Viele Wein- und Genussliebhaber bilden sich auf ihre Fixierung auf lokale Produkte gehörig was ein. Dabei entgehen einem schöne Erfahrungen, wunderbare Genussmomente werden erst gar nicht möglich. So schlummert in der Neuen Welt so manche Überraschung – in Chile zum Beispiel.
Oft sind es die kleinen Überraschungen, die den Besuch einer Weinregion richtig spannend machen. So wie neulich etwa, im Winterurlaub im chilenischen Sommer. Der Ort: Marchigüe, das westliche Colchagua-Tal geht an dieser Stelle leicht in einen Kamm über, im Osten ragen die Anden im Dunst hervor. Dorthin reihen sich zahllose Rebzeilen aneinander, vor allem mit Cabernet Sauvignon und Merlot bestockt. In Apalta haben namhafte Häuser wie Viña Montes und Clos Apalte ihren Sitz, unweit von Santa Cruz, einem malerischen Städtchen entlang der lokalen Ruta del Vino.
In Marchigüe weht mir die pazifische Brise um die Ohren, als ich auf die Syrah-Lagen von Viña Polkura blicke. Erst 2002 gepflanzt, mehrheitlich mit Syrah, hat sich das Haus mit Önologe Sven Bruchfeld an der Spitze einen Namen mit seinen Syrah- und GSM-Weinen gemacht. In der Region sicher kein Novum, aber so – ganz sicher eine Ausnahme. Bei jedem Schluck schmeckt man, dass Bruchfeld einige Zeit in Frankreich gearbeitet hat, so schwarzpfeffrig und frisch schmecken seine Syrah. Und gleichzeitig spürt man einen sanften Neue-Welt-Twist in diesen Cuvées.
Einen Tag später sitze ich in einem Bistro in Santa Cruz. Auf dem Teller die Teigtasche Empanada und im Glas ein Carménère aus dem Einstiegssegment von Viu Manent. Der Wein paart sich hervorragend mit dem süsslichen Aroma der Zwiebel, die aus der Empanada hervorquillt (ideales Zwiebel-Fleisch-Verhältnis: zwei zu eins). Ich bin damit beschäftigt, alles in mich aufzusaugen. Ich frage mich bei jedem Schluck und bei jedem Bissen im Stillen: Warum habe ich von diesen Weinen nicht schon vorher mehr erfahren?
Das liegt im Wesentlichen daran, dass Cabernet Sauvignon und Merlot den Eindruck aus Chile dominieren. Hinzu kommt, dass Weinen aus der Neuen Welt oft ein sehr einseitiges Profil unterstellt wird. Viele Experten vermuten a priori eine Kultur, die sich zu sehr nach den Moden und Wünschen einzelner US-Kritiker richtet. Und folglich Weine präsentiert, die zugenagelt sind von vielem Neuholz, die vor lauter Opulenz und Kraft eher über den Gaumen rollen, als darauf aufrecht zu tanzen. Das mag stimmen. Und doch ist dieses Narrativ unvollständig – ohne den Syrah von Polkura oder von Viñedos de Alcohuaz, weiter im 700 km nördlichen liegenden Elqui-Tal. Und eben ohne die Sorte Carménère, die hierzulande nur Wenigen ein Begriff ist.
Viele Weine aus Chile haben sich hierzulande fast komplett in die Unsichtbarkeit verabschiedet: Im Supermarkt in der untersten Etage, wo die oftmals in Europa abgefüllten Cab-Sav- oder Merlot-Weine den einheimischen Gewächsen mit einer Preisdifferenz von zwei bis drei Euro/Franken Konkurrenz machen. Und dann beim Fachhändler im oberen Premium-Bereich, wo das Angebot erst jenseits einer erträglichen Schmerzgrenze anfängt. Dazwischen ist das Angebot dünn. Ein Teil dieser Entwicklung ist vermutlich damit zu begründen, dass die Konsumenten vermehrt nach lokalen, sprich regionalen, Produkten Ausschau halten. Ein Händler aus Berlin erklärte mir einmal voller Inbrunst: «Ich habe das gesamte Neue-Welt-Zeugs aus meinem Sortiment geschmissen». Mitten im Prenzlauer Berg, wo vermutlich viele seiner Kunden sich beim Frühstück Avocado und Erdnussbutter aufs Brot schmieren, frischgepressten Zitronensaft trinken und stolz auf ihren Filterkaffee aus Costa Rica sind. Aber gut, wir alle lernen ja laufend, mit unseren Widersprüchen im Einklang zu leben.
Die Chancen genutzt
Hinter diesem blinden Fleck verschwinden nicht nur die chilenischen Weine, sondern viele andere aus der Neuen Welt. Im chilenischen Fall spielt auch die Strategie der dortigen Produzenten eine Rolle. Wines of Chile, die lokale Vermarktungsagentur, zählt auf ihrer Website fünf Länder auf, die in den Fokus ihrer Vermarktung rücken. Die Schweiz und Deutschland gehören nicht dazu. Überhaupt wird Europa nur mit Grossbritannien in dieser Strategie ein Platz eingeräumt. Gewiss: Die Märkte in der Alten Welt werden bereits von den eigenen Produzenten bestens bedient, doch die chilenische Ausrichtung auf China, Kanada, die USA und Brasilien hält für uns Europäer eine weitere Lektion bereit – nämlich, dass die Märkte in der Ferne auch Entwicklungspotenzial bieten. So oder so: Man sollte diese Neue Welt neu entdecken.