Kultur
Kunst im Takt
Text und Foto: Ute Noll
Die Künstlerin verwandelt transparente Stoffe in geheimnisvolle Collagen. Dafür verarbeitet sie Garn oder durchlöchert den Stoff im Takt der Musik. So entstehen repräsentative Vorderseiten, unvollkommene Rückseiten und ein rätselhaftes Dazwischen.
Ich treffe Birgit Herzberg-Jochum in ihrem Atelier im schönen Stuttgarter Lehenviertel. Seit 2003 erschafft sie hier ihre Werke. Sie hat Textildesign studiert und liebt Materialien wie Stoffe, Farben, Kreiden, Kohle und Garn. Um 2003 herum begann sie, mit transparentem Stoff zu experimentieren. «Der transparente Stoff verhält sich anders als die robuste Leinwand», erklärt sie, «er erfordert viel mehr Aufmerksamkeit. »
Bei schneller Musik tupft sie im Rhythmus ihres Atems Farbe auf den durchsichtigen Stoff. Oder schlägt mit einem Nagel so heftig darauf, dass «fiese Geräusche» entstehen. Schmunzelnd fragt sie sich, was der Betrachter wohl denkt, wenn er die Zerstörung des Stoffes sieht. Ihre Kunst soll von allen Seiten wirken – jede Seite hat ihr eigenes Thema. Die Außenseite zeigt sich meist im guten Licht, die Rückseite offenbart das Unperfekte, wie Fäden, die herauskommen, weil sie nicht richtig verklebt sind. Auch das rätselhafte Dazwischen ist ihr Motiv.
Der berühmte Maler Sigmar Polke hat die Künstlerin inspiriert. Vielfältigkeit und ein unkonventioneller, experimenteller Umgang mit Motiven und Materialien zeichnen ihn aus. Auch das Reisen inspiriert sie. In der Bretagne vermittelten ihr Meer, Strand und Himmel ein Gefühl der Erhabenheit. So entstand ein Bild mit einem Rahmen, der gerade noch in ihr Atelier passte. «Die Natur zeigt uns das Leben: Wir werden geboren und wir sterben – irgendwann.» Vertrocknete Blumen, die überall in ihrem Atelier in Vasen stehen, dienen ihr als Vorlage für ihre Zeichnungen. Sie seien zerbrechlich, wie der Mensch im Alter. Auch Menschen, oft sind es Aktzeichnungen von weiblichen Modellen, webt, näht oder klebt sie in ihre Kunstwerke ein. Oder sie malt kleinformatige Porträts auf einem Untergrund aus Plastik. Meist ein bis zwei Stunden am Tag arbeitet Birgit Herzberg-Jochum an ihrer Kunst nach ihrer Arbeit als Referentin im Design Center Baden-Württemberg. «Design ist für mich etwas anderes als Kunst», sagt sie. «In meiner Kunst drücke ich mich aus. Kunst berührt oder irritiert mich, positiv oder negativ. Im Textildesign, wie ich es ausgeübt habe, geht es um Wohlbefinden, das sich über tausend Meter wiederholt.» Ihre Vision, Künstlerin zu werden, verfolgte Birgit Herzberg-Jochum konsequent und gegen alle Widerstände. In ihrer Familie, die wenig Geld hatte, galt: Eine Frau hat sich ausschließlich Mann und Kindern zu widmen. Glücklicherweise hat sie sich nicht daran gehalten, sondern ihre eigenen Ausdrucksformen gefunden. Selbst schwere Themen wirken in ihrer Kunst luftig und leicht.