Die Früchte des Wiederaufbaus
Die Ahr ein Jahr nach der Flut
Text: Alice Gundlach, Fotos: DWI, Alice Gundlach, Gettyimages / AM-C
Sie können wiederkommen: Die Ahr hat in den vergangenen zwölf Monaten hart daran gearbeitet, so bald wie möglich wieder Gäste empfangen zu können. Wein gibt es auch zu kaufen – allerdings noch in eingeschränkter Menge. Manche Weingüter können erst nächstes Jahr wieder liefern. Ein Besuch lohnt sich dennoch.
Nicht mehr als ein Rinnsal ist die Ahr dieser Tage. Kaum grösser als ein Bach, in einem zu grossen Bett. Sagen wir es, wie es ist: Es ist schlicht unvorstellbar, dass dieses Flüsschen in einer Sommernacht vor einem Jahr zuerst die Drei-, dann die Fünf- und schliesslich die Zehn-Meter-Marke reissen konnte. «Auch am 13. Juli 2021 war die Ahr noch so ein Rinnsal», erinnert sich die Dernauer Winzerin Meike Näkel. Einen Tag später kam dann der Starkregen, zwei Tage später waren 133 Menschen tot, und im Ahrtal war nichts wie zuvor.
Es möchte an der Ahr eigentlich niemand mehr von dieser Nacht erzählen. Man hat die Geschichten schon tausend Mal wiederholt, und trotzdem gehen sie noch extrem nahe, den Erzählern wie den Zuhörern. Vor allem wollen die Winzerinnen und Winzer jetzt nach vorne schauen. Sie sind gerüstet für die nächste Lese, auch dank der vielen Unterstützung von Kolleginnen und Kollegen aus anderen Weinbaugebieten und freiwilligen Helfern aus ganz Deutschland. Und das Ahrtal will wieder Gäste empfangen. Damit das jetzt wieder geht, haben die Menschen dort im vergangenen Jahr alles gegeben.
Dem Weingut Burggarten in Bad Neuenahr sieht man auf den ersten Blick kaum an, was hier im letzten Juli los war. Die Hauswände erstrahlen in frischem Weiss, und im Hof des dazugehörigen Hotels «Weinquartier» stehen die Tische in einer Pflanzenidylle. In der Vinothek erinnern jedoch ein paar Setzrisse an den Wänden an das, was passiert ist. «Der Statiker war insgesamt fünf Mal da, um zu überprüfen, dass das Haus nicht einsturzgefährdet ist», berichtet Simona Kruse, die im Weingut ihren Lebensgefährten Paul Schäfer und seinen Bruder Heiko unterstützt. Allein ein Anbau muss wohl abgerissen werden. Ein bisschen Glück im Unglück hatten sie gehabt, denn das Wasser flutete zwar den Keller, machte aber vor der Haustür Halt. «Vor der Tür war eine kleine trockene Insel. Dorthin wurden auch die Geretteten aus der nahen Neubausiedlung gebracht», erinnert sich Paul Schäfer.
Zwölf Stunden Flaschenspülen
Im Fuderfass-Keller herrscht jedoch noch gähnende Leere, abgesehen von zwei Trock-Fotos: Alice Gundlach nungsgeräten, die auf Hochtouren laufen. Die grossen Fässer sind an alle möglichen Stellen in anderen Kellerräumen verteilt. Die Verluste an Wein waren für den Burggarten im Nachhinein überschaubar. Dennoch mussten alle Flaschen und Fässer, die es überstanden hatten, vom Weinlabor überprüft werden. Sie waren in der besagten Nacht schliesslich in einer ziemlich unappetitlichen Brühe geschwommen. Und dann musste der Schlamm von rund 90 000 Flaschen abgewaschen werden, wochenlang, von dutzenden Freiwilligen. «Die haben bei der Hitze zwölf Stunden am Tag Flaschen gespült», berichtet Simona Kruse, immer noch sichtlich gerührt. Einige Etiketten sehen deshalb etwas lädiert aus, aber wenn noch alle Pflichtangaben darauf lesbar waren, durften sie auf den Flaschen kleben bleiben.
