Bei Weinen mit Restsüsse schaut die Weinelite mit schüttelndem Kopf und süffisanter Herablassung auf jene, die davon nicht genug bekommen. Das ist nicht nur arrogant, sondern auch unehrlich. Denn ohne Zucker im Wein wären viele Weinfreaks erst gar nicht auf den Geschmack gekommen.
Neulich auf einer Party. Also zu der Zeit, als es noch Partys gab und die Räume voll waren mit Menschen, dicht gedrängt und stets das Glas in der Hand, bereit zum Anstossen. Ich stand herum, mit einer Flasche Vin Jaune aus dem Jura. Ich wollte die fröhliche Kunde dieser französischen Weinschule in die Runde bringen; beseelt von der Hoffnung, dass die Leute vielleicht doch mal was Neues probieren und sich von dem Hubba-Bubba-Rosé für einen kurzen Moment abwenden.
Das Experiment glückte nur so halb. Ein Verkoster meinte, etwas das Gesicht verziehend: «Schmeckt ja wie Sherry…» Das halbvolle Glas stellte er irgendwo ab. Stattdessen wurden auf der Fete etliche Supermarkt-Flaschen Prosecco und Grauburgunder geleert, so dass bald schon Nachschub besorgt werden musste. Der Weinfreak in mir war beleidigt.
Der Griff zu Weinen mit ordentlicher Restsüsse
Viele meiner (Nichtweinfreak-)Freunde greifen gerne zum Glas mit ordentlich Restsüsse. Darunter oft jene Weine, die man in halbseitigen Anzeigen zahlreicher Zeitungen sieht, mit denen die Online-Händler ihren Vertrieb ankurbeln: prächtige Primitivo-Abfüllungen, Weine mit teilweise rosinierten Trauben und Cuvées mit Garnacha und Tempranillo aus la Mancha, stets ausgestattet mit einer ordentlichen Ladung Restsüsse, dass so manch zuckerfester Liebhaber trockener Weine mit den Ohren schlackern würde, wüsste er wie viel er von dem vermeintlichen Teufelszeug pro Liter zu sich nimmt. Nämlich mehr als die Weltgesundheitsorganisation pro Tag empfiehlt.
Durch Tricks der Händler wird süsser Wein unter die Weintrinker gemischt
Aber ist das schlimm? Nüchtern betrachtet: nein. Diese Entwicklung ist sogar gewollt. Und zwar von allen, die beim Phänomen Wein mitmachen. Auch von den Freaks. Und vom Handel, der sehr gut mit solchen Weinen klarkommt. Der Detailhandel hat sich die rabaukenhaften Tricks der Online-Händler abgeschaut und haut seinen Laufkunden schon seit längerem eine Aktion nach der anderen mit diesen Zuckerburschen um die Ohren. Ein Filialleiter eines auf Nachhaltigkeit getrimmten Bioladens, den man vor allem in den schicken Hipster-mit-Kinderwagen-Vierteln der Grossstädte vorfindet, erzählte mir jüngst von einem Wein eines europäischen Tausendsassas, der in Argentinien eben jene Malbecs auf die Flasche zieht, die einen mit charmanter Molligkeit nur so anspringen. «Diese Weine verkaufe ich so schnell, wir kommen mit dem Ausstatten der Flächen kaum nach», berichtete er mir. Seine Weine hält er stets in jüngeren Jahrgängen parat, bei Weissen ist er gar sehr darauf bedacht, dass die mehr als zwei oder drei Jahre alten schnell über Aktionen aus dem Sortiment fliegen. Ab diesem Alter verblasst bei vielen Partyweinen die Frucht. Und ohne Frucht macht so ein Grauburgunder unter zehn Euro wirklich keinen Spass. Party hin oder her.
Und die Winzer? Fangen oftmals den nach freudiger Ablenkung suchenden, modernen Menschen mit der Entrée de Gamme ihrer Qualitätspyramide ab. Darunter sind oft Weine, die den Geschmack «trocken» nur im Namen tragen, sich aber stark auf die Grenze zubewegen, über der sie ihre Weine nicht mehr als trocken verkaufen dürfen. Die Südeuropäer oder alle nichtdeutschen Winzer haben ja bekanntlich dieses Problem nicht. Aber auch deren Weine sind, vor allem in den Einstiegsklassen, manchmal ganz schön klebrig.
Party? No More Time.
Für Weinfreaks ein Affront. Aber für viele der Beginn einer wunderbaren Reise, die sie hoffentlich bald zu einem Manzanilla oder eben ins Jura führt. Oder zu einem Brut-Zero-Schäumer, bei dem es einem den Gaumen zusammenzieht vor so viel toller Säure, pardon Fraîcheur. Hat diese Reise bei vielen Weinfreaks nicht auch im zarten Teenager-Alter mit einem Muskateller-Prickler auf irgendeinem Festival begonnen?
Überhaupt sollten wir uns – Freaks oder nicht – über jeden Weinkonsum freuen. Denn viel Party ist ja gerade nicht: Die Pandemie macht das Tanzen unmöglich, und diejenigen, die uns zum Tanzen brachten, treten ab. Mitten in der Coronawelle hat uns das meisterhafte Elektro-Duo Daft Punk die traurige Botschaft ihrer Auflösung überbracht. Schluss, aus, Amen. No More Time. Nachdem diese Nachricht in meine Timeline gespült wurde, drehte ich voller Melancholie meine Musik-Anlage laut auf und begann im Homeoffice zu «Da Funk» zu wippen. In der Hand: ein Glas Rosé. Irgendwie muss man ja durch diese düsteren Zeiten kommen.
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