Winzerlegende: Louis-Philippe Bovard

Spät berufener Revolutionär

Text: Thomas Vaterlaus, Fotos: Nicolas Righetti

  • Louis-Philippe Bovard
    Der Chasselas und die Säure, das ist für den Winzer ein ähnlich existenzielles Thema wie für Philosophen die Frage nach dem Sinn des Lebens.
  • Louis-Philippe Bovard
    Louis-Philippe Bovard will sein Lebenswerk in eine Stiftung umwandeln, damit seine Nachkommen später in seine Fussstapfen treten können.
  • Louis-Philippe Bovard
    Nur wenige Meter vom Genfersee entfernt befindet sich seit Generationen das Zuhause der Winzerfamilie Bovard.
  • Louis-Philippe Bovard
    Der Dézaley Médinette ist zwar der Prestige-Chasselas schlechthin, allerdings längst nicht das einzige Highlight im Sortiment der Domaine Bovard.

Er hat den Chasselas aus der Toplage Dézaley zu einem Grand Cru nach burgundischem Vorbild entwickelt und gleichzeitig im Lavaux neue Sorten wie Chenin Blanc, Sauvignon Blanc und Syrah etabliert. Seit exakt 30 Jahren revolutioniert der heute 79-jährige Louis-Philippe Bovard die Weinbauszene. Das gefällt nicht allen im konservativen Waadtland.

Es gibt Winzer, die denken schon im Alter von 30 Jahren an die Rente. Und es gibt Winzer, die sind mehr als doppelt so alt und haben immer noch dieses gefährliche jugendliche Funkeln in den Augen. Und während sie von ihren Ideen, Plänen und Projekten sprechen, füllt sich das Notizbuch des Journalisten rasend schnell, und seine Hand tut weh vom vielen Schreiben. Genau so ist es, wenn man den 79-jährigen Louis-Philippe Bovard trifft. Da steht er also vor einem, im vornehmen dunkelblauen Mantel und mit der ebenso dunkelblauen Schirmmütze auf dem grauen Haar, in seinen Reben hoch über dem See und erzählt gerade von einer neu gepachteten Parzelle oberhalb von Saint-Saphorin, welche er demnächst mit Syrah- Setzlingen bepflanzen will, die er aus den besten Hermitage-Lagen von Jean-Louis Chave selektioniert hat.

Louis-Philippe Bovard hat im wertkonservativen Lavaux mit dem Chenin Blanc, dem Sauvignon Blanc und dem Syrah nicht weniger als drei französische Sorten salonfähig gemacht. Das hat ihm den Ruf eines Revolutionärs eingebracht. Dabei ist seine grösste Leistung eine höchst konservative, nämlich die Rückführung des Chasselas zu seiner ursprünglichen Grösse. Das ist sein Lebenswerk. Und dieses ist noch lange nicht abgeschlossen. Genauer gesagt hat das entscheidende Kapitel eben erst begonnen…

Als vor sieben Jahren seine Mutter starb und er ihre Papiere ordnete, stiess er auf Aufzeichnungen seines Grossvaters, aus denen hervorging, dass dieser vor 120 Jahren mit drei verschiedenen Chasselas-Klonen gearbeitet hatte, etwa dem ertragsschwachen «Sélection Bois Rouge» für reichhaltige Böden und dem frühreifen «Vert de la Côte» für die hohen Lagen. «Als ich diese Aufzeichnungen las, fiel mir wie Schuppen von den Augen, dass wir in Bezug auf die Chasselas-Klone viel weniger weit sind als unsere Grossväter.

Heute wird zu 99,5 Prozent ein und derselbe Chasselas-Klon angebaut, von dem wir wissen, dass er angesichts der Klimaerwärmung nicht ideal ist», sagt Bovard. Und weil er ein Mann der Tat ist, handelte er sofort. Er trug 19 verschiedene Chasselas-Klone aus der Schweiz, Deutschland und Frankreich zusammen, darunter allein fünf uralte Klone, die am Genfersee schon vor dem Reblauseinfall kultiviert worden sind, und bepflanzte mit dieser Klonauswahl eine 0,3 Hektar grosse Parzelle oberhalb des Dörfchens Rivaz. Im Herbst 2012 sind nun die ersten Trauben aus diesem «Conservatoire Mondial du Chasselas» geerntet und versuchsweise gekeltert worden. Schon jetzt zeigt sich, dass Urklone wie der Giclet bis zu 0,8 Gramm mehr Säure pro Liter bringen können. Ja, der Chasselas und die Säure, das ist für den WinzerLouis-Philippe Bovard ein ähnlich existenzielles Thema wie für Philosophen die Frage nach dem Sinn des Lebens.

