Verschiedene Verkostungssituationen liefern verschiedene Ergebnisse

Unterschiede in der Bewertung von Weinen müssen sein!

Text: Harald Scholl

Wer viele Weine verkostet und bewertet, kommt zu vielen unterschiedlichen Ergebnissen. Das ist allerdings kein Problem oder am Ende gar unprofessionell. Im Gegenteil. Es ist Ausdruck unterschiedlicher Verkostungssituationen und muss so sein. Alles andere wäre ein Problem.

Erinnern Sie sich an den 4. Juli 2004, an das «Wunder von Lissabon»? Damals gelang es dem krassen Aussenseiter Griechenland bei der Fussball-Europameisterschaft in Portugal, zum ersten – und bislang einzigen Mal – mit seiner Nationalmannschaft einen internationalen Titel zu erringen. Eine Mannschaft, die im Vorfeld niemand auf dem sprichwörtlichen Zettel hatte, die sämtliche Experten mit ihrer Leistung Lügen strafte, konnte am Ende den Pokal in die Höhe heben und sich feiern lassen. Was dieses 18 Jahre zurückliegende sportliche Ereignis mit diesem Magazin, also VINUM, zu tun hat? Keine Sorge, es gibt keine Pläne, aus unserem Weinmagazin eine Art «Kicker» zu machen, aber es hilft vielleicht dabei, so manches Ergebnis unserer Verkostungen besser zu verstehen. Immer wieder werden wir in Leserbriefen, in den sozialen Medien und in persönlichen Gesprächen gefragt, wie es zu den unterschiedlichen Bewertungen kommen kann, wieso ein und derselbe Wein einmal 88 Punkte bekommt, beim nächsten Mal 92 Punkte und dann plötzlich sogar Wettbewerbsgewinner werden kann.

Die Gründe für die unterschiedlichen Bewertungen sind tatsächlich umfangreich. Das beginnt bei den Menschen, die diese Weine verkosten. Im VINUM Magazin verkosten immer dieselben Redakteure all die Weine, die im hinteren Teil des Heftes, im sogenannten Guide, veröffentlicht werden. Seit Jahren und in unerbittlicher Konsequenz werden hier die Weine blind verkostet, häufig in mehreren Durchgängen und über Tage. Ähnliches gilt für den VINUM-Weinguide. Auch hier sind insgesamt 25 renommierte Verkoster für die 13 deutschen Anbaugebiete – plus Gastregion – zuständig, sie verkosten zunächst offen und dann blind in bis zu fünf Verkostungsrunden die Weine, haben sie teilweise über einen Zeitraum von bis zu vier Monaten immer wieder im Glas. Und dann gibt es noch unsere Wettbewerbe World of Rosé oder Riesling Champion. Hier wird unsere Redaktion von Experten und Expertinnen wie Sommeliers, Winzern oder Weinhändlern ergänzt. Diese Verkostungen finden je nach Menge der angestellten Weine an drei bis vier Tagen statt und sind danach abgeschlossen. Selbstverständlich werden auch hier die Weine blind verkostet, das heisst, die Flaschen sind unkenntlich gemacht. Und zu guter Letzt hängt es auch davon ab, welche Winzer ihre Weine überhaupt anstellen. Denn auch das ist doch klar: Nur wer mitmacht, kann gewinnen.

Diese Wettbewerbe vergleichen wir im Haus immer mit der eingangs beschriebenen Europameisterschaft. Wer da gewinnt, ist völlig offen, es hängt von der Tagesform des Weines und der Verkoster ab. Und davon ob der Wein zu diesem bestimmten Zeitpunkt seine beste Leistung zeigt – oder besser erst in zwei Monaten oder auch in vier Wochen probiert worden wäre. Ob der Wein in einer Gruppe mit schwierigen Weinen verkostet wird oder mit eher einfachen. Genau das macht aber den Reiz dieser Wettbewerbe aus, dieses Momentum, diese Unvorhersehbarkeit des Ergebnisses.



Es gibt Unterschiede – und das ist gut so!

Wir gehen sogar noch einen Schritt weiter. Wir würden uns tatsächlich Gedanken machen, wenn es solche Unterschiede in der Bewertung NICHT geben würde. Denn die Varianzen belegen deutlich, dass wir weder nach Namen noch nach Etikett noch nach vorangegangenen Ergebnissen fragen. Jede einzelne Verkostung ist ein Zurücksetzen auf den Status «Null», jeder einzelne Wein fängt bei jeder Verkostung wieder ganz von vorne an, wird neu beurteilt, exakt so, als ob wir ihn noch nie im Glas gehabt hätten. Und so ist es völlig erklärlich, dass ein Wein im April, kurz nach der Füllung, wenn er noch unruhig und gestresst vom Füllvorgang ist, anders im Glas steht als im November, wenn er ein halbes Jahr Ruhe hatte, um sich zu harmonisieren und zu finden.

Die grundsätzliche Frage, ob es sich um einen grossen oder um einen alltäglichen Wein handelt, die wird in beiden Fällen – fast – immer gleich ausfallen. Aber die exakte Wertung kann selbstverständlich um einige Punkte auseinanderliegen. Also, machen Sie sich keine Sorgen, wenn Ihr Lieblingswein einmal schlecht abschneidet bei einem unserer Tastings. Sondern hoffen Sie auf den nächsten Wettbewerb. Das machen die eingangs angesprochenen griechischen Kicker übrigens auch.