Winzerlegende: Anne-Claude Leflaive
Die gute Hexe aus dem Burgund
Interview: Barbara Schroeder; Text und Fotos: Rolf Bichsel
Die Domaine Leflaive gehört zu den legendären Spitzenbetrieben des Burgund – und zu den Biodynamie-Pionieren. Seit 1990 ist Anne- Claude Leflaive dafür verantwortlich. Sie ist mittlerweile selbst zur Ikone geworden.
1993 – Verkostung mit Anne-Claude Leflaive. Auf dem Tisch stehen drei Weine. Die gleichen sich und sind doch total verschieden. Der dritte hat es dem Besucher besonders angetan. Er scheint herber, aber auch dynamischer, frischer als die beiden anderen. Eine Parzelle, drei Weine, drei Anbaumethoden: traditionell, biologisch, biodynamisch. Der biodynamische ist die Nummer drei.
2013 – biodynamischer Anbau ist akzeptiert und in Mode. Anne-Claude Leflaive hat nichts mehr zu beweisen. Abgeklärt und weise geworden ist sie deswegen nicht. «Ich bin sicher, ich werde 120 Jahre alt. Da bleibt genügend Zeit für weitere Abenteuer», erklärt sie und zieht einen Schmollmund wie ein junges Mädchen. Anne-Claude – ein Starrkopf? Nein, starrsinnig ist sie nicht. Nur dickköpfig, und auch das nur, wenn sie weiss, dass sie recht hat. Also so gut wie immer.
«Es genügt nicht, den Kopf in den Sternen zu haben. Man darf die Verbindung zum Konkreten nie verlieren. Dieses Haus ist die Konkretisierung meiner Lebensphilosophie.»
Anne-Claude empfängt Besucher im neuen Heim. «Als Kind mochte ich Hütten. In diesen Nischen legte ich mir meine eigene Welt zurecht.» Die Nische, in der sie heute meditiert und Mittagessen kocht und deren Gästezimmer sie ganz offiziell vermietet, hat eine ihrer drei Töchter entworfen. Marine hat in London Öko-Architektur studiert und in Nuits-Saint-Georges das ökodynamische Architekturbüro AZCA gegründet. Das Ökohaus von Mutter Anne-Claude ist ganz auf ihrem Kompost gewachsen buchstäblich, denn das völlig unabhängig funktionierende Nullkarbonhaus aus einheimischen Baumaterialen ist mit Trockentoiletten versehen, und der Besucher trägt seine Fäkalien im hübschen Kesselchen zu diesen – «Sie werden sehen, der Weg nach Kompostella (!) ist eine ganz neue Erfahrung».
Natürlich sind Mutter und Tochter mit diesem Projekt überall angeeckt. Die Windturbine mache zu viel Lärm, das Generatorhaus sei am falschen Ort, und die Sonnenkollektoren seien unästhetisch. Es gibt erst 15 autonome Häuser in Frankreich. Die meisten stehen auf dem Land und nur eines mitten in einem traditionellen Burgunder Winzerdorf. «Wir Ökos machen Angst. Wer Gewohnheiten infrage stellt, ist verdächtig.» Doch die Realisierung ihres ganz eigenen Wolkenkuckucksheims sowie des neuen eiförmigen Domänenkellers, ebenfalls von ihrer Tochter entworfen, war für Anne-Claude zentral. Theorien sind gut – Praxis ist wichtig.
«Es genügt nicht, den Kopf in den Sternen zu haben. Man muss auch mit beiden Füssen auf der Erde stehen. Man darf die Verbindung zum Konkreten nie verlieren. Dieses Haus ist die Konkretisierung meiner Lebensphilosophie. Es steht da, wo ich als Kind Verstecken spielte.» Anne-Claude Leflaive, eine Träumerin, die nicht erwachsen werden will? Dann hätte sie wohl kaum über zwei Jahrzehnte an der Spitze des legendären Familienbetriebs überstanden. Sie musste sich ihren Platz erkämpfen und erhalten. Denn die 30 Aktionäre haben alle zwei Jahre die Möglichkeit, die Querdenkerin abzuwählen und auszubooten – ganz ohne Rekurs und Kündigungsfrist.