Auch wer schon hundertmal im Lavaux war, ist bei jeder Anfahrt wieder so ergriffen wie beim ersten Mal. Es gibt grosse Lagen, deren Einzigartigkeit man sofort intuitiv erfasst, gewissermassen körperlich, direkt und ohne Worte. Der Reisende verlässt die Autobahn bei Vevey und lässt in den nächsten paar hundert Metern noch etwas Agglomerations-Bauschrott hinter sich. Dann der Schnitt, so kühn wie in einem Hitchcock-Film. Von einer Sekunde auf die andere gibt es nur noch Wein und See. Wir bewegen uns in einer monumentalen, von Tausenden von Menschenhänden über 800 Jahre hinweg geschaffenen Skulptur aus rund 10 000 Rebterrassen, seit 2007 als UNESCO-Weltkulturerbe geschützt. Wer hier keine Gänsehaut bekommt, hat keine wirkliche Emotion für Wein! Und doch stellt sich einem jedes Mal auch die Frage, ob es sich hier einfach um ein bäuerliches Idyll mit einem bäuerlich-regionaltypischen Wein handelt oder ob sich der Chasselas hier tatsächlich so entfalten kann, dass er einen grossen Terroirwein von internationalem Format hervorbringt.

Wer diese Frage klären will, muss Louis-Philippe Bovard in Cully besuchen. Im Gegensatz zu den labyrinthartig verschachtelten Winzerdörfern wie Epesses und Riex, die inmitten der Rebbergsterrassen wie Vogelnester am Hang kleben, verkörpert das am See liegende Cully schon eine französisch anmutende Grandezza. Wenn der Föhn die Wellen mit Getöse an die Hafenmauer klatschen lässt und die Möwen kreischen, wähnt man sich fast schon am Meer. Nur wenige Meter vom See entfernt, hinter einem kleinen Vorgarten, befindet sich «La Maison Rose», seit Generationen das Zuhause der Winzerfamilie Bovard. Es ist in der Weinszene eben nicht unüblich, dass Revolutionäre in Herrschaftshäusern residieren. 

Mehr Säure, bitte!

Louis-Philippe Bovard fand spät zum Wein. Zwar kehrte er Ende der 50er Jahre nach dem Studium in Lausanne für vier Jahre ins elterliche Weingut zurück, doch sein Vater fühlte sich damals mit 58 Jahren noch zu jung, um die Verantwortung abzugeben. So schlug sein Sohn eine völlig andere Karriere ein. Er gründete eine Kommunikationsagentur, war Direktor des Office des Vins Vaudois, später auch Direktor des Comptoir Suisse, der grössten Verbrauchermesse in der Westschweiz.

Die Jahrzehnte gingen vorbei. Dann, am 2. März 1983, stellte ihm sein damals bereits 87-jähriger Vater doch noch die letztlich unausweichliche Frage, ob er den Betrieb übernehmen wolle. So wurde Louis-Philippe Bovard im Alter von 49 Jahren also «Jungwinzer» in zehnter Generation. Die späte Berufung hatte rückblickend gesehen aber auch ihre Vorteile. Denn während sich seine gleichaltrigen Winzerkollegen in den Dorfpinten wohler fühlten als auf dem Parkett einer sich zunehmend international definierenden Weinszene, hatte Louis-PhilippeBovard keinerlei Berührungsängste vor Spitzenwinzern und Starköchen. Der Jahrhundertkoch Frédy Girardet war der Erste, der ihm klarmachte, dass der Chasselas ein herrlich authentischer Essensbegleiter sein könnte, wenn er denn nur etwas mehr Ausdruck und etwas mehr Säure hätte…

