Das Märchen eines Grafen aus Württemberg, der ein Weinschloss in Saint-Émilion eroberte
Winzerlegenden Stephan und Sigweis von Neipperg
Text: Barbara Schroeder, Fotos: Rolf Bichsel
Es war einmal ein Graf aus Württemberg, der fern von der Heimat ein verwunschenes Weinschloss eroberte. Oder: Es war einmal ein kleiner Kaminfeger, der auf einem Fest Rotkäppchen erblickte, deren blondes Haar kess unter der Kappe hervorlugte und glänzte wie Gold, und der nie wieder von ihr lassen wollte. Im Nu eroberte er ihr Herz. Und wenn sie nicht gestorben sind…
Mit «Es war einmal…» beginnen meist Märchen. Märchen mit Königen und Prinzessinnen und Grafen. Und manchmal werden Märchen wahr. «Ja, Stephan und ich haben uns auf einem Kinderball kennengelernt. Ich war drei Jahre alt und als Rotkäppchen verkleidet», sagt Sigweis Gräfin von Neipperg schmunzelnd. «Und ich fünf und als Kaminfeger aufgetan», ergänzt ihr Gatte. «Wir haben uns gefunden und nie wieder verlassen. Ich habe meine Jugendfreundin geheiratet, keine einfache Sache! Die Bewerber standen Schlange! Sigweis war eine ausnehmend gut aussehende Frau – und ist es immer noch!» Sie passen ausgezeichnet zusammen, Sigweis und Stephan von Neipperg. Weil sie sich so ähnlich sind? «Nein, weil wir so grundverschieden sind, uns bis heute jeden Tag überraschen und darum ideal ergänzen», winkt Stephan ab, für einmal ganz ohne den gewohnten Schalk in den Augen. Fazit: Zur Weinlegende wurden die von Neipperg als unzertrennliches Paar.
Gelungener Neuanfang in Frankreich
Als altes deutsches Adelsgeschlecht aus Württemberg sind die von Neippergs seit Jahrhunderten im Weinbau tätig. Was zum Teufel hatten sie dann plötzlich im ländlichen Saint-Émilion verloren? «Das war die Idee meines Vaters», erklärt Stephan geduldig. «Er wollte in etwas investieren, das Zukunft hatte und von dem er was verstand. Deutscher Wein und Bordeaux waren für ihn ein und dasselbe. Aus heutiger Perspektive illustriert der Kauf von Canon la Gaffelière im Jahr 1971 seine Weitsicht. Damals war es ziemlich gewagt. Die Wunde des Zweiten Weltkriegs klaffte immer noch. Ein Deutscher, der im ländlichen Frankreich investiert, war nicht gerade selbstverständlich.»
Stephan wurde 1957 geboren, als fünftes von acht Kindern. Er studierte in Paris Politik und Betriebswirtschaft sowie Weinbau und Kellertechnik in Montpellier. Sein Vater wollte, dass eines der Kinder sich vor Ort um Canon la Gaffelière kümmere - Stephan brachte die besten Voraussetzungen mit. 1983 siedelte das junge Paar daher nach Saint-Émilion über und bezog eine ziemlich baufällige Arbeiterwohnung. Die Tapeten hatten 50 Jahre auf dem Buckel, Heizung gab es keine, sie schliefen auf Matratzen zwischen Kisten mit Hausrat. Stephan: «Ich war überzeugt davon, dass ich hier etwas aufbauen konnte. Das Potenzial war vorhanden. Den jüngeren Weinen fehlte es sicher an Struktur und Dichte, doch in den 1950er und in der ersten Hälfte der 1960er Jahre gelangen hier sehr interessante Jahrgänge. Wir mussten ganz einfach erst einmal lernen, warum das so war, was falsch gemacht wurde und was richtig.» Die Ausbildung in Montpellier half ihm nur zum Teil dabei. Er lernte, wie viel er exportieren musste, wie viel Kunstdünger es brauchte, die nötige Menge zu erzielen, und die routinemässige Ausbringung von vier Insektiziden.
