Die schrecklichen Ereignisse in der Ukraine erinnern uns auf tragische Weise daran, dass wir über Land, Leute und Kultur in Osteuropa eigentlich wenig wissen. Es ist Zeit, diese Lücke zu füllen. Wir brauchen mehr Verständnis. Und der Wein bietet dazu den perfekten Einstieg.
Am 24. Februar sass ich bei einem georgischen Weinhändler in Zürich und verkostete Saperavi und Rkatsiteli. Es war ein Eintauchen in eine Welt, von der ich bisher nur am Rande etwas mitbekommen hatte. Gewiss, die Weine Georgiens waren mir ein Begriff. In dieser Tiefe und Breite hatte ich jedoch bisher nicht die Gelegenheit, mich mit dem Thema auseinanderzusetzen.
Wie mit fast allem, was aus Osteuropa kommt. Nur bruchstückhaft sind die Bilder, die wir von dortigen Ländern und ihren Kulturen haben, stets beladen mit Klischees, manchmal mit Ressentiments und oft mit sehr viel Unwissen. Warum sollte das bei ihren Weinen anders sein? Nur ausgewiesene Experten machen sich die Mühe, stets auf dem Laufenden zu bleiben.
Vor längerer Zeit brachte mir eben einer jener Experten einen Wein aus der Ukraine mit. Der gute Freund hatte ihn bei der Odessa Sparkling Wine Company gekauft, die in dieser traumhaft schönen Schwarzmeermetropole seit 1896 Schaumwein macht. Das Unternehmen, vom russischen Zaren Nikolaus II. per Dekret ins Leben gerufen, trug damals den Namen «Henry Roederer Champagne Factory» und sitzt heute in einem Bau aus rotem Klinkerstein. Das Haus machte und macht gute Massenware, es dürfte zum Ruf und Ansehen der Schaumweine beigetragen haben, die die Menschen in der russischsprachigen Welt so gerne trinken.
Erst vergangenes Jahr kam ich in den Genuss, einen Schäumer von Château Tamagne zu probieren, einen Rosé Sekt Extra Brut aus Krasnodar, von der Halbinsel Taman. Es war erst kurz nachdem Präsident Wladimir Putin per Dekret den französischen Produzenten in Russland auferlegt hatte, ihren Champagner nun als Sekt anzumelden. Das Wort Champagner sollten nur die einheimischen Produkte tragen dürfen. Was haben wir alle damals gewitzelt und Scherzchen gemacht über Putins Vino-Nationalismus.
Jetzt hat der Kreml-Chef die Ukraine überfallen, niemandem ist mehr zum Lachen zumute. Stattdessen stehen wir fast atemlos neben uns, geblendet von den Nachrichten, die uns täglich der russische Krieg aus Mariupol oder Mykolajiw in die Timeline spült. Odessa droht ein ähnliches Schicksal wie den anderen Städten an der Küste der Ukraine.
Mit Putins Krieg geraten zudem die ukrainischen Weinberge in Gefahr – ähnlich wie die Champagne im Ersten Weltkrieg, die komplett zerstört wurde. Im schlimmsten Falle wird die gesamte Region am Schwarzen Meer annektiert, mit der Folge, dass auch die dortigen Rebflächen an Russland fallen würde.
Aktiv gegen die Machtlosigkeit
Man kann der Machtlosigkeit, die einen bei dieser Lage befällt, dennoch entgegentreten. In der deutschen Weinszene haben etwa der Fotograf und Winzer Andreas Durst und der Kommunikationsprofi Christoph Ziegler von sich reden gemacht. Gleich mehrere Male sind sie mit VW-Bussen an die polnisch-ukrainische Grenze gefahren, vollgepackt mit Medizin und Schlafsäcken für die ankommenden Flüchtlinge aus der Ukraine. Solche Massnahmen sind, neben der humanitären Geste, wichtig, sie signalisieren: Die Weinwelt schaut nicht nur zu.
Jetzt müssen wir nur noch unser Wissen über diese Region verbessern. Über die Länder, ihre Kultur, ihre Geschichte, über die Ängste und Hoffnungen der dortigen Menschen. Und natürlich über die dortigen Weine. Das Eine ohne das Andere – das lässt sich nicht trennen. Schliesslich ist Wein mehr Kultur- als Naturprodukt, er ist eine Narration über Arbeit, eine Ode an unser Savoir-faire als Spezies. Und letztlich ist Wein ein Speicher für unsere Erinnerungen und gemeinsamen Erzählungen.
Vor kurzem spürte ich das besonders deutlich, als ich in Budapest während einer Weinreise mit polnischen Händlern und ungarischen Sommeliers am Tisch sass. Schnell kamen wir auf die aktuelle Situation in der Ukraine zu sprechen. Ein polnischer Kollege nahm mich zur Seite, er sagte mir in freundlichem Ton: «Wir haben euch Deutschen immer und immer wieder gesagt: Putin darf man nicht trauen.» Ich wusste zunächst nicht, was ich darauf antworten sollte. Ich griff stattdessen zum Glas; die ungarischen Gastgeber hatten einen Tokaji Aszú mit 5 Puttonyos entkorkt. Der Jahrgang: 1956. Es war das Jahr, als russische Panzer in Budapest den Ungarischen Volksaufstand niederwälzten.
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