Revolution in Weiss

Weisswein- Revolution am Horizont

Text und Fotos: Miguel Zamorano

Lange galt Tempranillo mit seinen anderen roten Rebpartnern als der einzige Weg zur vollkommenen Rioja-Erfahrung. Rotweine aus der Rioja stellten alle anderen Weine aus der Region in den Schatten. Doch das Blatt hat sich gewendet. Heute werden hier die besten Weissweine der Geschichte gekeltert. Die Winzer schöpfen dabei aus einem Fundus alter und neuer Rebsorten, die allesamt autochthon sind.

 

Der Besuch der Tabernas und Bares der Rioja-Capital ­Logroño ist eine freudige Angelegenheit. Die Weinkarten sind randvoll mit den Kreszenzen aus Spaniens wichtigstem Anbaugebiet. Crianza, Reserva oder gar ein Vino de Pue­blo – vieles steht flaschen- oder glasweise zur Verfügung, bereit, um entdeckt zu werden. Es sei denn, man möchte einen Blanco Riojano verkosten. Weisswein aus der Region? Fehlanzeige. Hier müssen Weissweinfans auf Verdejo oder Albariño zurückgreifen, die weissen Könige anderer spanischer Anbaugebiete.

Manch ein Winzer aus der Rioja schimpft wie ein wütender Spatz darüber. Zum Beispiel Miguel Angel de Gregorio, Eigner der Finca Allende. Nicht auszuhalten sei dieser Umstand, ruft er an einem kühlen Maiabend im schicken Restaurant in ­Logroño über den Gästetisch, mit hochrotem Kopf und wild fuchtelnden Armen. Miguel Angel de Gregorio erfüllt seinerseits die Bringschuld, es besser zu können.

«Wir legen unseren Maturana Blanca in Edelstahltanks. Wir möchten Reinheit und Frische.»

Raúl Tamayo, Weinmacher bei Nivarius

Mit im Gepäck hat er seinen Finca Allende Blanco, aus Viura und Malvasía gekeltert. Kenner verwenden nicht selten den Begriff «kleiner Burgunder», wenn sie den Einstiegswein im Mund haben. Darüber kommt eigentlich nur noch der Mártires aus dem gleichnamigen Weingarten und aus hundert Prozent Viura, über 50 Jahre alt. Der Wein benötigt nicht mehr den Zusatz «gross» – er zählt sicherlich zu den besten Weissen der ­Rioja. De Gregorio, einst das Enfant terrible der Rioja, macht diese Weine nicht erst seit gestern. Und doch erstrahlen die weissen Riojas erst seit kurzem in neuem Glanz. Neue Sorten sind hinzugekommen, alte wurden wieder neuentdeckt und vergessene Rebstöcke aufgepeppt. Bei jeder Rioja-Verkostung, egal wie gross oder klein diese ist, sorgen Viura, Tempranillo Blanco und Co. für «Wow»-Momente und eröffnen für viele Rioja-Fans neue Genuss-Horizonte. 

Eine neue Identität mit fast vergessenen Sorten

Um zu verstehen, wie es dazu kommen konnte, dass der Rotwein-Riese Rioja zu so einer Überraschung fähig ist, muss man in das Tal des Iregua, eines Ebro-Zuflusses. Das Dorf Nalda, knapp 20 Kilometer südlich von Logroño, hat Gründer Javier Palacios aufgesucht, um sein Weissweingut Nivarius aufzubauen. Zuvor hatte Palacios mit dem Rotweinprojekt Trus in ­Ribera del ­Duero viel Erfolg. Nun wollte Palacios, der eigentlich aus der ­Rioja stammt, sich an Weisswein versuchen – Nivarius ist das erste Haus, das sich in der Region komplett den weissen Sorten verschrieben hat. 2012 fand auf den 60 Hektar die erste Lese statt.

