2022 war ein Jahr zum Abgewöhnen. Die Welt spielt verrückt, unsere Weinbranche spielt verrückt. Es ist Zeit, sich ein paar Gedanken zu machen, wie man 2023 etwas mehr Ruhe in den Alltag bringen kann. Etwa, indem man über die Wetterverhältnisse nachdenkt.
Was haben wir uns in der Schweiz alle Anfang des Jahres gefreut, als langsam die Normalität zurückkam. Auf den Strassen, auf den Messen und in den Kneipen hat man das Wegfallen der lang einschränkenden Covid-19-Massnahmen sofort gespürt. Allerorts war es voll mit Menschen, hungrig nach Geselligkeit und müde nach zwei Jahren Pandemie. Dann machten Putins Bomben auf die Ukraine prompt wieder Schluss mit Spass und Fröhlichkeit.
Seitdem drängen wir uns durch den Alltag, getrieben von der Sehnsucht nach einer Zeit, die wir irgendwo vor 2020 verorten. «Im Blick zurück entstehen die Dinge», trällert die Band Tocotronic passend dazu. Doch leben lässt es sich nur nach vorne. Und dort spielt die Welt derzeit verrückt, auch ganz ohne Breaking News aus Cherson oder Pennsylvania. Man spürt in der Weinbranche den Wunsch, alles, was zwei Jahre lang nicht stattfinden konnte, komprimiert in einem Jahr nachzuholen. Für uns Weinjournalisten bedeutet das: Überall sollen wir präsent sein, auf Verkostungen, Messen und Reisen. Winzer und Regionen, die einen 24-monatigen Besuchsschlummer hinter sich haben, präsentieren ihre Weine der Öffentlichkeit und wir sollen möglichst die Arbeit mehrerer Monate sofort kennenlernen und beurteilen. Eine Kollegin meinte dazu: «Die Branche dreht frei, dieser Rhythmus ist krank».
Kommt eine Null-Alkohol-Politik?
Ich gebe zu: Das ist Heulen auf sehr hohem Niveau. Der Wahnsinn macht allerdings vor nichts Halt. Auf Twitter las ich neulich, dass die WHO an der Reduktion des globalen Alkoholkonsums um 15 Prozent arbeite. Denken wir mal für einen Moment über die Auswirkungen einer möglichen Null-Alkohol-Politik auf unsere Branche nach. Diese Idee wird ja mittlerweile überall propagiert, auch das dürfte mit ein Grund sein, dass eine heranwachsende Generation die Finger von Wein und Bier lässt.
Der Branche bleibt so oder so keine grössere Veränderung erspart. Der Klimawandel, der in der Imagination Vieler immer noch morgen stattfindet (oder bitte erst ab 2050), beeinflusst schon jetzt den Ertrag vieler Weinregionen auf dramatische Weise. Im Wingert sind die Folgen täglich spürbar. Zum Beispiel im spanischen Rueda. Auf einer Reise durch die Region erzählte mir der technische Direktor der Kellerei Protos, dass die Temperatur in den Weinbergen diesen Sommer 40 Tage lang die 38 Grad am Tag nicht unterschritten hat. Ich musste zweimal nachfragen, weil ich dachte, ich hätte mich verhört.
Null Idiotie? Davon sind wir 2022 weit entfernt
Die Kräfte, welche Regionen wie Rueda ausgesetzt sind, sind durch nichts zu beeinflussen oder zu kontrollieren. Wenn Häuser wie Protos, die Rebmaterial von 280 Hektar beziehen und verarbeiten können, bei solchen Verhältnissen in die Enge getrieben werden, wie sieht es dann bei kleineren Familienbetrieben aus? Der Klimawandel stellt das gesamte gesellschaftliche Leben der Weinregionen aufs Spiel, mit ihrem Leben in Dörfern und kleineren Städten, wo Arbeiten und Leben auch deshalb möglich ist, weil irgendwo im Wingert Menschen Reben im Zyklus der Jahreszeiten erfolgreich kultivieren. Wer jetzt obendrein eine Null-Alkohol- Politik fordert und umsetzen möchte, sollte wissen, dass man damit die Weinregionen und die Arbeit an dem Kulturgut Wein negativ beeinflusst. Dieses Thema hielt mich beschäftigt, als ich bei der Rückreise auf die karge kastilische Landschaft blickte, die uns seit Jahrhunderten mit grossartigen Weinen beglückt.
Null-Alkohol-Politik also – muss man sich Sorgen machen? Die Chinesen betreiben ja auch eine Null-Covid-Politik und der Erfolg ist, nun ja, überschaubar. Und die WHO hat beim Kampf gegen die Covid-19-Pandemie von Anfang an keine gute Figur gemacht. Am besten wäre ja eine Null-Idiotie-Politik. Doch davon sind wir weit entfernt, auch das hat das Jahr 2022 auf beeindruckende Weise bewiesen.
Zurück in Zürich lag die neueste Nebenkostenabrechnung in meinem Briefkasten. 515 Franken mehr für Strom und Gas muss ich blechen, die Putin-Pauschale haut ganz schön rein. Andererseits: Ich kann heizen, die Wohnung ist intakt, im Kühlschrank liegt eine Flasche Cava. Und Familie und Freunde sind alle wohlauf. Wie geht das Lied von Tocotronic weiter? «Im Blick nach vorn entsteht das Glück.» Freuen wir uns auf das Jahr 2023.
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