Das war nicht die Art Arbeit, die ihn interessierte. «Wir träumten von echter Landwirtschaft im Einklang mit Terroir und Pflanze und versuchten rasch, diese Philosophie einzubringen.» Das ging nicht ganz ohne Aufsehen über die Bühne, hatte aber einen positiven Nebeneffekt: Die anderen Winzerfamilien begannen sich für die unkonventionellen deutschen Einwanderer zu interessieren. «Die Integration war verblüffend einfach. Die Hébrart (Cheval Blanc), Manoncourt (Figeac) oder Valette (Pavie) empfingen uns mit offenen Armen. Natürlich ist das dem Charme von Sigweis zu verdanken, dem einfach niemand widerstehen kann», sagt Stephan mit einem Augenzwinkern.
Die ersten zwei Jahre auf Canon la Gaffelière dienten der Bestandsaufnahme, dem Einarbeiten auf dem Gut, doch dann setzte Stephan nach und nach konsequent seine Ideen um. Er schaffte Kunstdünger ab – die Böden waren gesättigt mit Stickstoff –, verzichtete auf Unkrautvertilger und Insektizide, liess entblättern, Frühtriebe ausbrechen, Gras zwischen den Reben wachsen. Was heute zur Selbstverständlichkeit geworden ist, war damals eine Revolution. Stephan: «Unser Motiv war ganz und gar egoistisch. Wir wollten uns von unseren Nachkommen nicht vorwerfen lassen, das Familienerbe zerstört zu haben.» Sigweis: «Wir wollten lernen, mit der Natur zu leben und nicht gegen sie, glaubten mehr und mehr an die Nachhaltigkeit der Prozesse, kamen zur Einsicht, dass alles zusammenspielt: Philosophie, Religion, Kunst, Lebenshaltung. Alles unterliegt den Gesetzen des Universums, auch der Rebbau. ‹Wer über die Natur befehlen will, muss ihr gehorchen›, sagte Francis Bacon. Das entspricht uns».
«Wenn die Böden leben, lebt der Wein. Ist die Umwelt aus dem Lot, stimmt auch mit dem Wein etwas nicht.»
Der Jahrgang 1985 war um einiges besser als seine Vorgänger, seit 1988 brachte das junge Winzerpaar Weine von grosser Eleganz, Harmonie und Dichte auf die Flasche. Die Krönung dieses rasanten Aufstiegs war die Beförderung des bisherigen Grand Cru Classé und dessen Ableger la Mondotte zum Premier Grand Cru Classé (B) im Jahr 2012. Nach dem Erwerb von Clos l’Oratoire und Château Peyreau in Saint-Émilion und der Übernahme von Anteilen einer ganzen Anzahl weiterer Güter herrschen die von Neipperg heute über ein regelrechtes Weinimperium. Doch ihr eigentliches Verdienst bleibt die Umsetzung ihrer Philosophie in Praxis. Die Rebberge wurden mit Reben aus massaler Selektion neu bestockt – bis zu 300 unterschiedliche Cabernet- und Merlot-Familien koexistieren friedlich im Rebberg. Die Böden werden mit eigenem Kompost versorgt.
«Das Wichtigste sind lebendige Böden. Wenn die Böden leben, lebt die Traube, lebt der Wein. Ist die Umwelt aus dem Lot, stimmt auch mit
dem Wein etwas nicht. Tiere, Bakterien, Pilze, Pflanzen – alles ist miteinander verbunden. Das ist weniger abgehoben, als es tönt. Ein Beispiel: Die hohen Alkoholgrade der letzten Jahre und der Unterschied zwischen Tanninreife und Alkohol lassen sich ganz einfach auf die massive Verwendung von einem Antibotrytismittel zurückführen. Die Traube braucht länger, um voll reif zu werden, in der Zeit steigt der Zuckeranteil. Darum besitzen Bioweine im Schnitt ein Volumenprozent weniger Alkohol.» Canon la Gaffelière ist seit 2014 für biologischen Anbau zertifiziert.