Im Jahr 2018 kam Weinmacher Raúl Tamayo dazu. Tamayo, 41 Jahre alt, hatte zuvor in Neuseeland und in Rías Baixas (Galicien) Erfahrungen gesammelt. «Von dort brachte ich viel Inspiration mit», erklärt er, «eigens für die Arbeit mit Maturana Blanca, der ja mit dem galicischen Godello verwandt ist.» 2008 wurde die Sorte, die lange als verschollen galt, in der ­Rioja (wieder) zugelassen. Die Sorte hat einen langen Vegetationszyklus und gedeiht daher gut in kühlen, windigen Lagen. Ideal sind auch sandige Böden mit geringem Lehmanteil – all das vereinen die Weinberge auf über 800 Metern in und um Nalda. «Zudem regnet es hier dank des Moncalvillo-Gebirges viel», erklärt Tamayo. «Wir haben die höchsten pH-Werte der gesamten Region in den Böden.» Die Voraussetzungen für Weissweine sind somit sehr gut.

Der Maturana Blanca vom Jahrgang 2018 aus dem 4,3 Hektar grossen Rebberg ­Finca la Nevera zeigt, was für ein Potenzial bisher noch ungeborgen vor sich hin schlummerte. Die Reben wurden nicht entrappt abgepresst und mit weinbergseigenen Hefen vergoren. Der Ausbau erfolgte im Edelstahltank, über 36 Monate reifte der Wein auf der Feinhefe. «Es ist die Sorte, die mir bei der Arbeit am meisten Spass macht», erklärt Tamayo. «Auch weil sie uns vor neue Herausforderungen stellt.» Tamayo zieht erneut die Winzer in Rías Baixas heran: «Sie legen ihren Albariño nicht ins Holz. Und so möchten wir einen Maturana Blanca machen – rein und frisch.» Man muss diese Ankündigung ernst nehmen, der 2018er Finca La Nevera ist so voller Säure und griffiger Phenolik, dass man ins Stottern kommt und sich zweimal vergewissern möchte, dass auf dem Etikett tatsächlich «Rioja» steht. 

«Es wurden hier noch nie so gute Weissweine wie heute gemacht.»

Juan Carlos Sancha, Winzer und Forscher

Viura, der Klassiker unter den lokalen Weissen, verträgt hingegen sehr gut Eichenfass. Allerdings sollte man es nicht übertreiben. Der Viñedos Viejos Reserva 2016 verbrachte zwölf Monate in der Barrique, mit nur 15 Prozent neuem Holz, der Rest wurde bis zu achtmal zuvor verwendet. Entsprechend zugvoll und schmelzig präsentiert sich die Selektion von über 70 Jahre alten Reben aus unterschiedlichen Lagen in Sonsierra und Alto Najerilla sowie im Moncalvillo-Gebirge.

«Schlendert man hier durch die Dörfer und schaut sich die Lagen genauer an, stellt man fest, dass viele alte Viura-Rebstöcke brach liegen», fährt Tamayo fort. «Und nicht nur Viura, sondern auch viele alte Traubensorten, die sich dank der jahrhundertealten Praxis der lokalen Weinbauern am besten etabliert haben.» Ein Schatz, den es zu schützen gilt: «Wir möchten mit unseren Weinen einen Beitrag zur Konservierung alter Genotypen der Sorten beitragen. Wir sind stets auf der Suche nach alten Lagen.»

Eine eigene Rebsorten-Identität

Die Industrialisierung des Weinbaus in der Rioja führte, wie in vielen anderen Regionen der Welt, vor 40 Jahren zu einer Vereinheitlichung der Klonsorten. Seitdem gibt es im Grunde genommen nur zwei Klone für Tempranillo Tinto. Und gab es 1912 noch 44 Sorten, waren es 30 Jahre später nur noch elf und im Jahr 2000 schliesslich sogar nur noch sieben. «Zu dem Zeitpunkt wurden gut 96 Prozent aller Flächen mit nur drei Sorten bewirtschaftet», erklärt Juan Carlos Sancha. Der Winzer hat sein Weingut knapp 30 Kilometer westlich von Nalda in Baños de Río Tobía, das Teil des Valles del Najerilla ist. Ausserdem lehrt er an der Universität Logroño Weinbau. Schon sein Urgrossvater hat Rebflächen in der Rioja bestellt, die er an die nächste Generation weiterreichte, und diese gab sie dann auch wieder an die nächste weiter. Als Sancha dran war, da hatte er bereits genug geforscht, um zu wissen: «Unsere Väter haben weniger Sorten geerbt als unsere Grossväter, und unsere Kinder werden noch weniger erben als wir.»

