Alto Piemonte

Der andere Nebbiolo

Text: Christian Eder, Foto: Siffert/weinweltfoto.ch, z.V.g., Sabine Jackson

  • Bramaterra ist ein ausgedehntes Gebiet am Fluss Sesia: Porphyr trägt zum mineralischen Charakter der Weine des Anbaugebietes bei.

Die Rebsorte Nebbiolo ist Basis einiger der renommiertesten Weine der Welt: Barolo und Barbaresco. Aber die ursprüngliche Heimat der Traubensorte liegt nicht in der Langhe im Herzen des Piemont, sondern weiter im Norden – im Alto Piemonte. Dort erlebt sie als Spanna gerade eine Wiedergeburt.

Noch im 19. Jahrhundert waren viele der Hügel des Nordpiemont zwischen Gattinara und den Alpen, Boca und dem Lago Maggiore in den Händen der Nebbiolo-Traube. Schon die Römer fanden im zweiten Jahrhundert bei Novara Reben vor, Plinius der Ältere erwähnte gar eine Rebsorte spanis aus dieser Gegend. Spanna heisst Nebbiolo deshalb in Teilen des Alto Piemonte noch heute. Später, im 16. Jahrhundert, waren Weine aus Gattinara, Ghemme oder Lessona an den europäischen Fürstenhofen geschätzt. Und erst von hier aus soll die Rebsorte Nebbiolo auch ihren Weg in die südlichere Langhe gefunden haben.

Tausende von Hektar standen in den Hügeln des Alto Piemonte unter Reben, bis die Industrialisierung und die folgende Landflucht dem Weinbau den Garaus machte: In der Textilindustrie von Biella und in den Fabrikhallen von Fiat in Turin war mehr Geld zu verdienen als auf den steilen Hügeln des Alto Piemonte. «So wurden die Rebberge aufgegeben und über die Jahre und Jahrzehnte hat sich der Wald die Hügellagen zurückerobert», sagt Christoph Künzli, «so als ob hier niemals Wein angebaut worden wäre.»

«Das Wunderbare in Boca und anderen Gemeinden ist, dass es immer noch eine grosse Anzahl verwilderter Rebberge gibt, die still im Wald schlummern.»

Nur einige wenige Güter hätten die Zeiten überdauert, erzählt der ehemalige Schweizer Weinhändler weiter. Wie das von Antonio «Mimmo» Cerri in der Gemeinde Boca. Der letzte Produzent des einst renommierten Anbaugebietes Boca kelterte dort auf nicht einmal einem Hektar legendäre Nebbioli. Künzli und der Önologe Alexander Trolf kamen 1988 zum ersten Mal mit dem toskanischen Winzer Paolo de Marchi nach Boca, um Cerri zu besuchen, und verliebten sich Wein und Reben. Künzli: «Cerri machte einst schon extrem langlebige und elegante Weine, die man sonst nur in der Langhe fand.» Wenige Jahre später – 1998 – übernahm Künzli schliesslich das Gut mit seinem halben Hektar Rebbergen und dem Keller und machte sich auf die Suche nach weiteren kleinen Parzellen. Heute nennt er rund neun Hektar in Positionen zwischen 420 und 520 Metern Meereshöhe sein Eigen.

Reberziehung dem Klimawandel anpassen

Christoph Künzli wandert mit uns durch seine Reblagen oberhalb von Boca mit ihren zum Teil hundertjährigen Reben, die im traditionellen Maggiorina-Reberziehungssystem gezogen wurden: Es vereint vier Reben in einem Strunk, die sich dann in die vier Himmelsrichtungen ausdehnen und einen Kelch bilden. Seine neuen Pflanzungen seien allerdings meist im Guyot, erklärt Künzli, obwohl das schattige Maggiorina-System in Zeiten des Klimawandels unweigerlich Vorteile besitze. Aus seinen Maggiorina-Reben mit Croatina, Nebbiolo und zehn weiteren zum Teil auch weissen Sorten keltert er aber einen kirschfruchtigen gemischten Satz, den er einfach «Maggiorina» nennt. Und er ist ständig auf der Suche nach neuen besonderen Lagen. Künzli: «Das Wunderbare in Boca und anderen Gemeinden ist, dass es immer noch eine grosse Anzahl aufgelassener Rebberge gibt, die still im Wald schlummern. Theoretisch könnte man sie jederzeit wieder revitalisieren, nur sind die Besitzrechte in diesem Gebiet mit Realteilung sehr kompliziert: Ein Rebberg oder ein kleines Stück Land mit 20 oder 30 Eigentümern ist keine Seltenheit.»

Aushängeschild von Le Piane ist allerdings der Boca DOC, eine finessenreiche Terroir-Interpretation aus 85 Prozent Nebbiolo und dem Rest Vespolina, mehr als drei Jahre im Holzfass ausgebaut. Dem steht der «Mimmo» zur Seite, nach dem Spitznamen Antonio Cerris benannt, ein Blend aus zwei Drittel Nebbiolo und einem Croatina. Künzli: «In den hochgelegenen Rebbergen auf Montalbano, Santuario und Traversagna erreicht die Croatina ebenfalls viel Dichte und Charakter.»

