend nötig ist. Zudem sind gelungene Orange-Chasselas vorzügliche Essensbegleiter.»
Gabriel Tinguely Gastro- und Weinjournalist, Bern
«Weissweine leben von ihrer Säure, wovon der Chasselas leider wenig hat. Die Maischengärung kann dieses Manko an Struktur ausgleichen. Wie die Probe zeigt, sind etliche Winzer noch am Ausprobieren, wie viel Maischengärung bei dieser filigranen Sorte angezeigt ist. Die Weine jener Winzer, welche die richtige Dosis schon gefunden haben, waren dagegen eine Offenbarung. Eine neue Dimension.»
Ivan Barbic MW Weinhändler und Konsultant, Zürich
«Ein grosser Spannungsbogen, von gut strukturierten Speisebegleitern bis zu Weinen, die unharmonisch waren. Klar ist: Die Terroirsorte Chasselas ist gerade auch, was den Ausbau betrifft, eine spannende Spielwiese. Für klassische Chasselas-Trinker mögen die Orange-Interpretationen gewöhnungsbedürftig sein, doch manche sind schlicht hervorragend. Weine, die spannende Geschichten erzählen.»
Adrian van Velsen Blogger und Journalist, Windisch
Die Jury
Von links nach rechts
Karin Wymann
Weinhändlerin, Zürich
Ihr Favorit: Chasselas L’Enigme 2020 von Vignobles de L’Etat de Fribourg, Domaine des Faverges, Saint-Saphorin
Thomas Vaterlaus
Chefredaktor VINUM, Zürich
Sein Favorit: Chasselas Mont-de-Vaux Grand Cru 2022 von der Domaine Henri Cruchon, Echichens
Alain Kunz
Journalist, Zug
Sein Favorit: Chasselas Nature 2022 von Anne-Claire Schott, Twann
Ivan Barbic
Weinhändler und Konsultant, Wädenswil
Sein Favorit: Vully Orange Wine 2021 vom Weingut Hämmerli, Ins
Lidwina Weh
Sommelière, Wohlen
Ihr Favorit: Klon-Selektion Blanchette 2020 von Domaine La Colombe, Féchy
Gabriel Tinguely
Journalist, Bern
Sein Favorit: Henri Vin Orange 2020 von Henri Badoux, Aigle
Nicole Vaculic
Sommelière, Meersburg
Ihr Favorit: Chasselas Nature 2020 von Domaine Les Gondettes, Alain Graber, Satigny
Adrian van Velsen
Blogger und Journalist, Windisch
Sein Favorit: Henri Vin Orange 2020 von Henri Badoux, Aigle
Anick Goumaz
Chefredaktorin VINUM, französische Ausgabe, Syens
Ihr Favorit: Chasselas L’Origine 2022 von Javet et Javet, Lugnorre