Auch geduldiges Warten kann Glück bescheren

Bitte nicht zu viel carpe diem

Text: Miguel Zamorano

Hätte ich mehr Zeit, würde ich den folgenden Text stärker kürzen. Doch Zeit habe ich selten, und trotzdem sollte ich sie mir nehmen, sie ausreizen, wo immer es geht. Genauso bei den Weinen – schenken sie uns doch mit der Zeit grossen Genuss. Gut, dass Handel und  Winzer uns da zu neuen Entdeckungen verführen.

Seit jeher flüstern uns Dichter und Denker zu, dass Glück und Fortuna im Hier und Jetzt zu suchen sind. Die jahrhundertealte Losung «carpe diem» ruft uns zum Versuch auf, die Vergänglichkeit des irdischen Seins zu überwinden durch die Fokussierung auf das vor uns liegende Schöne. Auch wenn es eben für kurze Zeit ist. Es ist schon faszinierend, wie sich ein zentrales Motiv der Poetik und Kunst über die Zeit gerettet hat, um in unseren schnelllebigen Tagen mit Instagram & Co. ihre vorerst grösste Vollendung zu erleben.

Dabei lehrt der Wein, dass auch geduldiges Warten Glück bescheren kann. Dann also, wenn das beste Trinkalter näher rückt. Wann es so weit ist, das ist völlig relativ. Bei einigen Ports, denen das Attribut «unsterblich» anhaftet, erreichen wir vermutlich die besten Zeiten nicht. Und bei nicht wenigen Gewächsen der höchsten Güte, die so viel kosten wie ein Kleinwagen, hat man eh zu oft das Gefühl, diese zu jung geöffnet zu haben. Bei diesem Phänomen schlägt also das Pendel stets zwischen den beiden Extremen «zu alt» oder «zu jung» aus. Dazwischen liegt wenig. Doch es lohnt sich, genauer hinzuschauen.

Mir ist jüngst dessen ungeachtet aufgefallen, dass einige Winzer nicht nur ihre grossen Qualitäten, sondern auch ihren Mittelbau und die Basis länger auf der Flasche belassen wollen. Sie geniessen es, wie ihre Weine dann die Weinliebhabenden entzücken, mit ihrer ausbalancierten Entwicklung zwischen Frucht und Struktur, mit einem Mehr an Harmonie, die so manch junger Wein einfach nicht zeigen möchte oder zeigen kann. Bei drei der jüngst stattgefundenen Verkostungen ist mir das richtig bewusst geworden.

Etwa in Luzern, in der Vinothek Hauser, als Juliane Eller zu Besuch war. Die Rheinhessin, die mit ihrem einstigen Drei-Freunde-Projekt einem breiten Publikum bekannt wurde, hatte vor allem ihre Weissen aus den Jahrgängen 2020 und 2021 dabei. Der 2020er Riesling aus der Alsheimer Frühmesse macht jetzt schon ordentlich Spass. Bei einem Lagen-Riesling ist das allerdings auch wünschenswert – und erwartbar. Skeptisch war ich a priori hingegen beim Basis-Weissburgunder. Völlig zu unrecht, wie ich lernte. Denn die Struktur und Frucht hatten sich beim 2020er so gut miteinander vermengt, dass er das Geniessen zum jetzigen Zeitpunkt problemlos möglich macht.

Das hat seinen Preis. Ein Wein, der ein Jahr später auf den Markt kommt, bindet Kapital bei Händlern oder Winzern. Die höheren Kosten tragen dann die Verbraucher, und die machen das in der Regel ungern mit. Andererseits: Genuss in höheren Sphären darf seinen Preis haben.

Beim zweiten Aha-Moment präsentierten zwölf Winzer aus Bordeaux ihre Weine in Zürich. Besonders Château Villars ist mir in Erinnerung geblieben. Inhaber Thierry Gaudrie ist nach eigenem Bekunden ein Anhänger zweitligaspielender Mannschaften wie dem HSV Hamburg und Girondins Bordeaux. Ein Mann, der jedes Tor feiern muss – das ist carpe diem pur. Seine Weine aus den Jahrgängen 2016 und 2018 beweisen jedoch, dass sein Château in der ersten Reihe der Appellation Fronsac spielt. Dabei würde man denken: Okay, das sind jetzt nicht die sagenumwobenen Bordelaiser Jahrhundertjahrgänge. Doch das müssen sie auch nicht sein. Es reicht, dass man klassischen Jahrgängen ihre Zeit gibt. Eine Regel, die sich in Bordeaux fast immer bewahrheitet.

Was bedeuten schon zehn Jahre?

Ähnlich verhält es sich überall auf der Welt, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Die grossen Jahrgänge sind von fast zeitloser Eleganz, da macht fast jedes Haus einen grossen Wein. Eine Vertikale aus der toskanischen DOC Vino Nobile de Montepulciano zeigte mir das zuletzt eindrücklich. Die Annata 2012 Salco der Cantina Salcheto sticht besonders hervor, durch die Reihen der Anwesenden ging gänzlich ein Raunen, als der Wein ausgeschenkt wurde. Später wollten am Winzerstand alle nur diesen Jahrgang nachverkosten.

Jetzt frage ich mich, was in der Weinwelt knapp zehn Jahre eigentlich bedeuten. Für einige Gewächse ist das der Start zu etwas Grossem, für andere ist die gute Zeit längst vorbei. Der Trick liegt darin, den jeweiligen Weinen die passende Zeit zu gönnen. Im Hier und Jetzt ist nun mal nicht alles bezaubernd, auch die Zeit erlaubt uns, Gutes besser entwickelt zu entdecken. Wir sollten diese Abenteuer im Glas öfters wagen.

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