Markgräfler Wein
Der Gutedel spielt verrückt!
Text: Rudolf Knoll, Fotos: Michael Spiegelhalter, Martin Rütschi / Switzerland, Andreas Philipp, www.medienagenten.de, z.V.g.
Es war einmal eine wichtige, dominante Rebsorte in einer südbadischen Region, die hier fast überall gleich schmeckte, trocken ausgebaut, wenig aufregend und bemerkenswert preiswert. Für seinen Namen wurde der Gutedel ausserhalb des Markgräflerlandes schon mal als Hochstapler bezeichnet. Aber seit ein paar Jahren spielt die Sorte plötzlich förmlich verrückt, kommt in spannenden Versionen auf den Markt und überrascht auch Geniesser...
Zuerst ging die kühne Fahrt über Stock und Stein, dann über begrünte, nicht mehr erkennbare Wege, vorbei an steil anmutenden Weinlagen, bei denen Hanspeter Ziereisen, der Mann am Steuer, sein neuestes verrückt klingendes Wagnis vorstellte: «Da habe ich 20 000 Stöcke auf einem Hektar gepflanzt.» Dann ein plötzlicher Tritt auf die Bremse. Der Winzer springt im Efringer Ölberg ins hohe Gras neben die Reben, bückt sich, hebt einen offenbar nicht gerade leichten, vorher nicht sichtbaren Deckel, lacht und erklärt: «Hier habe ich ein Terrakotta-Fass im Boden versteckt, ähnlich wie die Amphoren der Georgier. Aber bei mir ist roter Gutedel drin.»
Der badische Landwein, betitelt «Unterirdisch», entpuppt sich später beim Öffnen einer Steinzeugflasche als bernsteinfarben, lässt ein Walnussaroma und merkliche, aber sanfte Gerbstoffe erkennen und vermittelt den Eindruck, dass dieser 2017er noch etliche Jahre stabil bleibt. Dazu beigetragen hat ein Jahr in dem 500-Liter-Gefäss mit den Trauben. Der Saft kam anschliessend zwei Jahre ins Holzfass und wurde ungeschwefelt ohne Filtration mit etwas Hefe abgefüllt. Es ist nicht der einzige, ungewöhnlich anmutende Gutedel, den der fröhliche Markgräfler vorweisen kann. Er nutzt einen grösseren Anteil an alten Anlagen, strebt stets wenig Alkohol an, will eine eher burgundische Ausführung, setzt gern eine Korbpresse ein. Ausbau im Holz ist Standard, ebenso ein längeres Hefelager.
Vorbild Schweizer Chasselas
Damit hat er sich mit den Jahren einen Ruf wie Donnerhall erarbeitet (auch für seine bedeutenden Rotweine). «Deshalb bin ich in der Schweiz bekannt wie ein bunter Hund», schmunzelt der Mann aus dem grenznahen Efringen-Kirchen, der selbst sogar jenseits der Grenze in Riehen bei Basel mit Partnern auf vier gepachteten Hektar Weissburgunder, Chardonnay und Spätburgunder anbaut und bei Wettbewerben erfolgreich war. Am meisten Aufsehen erregt hat Ziereisen allerdings mit dem teuersten Gutedel der Welt. 2011 gelang ihm ein besonderes Exemplar aus einer Anlage mit 10 000 Reben pro Hektar. Sein damals teuerster Gutedel kostete 12,50 Euro. Ein Freund und Marketingprofi runzelte bei Hanspeters Vorschlag «Soll ich 25 verlangen?» nur die Stirn und meinte trocken: «Versetz einfach das Komma». So wurde der Wein auf der ProWein 2013 mit seinem bis heute unveränderten Endpreis von 125 Euro zum Tagesgespräch – wohlgemerkt als Landwein, denn der durch seine Weinstilistik gern provozierende Winzer deklariert nichts mehr als Qualitätswein, «weil ich bei den Prüfungen nur Ablehnungen bekomme.»
Die Schweizer stört das nicht. Von den jährlich abgefüllten tausend Flaschen des «Jaspis» gehen etliche in das Alpenland. Doch ansonsten decken sich die Eidgenossen als Alternative zum heimischen Chasselas, Fendant und Co. in anderen südbadischen Quellen ein. Beim Winzerkeller Auggener Schäf, seines Zeichens mit 220 Hektar zweitgrösster Gutedel-Betrieb der Welt, atmet Vinotheksleiterin Melanie Mayer tief durch: «Es ist sensationell, wie viele Schweizer bei uns einkaufen.» Diese Kundschaft weiss zu schätzen, dass man bei der Einfuhr noch die Mehrwertsteuer rückerstattet bekommt. Wer die Gutedel-Serie von Kellermeister Andreas Philipp verkostet, stellt fest, dass die Weine eigentlich nur einen Fehler haben: Sie sind mit überwiegend um die fünf Euro zu billig. Nur bei der Premium-Linie und der Kategorie Besondere Weine wagt man sich höher hinaus. Der teuerste und feinste Gutedel (12 Euro) heisst hier, wie auch in anderen Markgräfler Betrieben, nach Schweizer Vorbild Chasselas.