«Der Rotwein-Wanderweg ist noch genauso schön wie vorher.»
Dörte Näkel
Mehr als ein Drittel weniger Ertrag hat die Weinmanufaktur Dagernova im Jahrgang 2021 zu beklagen. Ein Grossteil der Mitglieder der Genossenschaftskellerei hatte seine Weingutshäuser verloren, einige noch dazu Weinberge. Flächen, die überflutet gewesen waren, dürften im Jahrgang 2021 – wie im Übrigen bei allen Weingütern an der Ahr – nicht in die Weinproduktion gehen, denn es bestand die Gefahr, dass die Böden mit ausgelaufenem Heizöl kontaminiert sein könnten. Acht von 150 Hektar der Rebfläche der Genossenschaft dürfen auch gar nicht wieder neu bepflanzt werden – weil sie zu nah am Fluss und damit in der Gefahrenzone liegen, berichtet Stefan Stahl, technischer Vorstand der Genossenschaft: «Die betroffenen Winzer sollen nun Ausgleichsflächen in höheren Lagen erhalten.» Die Weinmanufaktur hofft dafür auf Hilfe vom Land. Aber auch wenn viel Wein in der Flut verloren ging: Immerhin konnte die Weinmanufaktur noch liefern. Das Lager und die Eventhalle in Dernau waren zwar zerstört, aber was am Standort Bad Neuenahr lagerte, war noch zu retten. Dort konnte auch schon bald die Vinothek wiedereröffnen. In Dernau gibt es nun zunächst eine Behelfsvinothek, in der wieder instand gesetzten Eventhalle.
Schnell wieder liefern konnte die Dagernova auch deswegen, weil sie eigene Transporter hat. Andere Weingüter konnten über Wochen nach der Flut nur an Selbstabholer verkaufen, weil die Paketdienste das Flutgebiet nicht anfuhren. Dennoch werden dieses Jahr stark nachgefragte Weine wie der Blanc de Noirs zwischendurch ausverkauft sein, schätzt Vertriebsleiter Vivien Greber. Zur Messe Prowein, sagt er, seien sie nur gefahren, weil sie schon vor zwei Jahren – also vor Covid – den Stand bezahlt hatten «und weil wir nicht vergessen werden wollten». Dass man 2021 überhaupt noch so viel hatte ernten können, sei vor allem den Freiwilligen zu verdanken, die in den Weinbergen mit anpackten.
Eine andere Welt
Die meisten Ahr-Weinfeste werden dieses Jahr wohl erneut abgesagt, berichtet Vivien Greber. Die Ortskerne, wo die Feierlichkeiten üblicherweise stattfinden, sind noch nicht wiederhergerichtet. Ein Grund mehr für die Dagernova, eigene Events stattfinden zu lassen. Weinproben und After-Work-Events können zumindest auf dem Hof der eigenen Eventhalle schon wieder stattfinden. Dennoch sagt Stefan Stahl: «Die andere Welt wird auch die nächsten Jahre noch da sein.»
Eine andere Welt hatten Julia und Benedikt Baltes eigentlich geplant – vor der Flut. Sie wollten ausserhalb ihres Heimatortes Dernau ihr Weingut Bertram-Baltes neu bauen. Die Baugenehmigungen lagen schon alle vor. Doch dann kam es anders: Die Fläche, auf der das neue Weingutsgebäude mit Keller, Vinothek, Lager und Wohnbereich hätte stehen sollen, wurde komplett überflutet. Im Moment haben sie das Gelände der Gemeinde zur Verfügung gestellt, jetzt steht dort zunächst einmal eine Containersiedlung. Bauen werden sie an dieser Stelle nun nicht mehr.
