Bordthäuser Sensorikschule • Mit allen Sinnen
Folge 2: Sehen, riechen, schmecken
Beim Weindegustieren gehen wir Schritt für Schritt vor: Wie sieht das aus, was wir da im Glas haben? Wie riecht es? Und dann geht’s ans Schmecken: Süss, salzig, sauer, bitter – das nimmt jeder individuell wahr.
Die Methode zur Erfassung eines Weines wird COS («Color – Odor – Sapor») abgekürzt und ist immer rückwärts gerichtet, das heisst, wir versuchen einen Wein zu entschlüsseln, zunächst über die optische Prüfung, über Farbe und Transparenz. Denken Sie zum Beispiel an die sogenannten Kirchenfenster. Zeichnen diese sich am Glasrand ab und sind besonders schwerfällig und dick, dann haben wir einen Wein mit hohen Extrakten und eventuell hohem Alkoholgehalt im Glas. Die optische Prüfung abstrahiert die Beobachtungen und ist nicht in gleichem Masse unmittelbar wie die gustatorische, olfaktorische oder haptische Prüfung.
Es folgt die olfaktorische Prüfung: Einzelne Geruchskomponenten und das Aromenspektrum werden entschlüsselt. Der Geruch eines Weines gibt Hinweise auf bestimmte Herstellungsmethoden: Wurde der Wein in der Barrique ausgebaut oder ist er spontan vergoren? Weinfehler werden hier bereits vor der Verkostung erkannt. Dem geübten Verkoster kann sich über den Geruch auch seine Herkunft erschliessen.
Zuletzt folgt die degustatorische Prüfung: der Geschmack als letztes Moment der wahrnehmbaren Eigenschaften. Aus allem ergibt sich das geschmackliche Gesamtbild: das Zusammenspiel von Optik, Nase und geschmacklichen sowie trigeminalen Reizen plus den retronasalen Komponenten, auch Rückgeschmack genannt.
Doch widmen wir uns zunächst dem Geschmackssinn. Obwohl in unserem täglichen Sprachgebrauch das Zusammenspiel von Zunge, Nase und Mundhöhle gemeint ist, bezeichnet er sinnesphysiologisch allein die Wahrnehmung mit der Zunge. Diese Wahrnehmung beschränkt sich auf die vier Geschmacksqualitäten süss, salzig, sauer und bitter. Sie sind allein zu schmecken, das heisst, man kann sie nicht riechen. Jede geschmackliche Wahrnehmung wird über diverse Hirnnerven an Hirnbereiche wie den Hypothalamus (wichtig für die Steuerung der Flüssigkeits- und Nahrungsaufnahme), das limbische System (eine Funktionseinheit, die unter anderem der Verarbeitung von Emotionen dient) und den sogenannten sekundären gustatorischen Cortex weitergeleitet. Klingt kompliziert, ist es auch – Nahrungskontrolle ist eine im Wortsinne todernste Angelegenheit, und über ähnliche Wege gelangen auch zum Beispiel Brechreize aus dem Gastrointestinaltrakt zum Zentralnervensystem: unsere innere Reissleine, wenn die degustatorische Prüfung versagt hat oder wir zu tief ins Glas geschaut haben.
Die vier Geschmacksqualitäten lassen sich in zwei Gruppen unterteilen: Geschmäcke mit Warnfunktion und solche, die für unsere Ernährung von Bedeutung sind. Süss signalisiert hohe Energiedichte. Je süsser, umso besser, ist die einfache Formel, die unserem Bauplan zugrunde liegt und nebenbei den Erfolg von Coca-Cola erklärt. Salzig ist ebenfalls positiv besetzt, denn es ist wichtig für unseren Mineralienhaushalt. Die meisten von uns kennen den Appetit auf etwas Deftiges nach einem weinseligen Abend. Süss und salzig sind also emotional positiv belegte Qualitäten. Sauer und bitter hingegen sind Warnindikatoren und emotional negativ belegt: Sauer signalisiert «Obacht!» und kann hinweisen auf Unreife oder Vergärung, also auf Nahrung, die noch nicht oder nicht mehr für den Verzehr geeignet ist. Bitter ist ein Alarmsignal und bedeutet «Giftig, Finger weg!».
Für die Wahrnehmung der Geschmäcke sind Sensoren in unterschiedlicher Dichte auf der gesamten Zunge verteilt: Jeder Mensch besitzt circa 9000 Geschmacksknospen, in denen jeweils 50 bis 100 sekundäre Sinneszellen gebündelt sind. Diese erneuern sich alle zwei Wochen. Vollständig ist ihre Zahl bei Kleinkindern, im Alter nimmt sie fortwährend ab. Darüber hinaus sitzen weitere Geschmacksrezeptoren im Rachenraum, in der Speiseröhre und am Rachensegel. Die Zungenzonen, wie sie in unseren Biologiebüchern standen, gibt es in dem Sinne nicht. Die meisten Rezeptoren liegen tatsächlich auf der hinteren Zungenhälfte und nicht im vorderen Bereich.
Jeder Geschmack hat seine eigene Wahrnehmungsschwelle. Für süss liegt sie in der Regel bei 0,5 bis 2 Gramm pro Liter, salzig wird meist bei einer Konzentration ab 1 Gramm pro Liter erkannt, während bitter bereits ab 4 Milligramm pro Liter wahrgenommen wird. Die Wahrnehmungsgrenzen sind individuell, kulturell verschieden und konditionierbar. Der eine findet einen Rotwein mit 15 Prozent Alkohol perfekt, der andere untrinkbar.
Doch was hat dies alles mit Wein zutun? Eine Menge. Über die Zunge nehmen wir seine Hauptmerkmale wahr: Ist er trocken, süss oder säurebetont? Die Säure eines Weines ist neben dem Alkohol eine Konstante, die auch durch Lagerung nicht abnimmt. Ein Wein kann auch bitter sein, über die Gerbstoffe, die Tannine und die Phenole. Und seine Mineralität kann ihn salzig erscheinen lassen. Diese vier Eigenschaften bilden das Grundgerüst der Weinbeschreibung. In der nächsten Ausgabe werden wir süss und sauer näher unter die Lupe nehmen. Bis dahin: weiterprobieren!