Sigweis hat viel dazu beigetragen. Nach Romanistik- und Germanistikstudium, Kunstschule in Zürich und Bordeaux, einem Diplom für Gestaltpsychologie und Geobiologie sowie einer Ausbildung in Farbtherapie bildet die talentierte Malerin sich aktuell in Bioenergie weiter. Ihre spirituelle Seite bringt sie durch den Bau einer kleinen Kapelle auf Canon la Gaffelière zum Ausdruck. «Bildende Kunst hat mich schon immer interessiert. Malerei lebt unter anderem von Licht (wie die Rebe) und Farbe, Schwingungen, die, wenn die richtige Frequenz für die richtige Person stimmt, beruhigende, heilende Wirkung haben können. Darum habe ich mich ferner für Farbtherapie interessiert. Die Kapelle ist wie ein Gelübde, das ich abgelegt habe, obwohl deren Verwirklichung fast unmöglich schien. Ich wollte einen besonderen, harmonischen Ort schaffen, archaisch und rein, vom Denken und der Symbolik der Urchristen und anderer alter Religionen beeinflusst, nicht von der nachfolgenden negativen Entwicklung des Christentums mit Kirchenspaltung und Glaubenskriegen.»
Sigweis wirkt wie jemand, der nie innehält, stets in Bewegung bleibt. Stephan: «Sie ist ein Mensch, der Wellen schlägt. Ich erfahre sie heute anders als zur Zeit unserer Heirat – doch mit dem gleichen Herzen einer Frau, die nie aufhört, an sich zu arbeiten.» Und wie sieht Sigweis Stephan? «Stephan ist der Fels, an dem ich mich im Sturm festklammern kann. Wenn ich mit meinem Idealismus ein paar Zentimeter zu hoch in der Luft schwebe, holt er mich sanft, aber bestimmt auf den Boden zurück.»
Eleganz, Finesse und Klasse
Alle Von-Neipperg-Erzeugnisse sind heute besonders klassische, terroirtreue, hervorragend gemachte Weine, die man mit geschlossenen Augen erwerben kann.
Château Canon la Gaffelière 2018, Saint-Émilion Grand Cru, Premier Grand Cru Classé B
17 Punkte | 2026 bis 2038
Besonders verführerische, zurückhaltend fruchtig-blumige, positiv durch den hohen Anteil an Cabernet Franc geprägte Aromatik; im Mund von ausgesuchter Eleganz, Harmonie und Tiefe, die eng sitzenden Tannine balancieren ideal den Alkohol aus. Wird noch zulegen.
Château La Mondotte 2018, Saint-Émilion Grand Cru, Premier Grand Cru Classé B
17 Punkte | 2028 bis 2035
Intensive Aromatik von Gewürzen, Beeren und Kräutern; kräftiger Ansatz, voluminöse Entwicklung, grosse Spannkraft, vollmundig, noch etwas herbes, aber perfekt eingebundenes Tannin, von idealer Länge mit stützender Struktur. Unbedingt etwas reifen lassen.
Clos de l’Oratoire 2018, Saint-Émilion Grand Cru Classé
16.5 Punkte | 2026 bis 2035
Komplexe, würzige Aromatik, fruchtig auch, Waldbeeren; kompakt im Ansatz, gut gebaut, sogar mächtig, herbes, aber gut eingebundenes Tannin; erfreulich stiltreuer und im besten Sinn klassischer Wein aus dem Nordosten der Appellation Saint-Émilion.
Clos Marsalette 2018 (weiss), Pessac-Léognan
16.5 Punkte | 2024 bis 2028
Recht kräftiges Bouquet von Backgewürzen, Anis und Vanille, dann Aprikose; voller Ansatz, voluminöser Bau, die jugendliche Struktur und das ausbaugeprägte Finale eines Weissen, der noch ein, zwei Jahre reifen darf, besitzt Charakter, Fülle und Rasse.
Château d’Aiguilhe 2018 (rot), Castillon Côtes de Bordeaux
16 Punkte | 2024 bis 2030
Besonders fruchtiges Bouquet von roten und schwarzen Beeren; im Mund ausgewogen, geschmeidig, echt erfrischend, von idealer Länge; gefälliger, tadellos gekelterter Wein mit Spassgarantie.
Château d’Aiguilhe 2020 (weiss), Castillon Côtes de Bordeaux
16 Punkte | 2022 bis 2024
Hübsche Aromatik von Zitrusfrüchten, Grapefruit; saftig und knackig im Mund, kompakte Säure, gute Länge, erfrischender Wein, den man bereits geniessen kann.