Der grosse Scoop - Im Zentrum steht die Natur

50 Bordeaux die Sie kennen müssen!

Text: Rolf Bichsel 

Legendäre Bordeaux beeindrucken nicht nur durch Harmonie und Frische, dank grünerem Anbau haben sie auch an eigenständigem Ausdruck gewonnen. Einziges Problem ist ihre schiere, fast unüberschaubare Fülle.

Jedes neue Bordeaux-Jahr kennt seinen Scoop, und man weiss nie so recht, ob es sich dabei um einen Marketing-Gag handelt oder um eine echte News, ob er mit Absicht gestreut wurde oder zufällig auf den Nährboden der Gerüchteküche fiel und da fröhlich zu spriessen begann. Nach 200 Prozent neuer Barrique, biologischem Säureabbau im Fass, doppelter und dreifacher Auslese der geernteten Trauben oder Zweitweinen, die keine Zweitweine mehr sein sollten, sondern eigenständige Marken, mauserten sich Weingutsbesitzer quasi über Nacht zu fast-Biobauern, obwohl sie noch vor kurzem völlig dagegen gewesen waren. Sie leasten ein Jahr später Pferdegespanne, die pünktlich zur Primeur-Woche gemütlich durch die Reben kutschierten, sehr zur Freude aller Handyfotografen. Daraufhin wurde (in zufälliger Reihenfolge) das parzellenweise Einmaischen Mode oder das Separieren unterschiedlicher Pressweinqualitäten in den Barriques, das Verwenden alternativer Behälter wie Betoneier, Amphoren oder 500-Liter-Fässer oder jüngst die «Agroforstwirtschaft», das Pflanzen von Hecken und Hainen in den oder um die Rebparzellen zum Fördern der Artenvielfalt. 2022 hiess der Scoop «die grosse Überraschung» und wurde schon kurz nach der Ernte fleissig kolportiert.

Natürlich liess uns alte Hasen das wie immer völlig kalt. Wir glauben nur, was wir mit eigenem Gaumen schmecken und entdecken. Wir stellten uns wie immer pünktlich zur Primeur-Verkostungstournee ein, hielten selbstsicher und mit einem ironischen Lächeln das erste, dann das zweite und dritte Glas unter die Nase, nahmen, unsicher geworden, den ersten, zweiten, dritten Schluck und erlebten dabei – die grosse Überraschung. Einen Jahrgang mit einer solchen Menge mächtiger und doch ideal ausbalancierter, eigenständiger Weine hat es – an den klimatischen Bedingungen gemessen – in Bordeaux noch nie gegeben (mehr darüber ab Seite 126).

Natürlich fragen nicht nur wir uns, wie ein solches Wunder zustande kommen konnte in einem der heissesten und trockensten Jahre, die Wetterdienste je gemessen haben. Die Zuversichtlichen merken an, die Rebe sei eine besonders anpassungsfähige Pflanze und werde mit allen klimatisch bedingten Anforderungen fertig. Die Pessimisten stimmen dem zwar bei. Doch sie warnen gleichzeitig vor einer zu blauäugigen Sichtweise, die ihrer Meinung nach zum Nachlassen der Anstrengungen für eine grünere Anbaupolitik führen könnte. Es bestünde die Gefahr, dass Gutsbesitzer sagen: «Warum weiter in nachhaltige Entwicklung investieren, wenn die Rebe allein mit allen Problemen fertig wird? Allein die Qualität macht sich bezahlt, egal mit welchen Mitteln».