«Ich eine Träumerin? Ach Quatsch. Ich bin viel zu mental. Ich will den Dingen auf den Grund gehen, suche nach dem Sinn des Daseins. Doch ich arbeite an mir und strebe danach, intuitiver an alles heranzugehen.»
Ein unglaublicher Dickschädel
Dabei hat sie doch einiges an Intuition bewiesen. Damit, dass sie mit 24 ein Praktikum auf der elterlichen Domäne erzwang – gegen den Widerstand ihres Onkels, aber unterstützt von ihrem Vater. Dass sie trotz gutem Job als Lehrerin für Marketing auf Weinbau und Önologie umsattelte, obschon die Chancen, dereinst den Familienbetrieb leiten zu können, minimal waren – es gab besser platzierte (männliche) Bewerber. Dass sie zu einem Zeitpunkt an die Biodynamie glaubte, als diese noch in Acht und Bann stand. Dass es ihr gelungen ist, ihre Mitarbeiter und den erfahrenen Rebmeister Jean-Claude Bidault auf ihre Seite zu ziehen, die sich, als sie um ihre Meinung gebeten wurden, nach den Jahren des Erfahrungsammelns einstimmig für diese Anbaumethode entschieden. «Weil sie mich seit fast 20 Jahren kannten und mir vertrauten. Wäre ich 1990 als Neuling angekommen und hätte alles über den Haufen geworfen, sähe die Sache anders aus.»
Doch vielleicht ist das gerade ihre Stärke. Dass sie es versteht, die sogenannte weibliche Seite – Intuition, Kreativität, Sensibilität – mit der sogenannten männlichen zu verbinden: Realismus, Hartnäckigkeit, Geduld. «Geduld, eine typisch männliche Eigenschaft?» Anne-Claude beisst sich auf die Unterlippe und zieht eine Grimasse. «Das hat eher mit meinem Sternzeichen zu tun. Ich wurde unter einem guten Stern geboren, war im richtigen Moment am richtigen Ort.» Anne-Claude Leflaive ist Steinbock und Astrologie seit langem ihr Steckenpferd. Wie Yoga und Meditation.
Im Keller ticken keine Uhren
Im Holzhaus gibt es ein Meditationszimmer mit Tatami und Blick auf die Reben. Da sucht sie das innere Gleichgewicht und die Ruhe. Früher hörte sie Pink Floyd. Heute genügt ihr das Plätschern des Regens auf den Glasfenstern oder das Schreien der Eulen. Die Natur, so weiss sie, ist lautreicher als die Stadt, wo Kopfhörer am Ohr festwachsen, Leute in Seifenblasen wandeln und reagieren, als würden sie vergewaltigt, wenn jemand die Blase platzen lässt, um nach dem Weg zu fragen. Die Laute der zwischenmenschlichen Beziehungen haben sich verändert. Kommuniziert wird nur noch über die Technologie, das Internet. Der Wein ermöglicht wenigstens noch Austausch unter Menschen. Im Keller ticken keine Uhren. Da geht jedes Gefühl für Zeit verloren. Computer und Tablet bleiben draussen.
Für das allgemeine Wohlgefühl gibt es im Ökohaus keinen Wi-Fi-Anschluss. Ihre Kinder sind mit natürlicher Medizin und gesunder Ernährung gross geworden. Und sind Reben nicht auch eine Art Kinder, die man gesund ernähren kann oder eben gerade nicht? «Mutter sein ist das grösste Gefühl im Leben», sagt Anne-Claude. Und weitet den Blick aus auf den gesamten Kosmos, in dem alles mit allem verbunden ist.«Nehmen wir zum Beispiel die Farbenlehre. Farben sind Sprache. Meine Kleidung heute? Rot für das Bewusstsein, das sich öffnet, Braun für die Geschichte der Familie, die Vergangenheit, die ich nicht gerne trage und die doch an mir klebt, Beige für den Sand, für die Pause, das Abschalten.»