Potenzial für Spitzen-Gutedel
Dieses Synonym findet sich auch im grössten Gutedel-Betrieb der Welt, bei Markgräfler Winzer eG in Efringen-Kirchen. Von den 940 Hektar Rebfläche entfallen 280 Hektar auf Gutedel. Ähnlich wie in Auggen wird ein Grossteil dieser Weine günstig vermarktet, weil man Handel und Discount als Kundschaft hat. Aber Geschäftsführer Hagen Rüdlin und Kellermeister Martin Leyh sind bemüht, das Optimum aus der Rebe herauszukitzeln und auch Weine zu füllen, die anspruchsvolle Geniesser entzücken können. «Obwohl die Sorte aufgrund ihrer besonderen Physiologie selbst bei Vollreife von Natur aus für leichte Weine mit dezenter Säure sorgt, ist es falsch, sie als einfachen und neutralen Zechwein abzukanzeln», meint Rüdlin. «Wir Markgräfler sind jedenfalls ganz vernarrt in Gutedel.» Deshalb gibt es hier in der gehobenen Linie Handwerk einen komplexen, gut strukturierten Lagenwein aus geringer Ernte (maximal 50 Kilogramm/Ar), mal als Gutedel, mal als Chasselas. Und darüber thront noch in Kleinauflage von nicht mal tausend Flaschen der im Holz ausgebaute elegante, vielschichtige Ikon-Wein DER Gutedel, der seine 18 Euro locker wert ist.
Nicht nur in Efringen-Kirchen, Auggen, Laufen und anderen südbadischen Genossenschaften, sondern auch in privaten Weingütern hat man erkannt, dass die Sorte Potenzial für bedeutende Weine hat. Einer, der früh neue Wege ging, war der damalige Chef der Ehrenstettener Genossenschaft, Franz Herbster. Er wagte einen Spagat zwischen Gutedel und Chasselas und erfand die Wortmarke Chasslie, weil er den in der Schweiz damals landesweit üblichen biologischen Säureabbau forcierte und den Wein einige Monate auf der Hefe «sur lie» lagerte.
Preiserhöhungen waren dadurch möglich. Herbster konnte sich nicht lang am Exklusivrecht für Chasslie erfreuen. Als er sich 2006 in Kirchhofen selbstständig machte, überlegte er kurz, ob er ein reines Gutedel-Weingut gründen sollte. «Aber das hätte wohl nicht geklappt», meint er rückwirkend. Die Markenrechte wurden von einigen Betrieben, auch den grossen Genossenschaften, übernommen. Herbster kann noch mit Gutedel Kabinett und Chasselas «sur lie» aufwarten. Und er hat registriert, dass es im Markgräflerland inzwischen Überlegungen gibt, das Schweizer Synonym offiziell für höherwertigen Gutedel mit gewissen Regeln zu etablieren. «Wir sollten uns eine Art Charta für diese Weine überlegen, mit klaren Regeln für die Vinifikation.»
In die gleiche Richtung geht ein Gedanke von VDP-Mitglied Gerd Schindler (Weingut Lämmlin-Schindler in Mauchen). Sein 2020er Chasselas Réserve, gereift in teilweise neuem Holz, ist komplex, elegant und temperamentvoll. «Wir haben Schweizer Kunden, die ihn mit einem Dézaley vergleichen», strahlt Schindler. So hoch wie bei dieser Grand-Cru-Bezeichnung im Gebiet Lavaux will er nicht hinaus. «Doch es ist denkbar, dass wir unsere besten Fluren als Erste Lage ausweisen, also die Einreihung nach dem Grossen Gewächs.»