Wir sehen das nuancierter. Zwar zweifeln wir nicht daran, dass die Rebe grundsätzlich eine kräftige Liane ist, die gut mit vielen Bedingungen fertig wird. Doch wir sind auch der Überzeugung, dass Bordeaux echt grüner geworden ist. Ob aus ethischen oder pekuniären Gründen, ist eigentlich völlig egal. Selbst die am «konventionellsten» arbeitenden Güter zeigen mittlerweile Umweltbewusstsein. Daran wird sich nichts ändern. Allen Vorbehalten zum Trotz: Wenn Bordeaux 2022 einen grossen, mag sein, atypischen, vielleicht zukunftsweisenden Jahrgang einbringen konnte, liegt das nicht an der Anpassungsfähigkeit der Reben allein. Es ist auch den Machern und deren Bemühungen zu verdanken, Rebe und Landbau wieder ins Zentrum zu rücken sowie der Erkenntnis, dass die Suche nach dem heiligen Gral des bestmöglichen Weins nicht gegen die, sondern nur mit der Natur gelingt. Kellertechnisch gesehen verfügen heute alle grossen Weingüter der Welt über die gleichen Mittel. Nur eines unterscheidet sie: der Boden, auf dem die Pflanze wächst. Die Natur ist daher fast automatisch wieder ins Zentrum gerückt. Abgesehen von technischen Mätzchen, denen niemand mehr auf den Leim geht, kann nur die Natur garantieren, dass ein Wein sich vom anderen unterscheidet. Eine Kehrtwende liegt da einfach nicht drin. Dafür sorgen allein schon kritische Konsumenten, die zwar bereit sind, ihr sauer verdientes Geld für einen nach allen Regeln modernen Weinbaus erzeugten, eigenständigen, echten grossen Bordeaux auszugeben, nicht aber für eine Kopie einer Kopie eines solchen. Sie tragen ihren Teil dazu bei, dass Bordeaux nicht nur die weltweit führende Region grosser Weine ist, sondern es auch bleibt.

Die Zukunft wird noch ganz andere Anforderungen stellen. Etwa der Schutz vor der stetig wachsenden Gefahr von Hagel oder von Frühlingsfrösten aufgrund des Klimawandels. Oder der Erhalt der genetischen Vielfalt im Rebberg durch Massenselektion von alten Reben. Doch davon gibt es immer weniger. Die Lebensspanne industriell vermehrter und gepfropfter Reiser selbst massaler Selektion wird immer kürzer, die Anfälligkeit frisch gepflanzter Reben immer grösser. Es gibt auch diesbezüglich Lösungsansätze, etwa das Pfropfen direkt im Rebberg auf bereits gut angewachsene Unterlagen. Die Hände in den Schoss legen wird niemand.

Bordeaux, die Region mit Krisenschutz? Nein, massive Probleme gibt es auch hier. Doch es würde diesen Beitrag sprengen, im Detail darauf einzugehen. Sie betreffen nicht die grossen, meist historischen Güter, sondern die Weine der unteren Mittelklasse, etwa die unübersichtliche Menge der nicht klassifizierten Weine des Médoc, die einfachen Weine von Saint-Émilion und dessen Satelliten, die Côtes oder die «einfachen» Bordeaux, die niemand mehr will. Sie profitieren kaum vom Ruhm ihrer legendären Nachbarn, denen dieses Special gewidmet ist. Die Nachfrage nach den Weinen der rund 300 Güter, die «en primeur» verkaufen, ist hingegen ungebrochen, trotz des ausufernden Angebotes an qualitativ ausgezeichneten und stilvollen, präzise gekelterten Jahrgängen und Weinen, trotz ihres Rufes, besonders kostspielig zu sein. Kenner wissen längst, dass dies nur beschränkt gilt und grosse Bordeaux in puncto Durchschnittspreis mit anderen Regionen vergleichbar sind. Über die Preise grosser Bordeaux spricht man – im Gegensatz etwa zu den Preisen grosser Burgunder – häufiger, weil erstere im Gegensatz zu letzteren tatsächlich weltweit erhältlich bleiben. Das gilt selbst für ältere Jahrgänge. Auch auf die letzten zehn Jahre beschränkt bleibt das Angebot immens: 2013 hat schlanke, sehr trinkige Weine ergeben, die aktuell besonders gut munden. Die der Ausgewogenheit und Finesse verpflichteten 2014er machen ebenfalls grossen Spass, und die 2017er sind weiter so ausgewogen und einnehmend, wie sie schon «en primeur waren». Trotz ihres fülligeren Stils, oft spürbaren Alkohols und etwas harter Gerbstoffe kann man die ersten 2015er entkorken. Fleischige, doch knackig-fruchtige Weine von fast mediterranem Ausdruck findet der Geniesser 2018 und 2020. Mit seinen so vollmundigen wie saftigen und gut strukturierten, in sich sehr stimmigen Weinen ist 2019 das Jahr, das aus heutiger Sicht wie eine Vorbereitung auf 2022 wirkt. Dazwischen liegt 2021, der ideale Jahrgang für Freunde klassischer Bordeaux mit moderatem Alkohol. Bordeaux-Fans haben wirklich die Qual der Wahl.