Es ist Sanchas Verdienst, dass dieser Trend erstmal gestoppt wurde. Gemeinsam mit Fernando Martínez de Toda Fernández arbeitet er an einem Projekt zur Wiederherstellung von Minderheitensorten. «Etwa 30 Sorten haben wir wiedergefunden», sagt Sancha. Maturana Blanca und Tinta, Turruntés und schliesslich Tempranillo Blanco wurden im Jahr 2008 offiziell ins Reglement der Rioja aufgenommen. Es ist ein Kampf gegen den Verlust der Diversität im Weinberg und für eine eigenständige Rebsorten-Identität, die auch künftigen Generationen zugutekommt. Auch dieses Engagement hat den Aufschwung einer weissen Rioja-Geschichte begünstigt. Sanchas Weissweine erfüllen auf ganzer Ebene den Anspruch einer eigenen Identität – sein Maturana Blanca und Tempranillo Blanco benötigen Zeit im Glas, um sich dem geduldigen Verkostenden zu öffnen. Sie führen weit weg von dem Easy Drinking, dem bisherige Rioja-Weinmacher beim Thema Weiss so gerne verfallen. Dabei ist Tempranillo Blanco zunächst auch das: eine einfach zu verstehende Sorte. Es handelt sich um eine neue, natürliche Mutation der roten Sorte Tempranillo. Die Weine daraus sind süffig und voller Zitrusfrucht, zierlich bis kraftvoll. Tempranillo Blanco hat mittlerweile den zweiten Platz eingenommen bei den weissen Trauben. Viele Winzer machen daraus sehr ordentliche Weine, die zwischen süffigen Terrassenweinen und strukturierten Gewächsen changieren. Zu den besten zählen der Villahuercos der Bodegas Javier San Pedro Ortega aus ­Laguardia in der Rioja Alavesa oder der El Yergo von Paco ­García aus Murillo de Leza in der Rioja Oriental. 

Gut 30 Jahre vergehen, bis eine Winzergeneration eine neue Rebsorte beherrscht, ihre Tücken versteht und daraus herausragende Weine macht. Juan Carlos Sancha ist überzeugt: «Es wurden hier noch nie so gute Weissweine wie heute gemacht.» Trotzdem bleibt viel zu tun. «Ich kann aus dem Stegreif hundert fantastische, legendäre Rotweine aus der Rioja aufzählen. Bei den Weissweinen bekäme ich momentan nicht einmal 20 zusammen.» Nach kurzer Überlegung fügt er hinzu: «Dabei wären natürlich die von Viña Tondonia. Für eine Pulle würde ich alles tun.» Lange hat die Kritik diese Weine geschmäht, galten doch die Reservas wegen der langen Fassreife als ein Bollwerk gegen die Moderne, gegen Frische und Leichtigkeit. Tempi passati, heute sind die Tondonia nur noch per Zuteilung erhältlich. Der Wein ist legendär.

Hoch in den Bergen von San Vicente de la Sonsierra führt eine Furche über die Höhenzüge der Sierra de Cantabria. Hierhin, auf 620 Meter Höhe, gelangt noch der Einfluss der Meereswinde vom Atlantik, in dieser Abgeschiedenheit wachsen über 40 Jahre alte Viura-Reben im Olagar Wingert. Remírez de Ganuza gab den ersten Jahrgang 2013 knapp acht Jahre später zum Verkauf frei. Vielleicht entsteht hier gerade eine neue Weissweinlegende.