Was ihm Girardet da antrug, war keine einfache Aufgabe. Bovard sollte mehr als zehn Jahre brauchen, um sie bis ins Detail zu lösen. Dabei half ihm seine Bekanntschaft mit der Elsässer Winzerlegende Léonard Humbrecht. Dieser riet ihm Ende der 80er Jahre, auf die Verwendung von Kunstdünger zu verzichten. Tatsächlich stiegen in der Folge die Säurewerte seiner Chasselas-Weine um rund zehn Prozent an. Zu jener Zeit kam es zudem in Mode, dem Chasselas einen Teil seiner natürlichen Kohlensäure zu belassen, um ihm so zusätzlich Frische zu verleihen. Auch Bovard praktizierte diese Form des Ausbaus, sogar bei seinem legendären Topwein, dem Dézaley Médinette. Aber nur bis zu jenem Tag in der Mitte der 90er Jahre, als der bekannte französische Weinjournalist Michel Bettane ins La vaux kam. Bettane hörte sich die Loblieder über den Dézaley als lagerfähigen Chasselas-Grand-Cru an, probierte dann die Weine und sagte: «Meine Herren, Weine mit wahrnehmbarer Kohlensäure können nach französischem Verständnis keine lagerfähigen Terroirweine sein. Dies ist nun mal ein Widerspruch in sich.» Louis-Philippe Bovard nahm sich die Botschaft zu Herzen.

Durch einen langen, behutsamen Ausbau auf der Feinhefe im grossen Holzfass, mit Bâtonnage vom Frühling bis zum Herbst und einer späten Abfüllung, oft erst 12 bis 15 Monate nach der Ernte, verbannte er ab dem Jahrgang 1999 die natürliche Kohlensäure aus seinem Médinette und gab ihm gleichzeitig jenen Schmelz und jene Komplexität, die man von einem Grand Cru erwartet. «Durch diesen Philosophiewechsel habe ich damals auf einen Schlag rund 30 Prozent meiner regionalen Kundschaft verloren, konnte diese aber durch Weinfreaks aus aller Welt ersetzen», erinnert sich Bovard.

Das Wichtigste für ihn ist aber, dass sein Grand Cru Médinette seither diese einzigartige salzige Mineralitätentwickelt, sobald sich die Primärfrucht nach vier oder fünf Jahren verabschiedet hat. Damit sich die Welt von der Grösse des gereiften Médinette überzeugen kann, hält er von den guten Jahrgängen jeweils einen Teil der Produktion zurück und bringt sie erst nach rund zehnjähriger Flaschenreife auf den Markt. Gegenwärtig sind noch die Jahrgänge 2004, 2002, 2001 und 2000 im Angebot.

Bei der Rückführung des Médinette zu einem Cru nach burgundischem Verständnis erleben wir Louis-Philippe Bovard als Traditionalisten. Sein Naturell als Querdenker, Erneuerer, ja Revolutionär lebt er dagegen in seiner «Collection» aus. Der Anstoss dazu kam ebenfalls von Léonard Humbrecht. Der brachte ihn nämlich 1988 nicht nur vom Kunstdünger weg, er schenkte ihm auch eine Flasche Chenin Blanc von der Domaine Huet mit dem Hinweis, dass diese Sorte eigentlich gut in den mittleren Lagen des Lavaux gedeihen müsste. 

Topwinzer als Paten

 Bovard nahm die Herausforderung an, besuchte Noël Pinguet von der Domaine Huet in Vouvray und pflanzte nur ein Jahr später Selektionen dieses Loire-Chenin in Saint-Saphorin an. Diese ergeben heute einen verblüffend dichten, vollstrukturierten Wein.

Beim Anbau des Syrah in Dézaley und Saint-Saphorin entlang der Mauern hatte er mit Tausendsassa Jean-Luc Colombo und Jean-Michel Gérin gleich zwei prominente Entwicklungshelfer. Auch mit dem Fokus auf Syrah hatte Bovard ein glückliches Händchen, bringt doch die Sorte heute hier so temperamentvolle, pfeffrige Weine hervor, wie wir sie im Wallis oder im nördlichen Rhonetal kaum mehr finden. Weil alle guten Dinge drei sind, nahm Louis-Philippe Bovard Mitte der 90er Jahre auch noch den Sauvignon Blanc ins Visier. Dabei kooperierte er mit dem eigenwilligen Loire-Winzer Didier Dagueneau, mit dem er bis zu dessen frühem Tod eng verbunden blieb.

