Klartext mit Miguel Zamorano!

Alkoholfreie Marotten

Text: Miguel Zamorano, Foto: VINUM

Mitten in einer der grossen Krisen unserer Branche mehren sich die Stimmen derer, die dem Alkohol und damit dem Wein abschwören. Dass auch Weinfachleute in der Öffentlichkeit damit kokettieren, ist zumindest befremdlich. Der Geist der null Prozent, der sich dahinter manifestiert, lässt nichts Gutes erahnen.

Das Internet ist ein Ort spannender Begegnungen. Auf den sozialen Netzwerken findet man immer wieder Dinge, die den Horizont erweitern. Etwa bei Videoblogger HughChongqing aus der chinesischen Stadt Chongqing. Er zeichnet in seinen Videos die komplexe Geographie seiner Heimatstadt nach, einer 30-Millionen-Metropole mitten in China. Hugh läuft in den kurzen, mit der immer gleichen Musik untermalten Videos seine Stadt auf und ab, er steigt Treppen hinunter, die durch alle Ebenen der Stadt führen. Mal drückt er im zweiten Stock auf «Erdgeschoss» und landet dann auf der Terrasse eines Einkaufszentrums. Die Kamera führt den Blick über die Veranda, und dann schaut man gefühlt hundert Meter in den Abgrund, wo Strassen und weitere Gebäude stehen, Menschen und Fahrzeuge sich auf ihren Wegen kreuzen. Es ist verwirrend und faszinierend zugleich, diese Metropole in ihren vielen Dimensionen zu erblicken und zu begreifen. Gleichzeitig ist gerade das fast unmöglich – mit jeder neuen Ebene eröffnet sich eine neue Perspektive und damit ein Gefühl der Unvollständigkeit. Nie wird man hier den vollen Durchblick haben. Die Instagram-Reels erinnern an die kühnsten Filme Christopher Nolans oder an die Grafiken von M. C. Escher.

Ich war bisher nur einmal in Chongqing. Vor knapp 20 Jahren stieg ich nach einer sieben Tage langen Reise auf dem Jangtsekiang-Fluss an einem sonnigen Morgen aus dem Boot und fing sofort an zu schwitzen. Die Luftfeuchtigkeit war enorm hoch. Das hielt mich nicht davon ab, sofort das erste Hotpot-Restaurant aufzusuchen. Ich habe noch das Bild vor Augen, wie filetierte Lotuswurzeln und Innereien in dem heissen, monsterscharfen Sud schwammen. Die Schärfe war beachtlich, mein Hemd hing mir bald nass am Leib vom ganzen Schwitzen. Es war der beste Hotpot, den ich je gegessen habe.

Ein Stein in der Pyramide fällt heraus

Wir haben uns an vieles gewöhnt. An Hafermilch im Kaffee, an Tofu auf dem Grill, an Himalaya-Salz, das nicht aus dem Himalaya kommt, und auch an sogenannte Foodfluencer, deren Leistung darin besteht, alle Zutaten in heissem Fett zu fritieren. Fehlt nur, dass Krusty der Clown von den «Simpsons» zum Zirkus-Minister berufen wird. Was hingegen gewöhnungsbedürftig ist: Wenn Weinfachmenschen auf alkoholfrei machen und davon in der Öffentlichkeit erzählen. Davon erfuhr ich, als ich meine Lieblings-Wochenzeitung aufschlug, und zwar auf den Seiten, wo Clown-Minister nicht mehr behandelt werden. Im hinteren Teil des Blattes, in der Tiefe des Zeitungsbuches, in der die Sorgen des Alltags nicht vordringen. Hier also hat ein Sommelier erklärt, wie es sich anfühlt, ein Jahr auf Alkohol zu verzichten.

Allerorts spüren Händler und Gastronomen den Rückgang beim Weindurst. Laufend schreibt irgendjemand, warum er oder sie keinen Alkohol mehr trinkt, und begründet das mit dem Verweis auf wissenschaftliche Studien. Sie haben den Kult der null Prozent losgetreten. Klimawandel und die alkoholfreie Apotheose – beides hat das Zeug zu einer neuen Reblaus-Krise. In dieser Situation kokettiert also ein Somme­lier in der Öffentlichkeit mit seinem alkoholfreien Sabbatical als fetzigem Spleen. Mich gehen seine Beweggründe nichts an. Wenn er das aber öffentlich breittretet, darf ich für ihn hoffen, dass seine Gäste ihm das nicht nachmachen. HughChongqing kann man sich jedenfalls nicht als jemanden vorstellen, der das Schlendern in seiner Stadt aufgibt. Dabei ist ständiges Treppensteigen auch nicht gesund.

Gemma Morato, Geschäftsführerin von Clos Pachem aus dem Priorat, erzählte mir neulich, dass sie früher als Lehrerin tätig war. Sie hörte auf, als die Regierung das Niveau zur Notenvergabe senkte. Mehr Schüler sollten bessere Noten erhalten, keiner die Klasse wiederholen. «In solch einer Situation jungen Menschen etwas beizubringen», sagte sie mir, «das ergibt keinen Sinn.» Jetzt verkauft Morato Wein. In Vilafranca del Penedès zeigt sie Kunden, wie die örtlichen Castellers-Gruppen das Errichten menschlicher Türme üben. Dazu steigen sich die Teilnehmer gegenseitig auf die Schultern, mehrere Etagen hoch. Unten die stärksten, oben die jüngsten und leichtesten – eine Metapher für unsere Gesellschaft. Jetzt stelle man sich vor, einer der Stärksten sagt mitten in der Übung: «Das war's Leute, ich mach ein Sabbatical. War schön mit euch.»