Das alte Weingutshaus, in dem sie nun vorerst bleiben und in dem dereinst das Weingut von Julia Baltes’ Grossvater war, hat keinen eigenen Keller. Stattdessen hatten sie bisher einen Keller im benachbarten Rech angemietet. Doch den hat die Flut komplett weggerissen und mit ihm fast den ganzen Wein, der noch im Bestand war. «Ein paar wenige Fässer haben wir noch retten können», berichtet Julia Baltes. Einige Flaschen hatten sie in die Flutwein-Aktion gegeben. Nun haben sie einen anderen Keller in Dernau angemietet. «Der ist noch viel näher an der Ahr, aber es war nichts Besseres zu finden», gibt Julia Baltes zu bedenken. Sie hätten sich in Grafschaft, weit weg vom Fluss, mehrere Keller von Obstbauern angesehen, «aber die haben keinen Wasseranschluss und keine Isolierung, das kam also nicht infrage». In dem Keller, den sie nun bezogen haben, gibt es das – aber dafür kein Licht und keine Heizung für den Gärraum. «Deshalb arbeiten wir hier jetzt mit Baustellenstrahlern und Heizgebläsen», berichtet Julia Baltes. Dort liegt nun der Jahrgang 2021 – und das war’s. Mit anderen Worten: Vor nächstem Frühjahr haben die Baltes nichts zu verkaufen.
«Die andere Welt wird auch die nächsten Jahre noch da sein.»
Stefan Stahl
Daher nehmen sie sich jetzt die Zeit, um am Betrieb zu arbeiten. Im alten Weingut renovieren sie das Erdgeschoss – bis Ende des Jahres soll dort der Verkostungsraum wiederhergerichtet sein. Der Traum vom neuen Weingut ist zuerst einmal in die Ferne gerückt, denn ein neues Grundstück auf sicherem Terrain ist noch nicht in Sicht. «Dafür arbeiten wir jetzt verstärkt daran, im Weinberg nachhaltiger zu werden», erklärt Julia Baltes. «Schliesslich sind wir ja ein ökologischer Betrieb.» Das heisst zum Beispiel: Die Triebe werden nicht mit Plastikfäden festgebunden, sondern mit Bast und Baumwollfäden. Ausserdem haben sie eine Herde von bretonischen Zwergschafen angeschafft, die die Begrünung der Weinberge stutzen. «Die sind zurzeit unsere fleissigsten Mitarbeiter », grinst Julia Baltes. Ausserdem habe sie nun angefangen, in einigen Weinbergen auch Gemüse mitzupflanzen: Zwiebeln, Kartoffeln, Rote Bete, «alles, was man lagern kann, für den Hausgebrauch», erklärt sie. An den Enden der Rebzeilen wachsen Apfelbäume und Rosmarinsträucher.
Beim Besuch der Schafe im Weinberg, wo auch Ehemann Benedikt gerade arbeitet, fällt ein weisser Geländewagen mit dem Kennzeichen MIL auf – aus Miltenberg in Franken. «Der ist geliehen von einem befreundeten Kollegen aus Klingenberg, wo Benedikt vorher sein Weingut hatte», berichtet Julia Baltes. Das eigene Auto ist den Fluten zum Opfer gefallen.
Langsam wieder aufwärts
Auf Leihgaben sind die meisten Ahr-Weingüter weiterhin angewiesen. «Alles, was wir hier sehen, haben wir von Kollegen geliehen bekommen», erklärt Meike Näkel und zeigt auf Edelstahltanks, Maischegärbottiche und Holzfässer in der Kelterhalle. Ihr Familienweingut Meyer-Näkel ist komplett in seine Lagerräume zwischen Dernau und Rech gezogen, denn das Gutshaus mit Vinothek in der Dernauer Friedenstrasse wird noch lange unbenutzbar bleiben – wenn sie dort überhaupt wieder einziehen. Die Hallen, in denen sie jetzt arbeiten, hatten sie vor etwa 20 Jahren hochgezogen, und obwohl sie direkt am Fluss stehen, waren sie noch besser wiederherzustellen gewesen als das alte Haus im Ortskern.