«Das Alto Piemonte hat grosses Potenzial. Vor allem aus Nebbiolo kann man hier in besonderen Lagen ganz unverwechselbare Weine schaffen.» 

Ansonsten ist das Nordpiemont Nebbiolo-Gebiet: Die Rebsorte erreicht auf den Porphyrböden – Überreste eines Supervulkans aus den Zeiten vor der Entstehung der Alpen – Komplexität, die hervorragende Tannin- und Säurestruktur sorgt für Langlebigkeit. Das beweisen noch heute alte Jahrgänge von Produzenten wie Sella, Antoniotti oder Travaglini in den Anbaugebieten von Lessona, Bramaterra oder Gattinara. Denn Boca, die kleine Region zwischen dem Valle Sesia und dem Orta-See, ist nur eine von fast einem Dutzend DOC- und DOCG-Appellationen des Nordpiemont. Allesamt sind sie eingebettet in eine wilde hügelige Landschaft mit Kastanien- und Eichenwäldern sowie Kirschbäumen und dazwischen liegen immer wieder kleine Dörfer und Städte. Kühle Winde aus dem Norden und Wärme von den Ebenen im Süden bringen Frische und doch auch Struktur in die Weine. In Kombination mit den vulkanisch-mineralischen Böden sorgt das im besten Fall für elegante, fast nördliche Kreszenzen.

Geschichte neu geschrieben

Einige historische Güter haben das immer bewiesen und stets die Fahne des Alto Piemonte hochgehalten, aber erst vor rund 20 Jahren begann die Geschichte des modernen Alto Piemonte: Immer mehr junge Winzer begannen seitdem die alten Rebberge zu revitalisieren und neue zu bepflanzen. Ein Motor dieser Entwicklung war sicher Paolo de Marchi. Die Familie des Besitzers eines der renommiertesten Weingüter des Chianti Classico – Isole e Olena – besass Rebberge in Lessona, die Paolo unter dem Namen Poprieta Sperino wiederbelebte. Heute führt sein Sohn Luca das Gut und zählt mit seinen Lessona-DOC-Weinen zu den Aushängeschildern der Region. Anders als in den umliegenden Appellationen sind allerdings die Böden der Rebberge von Lessona nicht vulkanischen, sondern marinen Ursprungs. Daher haben die Weine eine eigene Charakteristik, sind feingliedrige Tropfen mit langlebiger Säure.

Paolo de Marchi hat nicht nur den Schweizer Christoph Künzli mit dem Nordpiemont verkuppelt, sondern auch den deutschen Unternehmensberater Dieter Heuskel, der 2004 gemeinsam mit dem Südtiroler Winzer Peter Dipoli einen Rebberg im nahen Bramaterra kaufte. Daraus sind mit den Jahren und unzähligen Übernahmeverträgen mit zahlreichen Kleinst-Grundbesitzern rund vier Hektar des Gutes Le Pianelle geworden. Hauptrebsorte ist auch in Bramaterra Nebbiolo, daneben werden noch Croatina und Vespolina angebaut. Seit 2010 werden sie von Heuskel und Dipoli in einem Keller im historischen Ortskern von Brusnengo vinifiziert. Zwei Weine entstehen dort: der überraschend charaktervolle Rosato Al Posto dei Fiori und der komplexe Bramaterra DOC.

Die felsigen Porphyrböden sorgen dafür, dass die Reben sehr lange brauchen, um die Wurzeln voranzutreiben, und die hier gekelterten Weine dadurch finessenreich und filigran wirken. Beweise für diesen eigenen Bramaterra-Charakter sind die Spitzenweine von Le Pianelle, Antoniotti oder Colombera & Garella (das Gut des Le-Pianelle-Önologen Cristiano Garella).

Aber man kann natürlich nicht vom Alto Piemonte sprechen, ohne Gattinara und Ghemme Tribut zu zollen: In den beiden einzigen DOCG-Zonen des Nordpiemont hat der Weinbau selbst in den Zeiten des Niedergangs einen Fuss in der Tür behalten. Das Potenzial des Gebiets ist auch gestandenen Barolisti bewusst. Einer hat sogar investiert: Roberto Conterno, der Monfortino-Macher aus Monforte d’Alba, ist seit 2018 Besitzer des 27 Hektar grossen Weinguts Nervi, dem er bereits seit 2012 als Berater zur Seite stand.

Nervi wurde 1906 gegründet und ist das älteste noch existierende Weingut in diesem Gebiet mit den porphyr- und tonhaltigen Böden. Die Struktur der Weine erinnert zwar an die Langhe, sie sind aber duftiger und erinnern manchmal an Pinot Noir. Für Roberto Conterno war es daher vor allem eine Herausforderung, Nebbiolo noch in anderer Weise als der des Barolos zu interpretieren: «Vor allem die Lagen Molsino und Valferana haben mich fasziniert. Die Böden sind reich an Mineralien, die Weine erreichen Tiefe, Eleganz und Präzision.» 

 

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