Dagueneau motivierte Bovard auch dazu, gewisse Elemente des biodynamischen Anbaus zu übernehmen, soweit dies angesichts der extremen Zersplitterung der von Bovard bewirtschafteten Rebfläche (die 17 Hektar verteilen sich auf rund 100 Parzellen) überhaupt möglich war. Der Sauvignon Blanc von Bovard bietet glücklicherweise mehr als Stachelbeere pur. In Epesses entwickelt die Sorte zusätzlich auch Noten von Cassis, Waldkräutern und Limonen sowie eine überraschend kraftvolle Struktur. Louis-Philippe Bovard hat in den vergangenen 30 Jahren bewiesen, dass der Chasselas in den Terrassen über dem Genfersee zwar so individuelle Weine hervorbringen kann wie kaum anderswo auf der Welt, er hat aber auch gezeigt, dass die Verbindung von Chasselas und Lavaux keineswegs so absolut beziehungsweise «von Gott gegeben» ist, wie es jene Mehrheit der Winzer gerne darstellt, die sich unter dem Deckmantel der Tradition gegen Neuerungen wehrt.

Für Bovard ist Tradition dagegen nur dann wirklich ein Wert, wenn sie ständig von neuem hinterfragt und weiterentwickelt wird. «Aber wissen Sie, ich bin sehr stolz darauf, dassich hier im Lavaux mit 79 Jahren noch immer als Outsider gelte», sagt er mit dem typisch sanften Lächeln eines Mannes, der in gewisser Hinsicht über den Dingen steht.

Louis-Philippe Bovard Chasselas-Crus und mehr

Der Dézaley Médinette ist zwar der Prestige-Chasselas schlechthin, allerdings längst nicht das einzige Highlight im Sortiment der Domaine Bovard.

Weine des Winzers

 1 Dézaley Médinette 2011

17 Punkte | 2013 bis 2025

Toller, finessenreicher Dézaley aus einem warmen Jahr. Typische Aromen von weissen Blüten, Kräutern, Brotrinde, dazu eine Spur Waldhonig. Im Gaumen ausgewogen, mit viel fruchtbetonter Finesse, Klasse und Schmelz.

 

2 Dézaley Médinette Grand Millésime 2001

17.5 Punkte | 2013 bis 2017

Ungewöhnlich filigraner, ja geradliniger Dézaley aus einem eher kühlen Jahr. Aromen von Nüssen, Kräutern, Brot und edlem Firn. Im Gaumen überaus saftig, klar und ausgewogen. Wird von einer frischen, saftigen Säure geprägt. Erinnert an einen perfekt gereiften Chablis und zeigt exemplarisch das Entwicklungspotenzial eines grossen Dézaley auf.


3 Buxus Sauvignon Epesses 2011

17 Punkte | 2013 bis 2017

Dieser aussergewöhnliche, komplexe Sauvignon reift in Epesses auf tonhaltigen Kiesböden. Verhaltene Aromen von Stachelbeere, dazu Cassis, Holunder und eine Spur von Moschus und Irisch Moos. Im Gaumen kraftvoll und vielschichtig. Tolle, cremige Säure im Abgang. Louis-Philippe Bovard empfiehlt dazu Kabeljau an Rosmarinbutter.


4 Ilex Calamin Cuvée Spéciale 2011

16.5 Punkte | 2013 bis 2016

Prototyp des modernen Chasselas. In Calamin auf eher schweren Böden gereift, in Barriques ohne Säureabbau vinifiziert. Aromen von süsslicher, exotischer Frucht, ein Anflug frischer Kräuter. Sehr gut integrierte Eichenholzwürze. Im Gaumen überraschend vollmundig und kräftig.

 

5 Salix Chenin Blanc 2011

17.5 Punkte | 2013 bis 2018

Reift in Saint-Saphorin auf kiesigen Tonablagerungen. Tolle, extravertiert wirkende Aromatik mit Jasminblüten, Zitronenmelisse und edlen Würznoten. Im Gaumen sehr voll und dicht strukturiert. Komplexer, überaus eigenständiger Chenin von grosser Ausdruckskraft.

 

6 Dézaley Rouge Grande Cuvée 2010

17.5 Punkte | 2013 bis 2019

Assemblage von Merlot und Syrah aus den wärmsten Lagen entlang der Terrassenmauern in Dézaley. Rote und dunkle Beeren, dazu frische Minze und edler schwarzer Pfeffer. Im Gaumen weich und sanft, aber auch kraftvoll, mit viel feinkörnigem, reifem Tannin und einer saftigen Säure. Komplex und trinkig zugleich. Ein Genuss nicht nur zu klassischen Fleischgerichten, sondern auch zu dunkler Schokolade.

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