Vor der Kelterhalle haben die Näkels eine Art kleinen Biergarten aufgebaut. Hecken und Rollrasen rund um die Tische machen die eingezäunte Fläche ein bisschen idyllisch. «Hier essen wir jeden Tag gemeinsam mit allen Mitarbeitern zu Mittag. Jeden Tag kocht jemand anderes», erklärt Dörte Näkel. Sie seien froh, dass sie niemanden entlassen mussten. Das bisschen Wein, das sie in Flaschen retten konnten, hätten sie schnell an Stammkunden verkauft, berichten die Schwestern. Neue Kapseln bekamen die Flaschen noch, denn unter den alten hatte sich zum Teil das Wasser abgesetzt. In diesem Jahr haben sie fast nur Blanc de Noirs anbieten können, der schnell abverkauft war. Auch etwas Weissburgunder und Riesling, die aber in der Rotweingegend eher Nebenprodukte sind. Und noch einmal den Rosé, «von dem wir uns eigentlich trennen wollten, weil wir die Trauben alle für Rotwein brauchen», erklärt Dörte Näkel. Nun sei man aber froh gewesen, mit dem Rosé in diesem Jahr wenigstens noch etwas anbieten zu können.
Das neueste Projekt der Näkels, ein Sekt, konnte nahezu komplett aus der Flut gerettet werden. Den Schaumwein aus Pinot Noir hatten sie 2018 erstmals in kleiner Auflage produziert und dann noch eine grössere Menge vom 2019er. Vorbild: Champagner. Da ihr Schaumwein 36 Monate auf der Hefe lagert, kommt er erst im kommenden Jahr auf den Markt. Die Flaschen lagern in einem anderen gemieteten Keller, der letztes Jahr zwar ebenfalls vollgelaufen war. «Aber die Flaschen sind ja noch nicht degorgiert und haben deshalb noch Kronkorken drauf, die sehr dicht sind. Ausserdem sind sie auch noch nicht etikettiert. Mit anderen Worten: Die konnte man super abwaschen», berichtet Meike Näkel.
«Wir arbeiten jetzt verstärkt daran, im Weinberg nachhaltiger zu werden.»
Julia Baltes
Auch Meike Näkel und ihre Schwester Dörte haben in den Fluten praktisch alles an Gerät verloren. «Nicht mal Lesescheren hatten wir am Anfang.» Das gebe ihnen nun zwar die Chance, «genau die Maschinen zu kaufen, die wir brauchen und haben wollen». Aber alles auf einmal geht natürlich nicht. Auch wenn sie, wie alle Ahr-Winzer berichten, bei Bestellungen von Keltern, Traktoren und Sortiertischen im vergangenen Jahr von Herstellern in ganz Europa vorgezogen wurden. Nun stehen aber erst einmal in der Kelterhalle neben der neuen Kelter auch Holzfässer mit der Aufschrift «Weingut Klumpp». Das ist das Weingut von Meike Näkels Mann in Baden.
Was einem im gesamten Ahrtal überall entgegenkommt, ist die Dankbarkeit für die Hilfe, die sie von Freiwilligen erfahren haben. Da waren die Kolleginnen und Kollegen von der Mosel, aus der Pfalz, Rheinhessen und anderen Weingebieten, die auch schon gleich mit dem richtigen Gerät ankamen «und denen man gar nicht sagen musste, was sie tun sollen», drückt es Paul Schäfer vom Burggarten aus. Und nicht nur bei den Aufräumarbeiten seien sie eine unschätzbare Hilfe gewesen: «Im Juli muss man ja eigentlich sehr viel im Weinberg arbeiten, zum Beispiel Laubarbeiten und Triebspitzen einkürzen», berichtet Julia Baltes. «Die Kollegen sind dann mit den fachfremden Freiwilligen in die Weinberge gefahren und haben sie angelernt.» Nur so war das Nötigste zu schaffen. So manche Helferinnen und Helfer, berichtet Simona Kruse vom Burggarten, seien auch gar nicht mehr weggekommen aus dem Ahrtal – weil sie sich vor Ort in jemanden verliebt hatten und dann beschlossen zu bleiben. «Das erste Baby ist auch schon geboren», lacht sie.