Um der Bandbreite des Gutedels gerecht zu werden, ist Schindler ausserdem eines von zehn Mitgliedern des Clubs Grüner Markgräfler, der sich auch mit Spätburgunder befasst und die mögliche Leichtigkeit und Frische der Weine betont. Unter elf Prozent Alkohol ist die Regel bei trockenem Ausbau. «So etwas läuft wie geschnitten Brot», lacht der erfahrene Winzer. Auch einige Frauen sind mit im Spiel, wenn es um eine Neuorientierung für Gutedel geht. Josefine Schlumberger, ehemals Deutsche Weinkönigin (2015/16), inzwischen im Familienweingut in Laufen mit Vater Rainer aktiv, kann neben einem unfiltrierten Selektionswein Chasselas auch einen naturtrüben, unfiltrierten, herzhaften Jungwein aus dem Jahr 2021 vorweisen. Gleich daneben im Nachbarhaus im Weingut Schlumberger-Bernhart hat Johanna, die Tochter des Hauses, ihre Geisenheimer Bachelor-Arbeit über Gutedel mit einem besonderen Wein veredelt. Die 24-Jährige liess ertragsreduziertes Material aus verschiedenen Fluren 24 Stunden auf der Maische stehen. Danach folgte ein längeres Lager auf der Hefe in neuen und gebrauchten Barriques. «Kracher» nannte sie das burgunderähnliche, vielschichtige Ergebnis, nach «Krach», einem alten Synonym der Sorte, abgeleitet von Chasselas Croquant (knackig, knusprig). Aber dass es Johanna mit diesem Wein so richtig krachen lässt, trifft auch zu...
Die Dritte im innovativen Frauenbund ist die Geisenheim-Absolventin Yvonne Männer, die mit ihrem Mann Martin das traditionsreiche Weingut Blankenhorn in Schliengen führt. Der gelernte Jurist, einst Miteigentümer eines Hightech-Zulieferbetriebs, übernahm 2014 den 25-Hektar-Betrieb mangels Nachfolger in der Familie der Eigentümerin Roy Blankenhorn. Mit der gebürtigen Pfälzerin Yvonne wurde önologisch einiges umgestellt und inzwischen auch eine neue, schmucke Kellerei mit Eventabteilung fertiggestellt. Der Gutedel kommt generell ins Holz. Schon der Einstiegswein präsentiert sich saftig und würzig. Zwei Weine werden als Chasselas bezeichnet: Courage, ein in der Tat couragiertes Gewächs mit Finesse, und Le Clocher, in der Übersetzung Glockenturm. Auf der Zunge bimmelt es gewaltig.
Äusserst langlebige Gutedel
Das tut es auch im Weingut am Schlipf der Familie Schneider in unmittelbarer Grenznähe in Weil am Rhein. Die Söhne Johannes und Christoph haben die Regie von Vater Claus übernommen und verweisen gern auf die Weiler Chronik, die besagt, dass die Basler Klöster vom 11. bis 16. Jahrhundert Grundbesitz im Weiler Berg hatten. Die Lagen, auf denen die 2,5 Hektar Gutedel stehen, wären auch für Burgunder geeignet, mit denen die Schneiders gut unterwegs sind. «Unser Gutedel muss ganz einfach schmecken», meint Senior Claus. Angestrebt wird von jeher ein leichtgewichtiger Wein mit dezentem Aroma. Ein längeres Lager auf der Hefe ist die Regel, ebenso nur eine sparsame Prise Schwefel. Trotzdem sind die Weine erstaunlich haltbar. Demonstriert wird das mit einem immer noch stabilen 1992er.
Mutig waren Johannes und Christoph mit ihrer vor allem dem Gutedel gewidmeten Linie Haus Gupi (steht für Gutedel und Pinot), bei der generell auf SO2 verzichtet wird. Die Weine sind extrem leicht (teilweise nur 9 und 9,5 «Volt»), aber trotzdem straff und würzig im Geschmack. Der 2020er wird als El Fayoum bezeichnet, nach einer fruchtbaren Oase in Oberägypten am mittleren Nil. Hier wurden in Königsgräbern Wandgemälde mit unverkennbarem Gutedel-Blattgut gefunden, die sich ungefähr auf das Jahr 3000 v. Chr. datieren liessen. Ob damals bereits Trauben gekeltert wurden, ist nicht bekannt.
Überhaupt werden in der Literatur viele unterschiedliche Wege beschrieben, wie die Sorte in die Schweiz, nach Frankreich und Deutschland gelangte (hier noch geringe Anteile mit 23 Hektar an Saale-Unstrut). Sicher ist wohl nur, dass sie 1780 vom Markgrafen von Baden als wertvoll angesehen wurde und den damals üblichen Mischsatz ablöste. Das Pflanzgut wurde aus Vevey am Genfersee eingeführt, eroberte im 19. Jahrhundert fast 90 Prozent der Markgräfler Weinbaufläche und hat heute immer noch einen Anteil von gut einem Drittel mit 1088 Hektar, knapp ein Viertel der Chasselas-Fläche in der Schweiz. Ihren südbadischen Stellenwert fasste Vincenz Wissler, Bürgermeister von Badenweiler kurz zusammen: «Unser Grundnahrungsmittel.» Winzer Markus Büchin aus Schliengen, Vorsitzender vom Verein Markgräflerwein, geht noch weiter zurück: «Das ist die Muttermilch, mit der wir grossgezogen werden.»