Die Farben der Region? «Rot und Gold. Gold für das Kosmische, das Himmlische. Rot für die Verbindung zur Mutter Erde, zum Konkreten.» Yin und Yang im Burgunder, der darum so harmonisch schmeckt? Die Antwort bleibt aus. Doch der Blick spricht Bände, halb spöttisch, halb zornig, halb amüsiert, halb revoltierend. 200 Prozent Anne-Claude Leflaive, die mit ihrer weissen Wuschelfrisur einer präkolumbianischen Statuette gleicht oder der Hexe aus«Hänsel und Gretel» – «früher hätte man mich auf dem Dorfplatz verbrannt». Da kann eine provokante Frage auch nicht mehr Unheil anrichten: Die Biodynamie, Frau Exmarketinglehrerin, ein gut eingesetztes PR-Konzept? Die Göttin lacht laut heraus und fletscht die Zähne. Doch der Bannfluch bleibt aus. «Fürs Marketing hätte Bio gereicht. Das ist genauso in Mode und verlangt weniger persönlichen Einsatz.»
Der Entschluss zur Umstellung reifte auf einer einjährigen Segeltour rund um die Welt mit der ganzen Familie. «Es gab keine andere Lösung, als die synthetischen Produkte abzusetzen, welche die schönsten Böden dieses Planeten vergasten.» Nach ihrer Rückkehr schritt sie zur Tat und stellte sich tapfer den Spöttern die sich über sie lustig machten und ihr das baldige Aus prophezeiten. Eine traditionelle Burgunder-Domäne von Weltruf, auf der plötzlich homöopathische Präparate nach Sternenkonstellation und Mondzyklen angerührt wurden! Die Aktionäre haben sie nur machen lassen, weil sie den Beweis erbringen konnte, dass Biodynamie zumindest kein strukturelles Risiko darstellte oder die Rentabilität gefährdete.
Die Ertragsmenge nahm zwar ab, doch die Produktionskosten auch. Pflanzenpräparate sind kostengünstiger als die Chemie der Weltkonzerne. Hätten sich die Mitarbeiter geweigert, die Präparate auszufahren, hätte sie das selber getan. Und sie hatte sich ein klares Limit gesetzt: Nach sieben Jahren sollte die Umstellung geklappt haben, sonst hätte sie ihren Hut genommen. Der Wechsel begann aber nicht von heute auf morgen. Anne-Claude wollte nichts überstürzen und richtete ein kleines Önologielabor ein, in dem sie ihre Analysen selber durchführen konnte.
Während sieben Jahren verfolgte sie den biologischen und biodynamischen Anbau auf drei Parzellen (Puligny-Montrachet, Le Clavoillon und Bienvenues- Bâtard-Montrachet) mit identischem Terroir, Unterlagen und Rebenalter, deren Ernte getrennt abgefüllt wurde, und verglich die Weine anonym mit Winzerfreunden und Kunden. Anfangs wirkten die Tropfen aus biodynamischem Anbau rustikaler. Als bräuchten die Reben Zeit, sich von der Chemie zu erholen. Doch schlussendlich setzte sich die Biodynamie durch.
Ein Biolabel braucht sie nicht
Für Naturmenschen, die das ganze Jahr draussen in der Natur arbeiten, sind Mondzyklen kein Firlefanz. Doch die Nachkriegsgeneration hatte die Verbindung zur Erde verloren. Dank synthetischer Produkte konnten Produkte konnten Winzer mit ruhigem Gewissen in die Ferien fahren. Sie ignorierten den Schaden an Pflanzen und Umwelt. Jetzt steht eine neue Generation am Ruder.
«Chemische Präparate ermöglichen es, Weine jünger zu trinken. Ich strebe nach der Typizität unserer alten Weine. Junge Weine machen Spass, aber sie lösen kaum Emotionen aus.»
Für sie ist die Beobachtung der Natur selbstverständlich. Und Anne-Claude Leflaive kann heute beweisen, dass Biodynamie grössere Präzision und Transparenz erlaubt und einen besseren Ausdruck des Terroirs. Bei einem Puligny-Montrachet bedeutet das Tiefe und aromatische Komplexität, die sich über 40, 50 oder 100 Jahre entwickeln kann. «Chemische Präparate ermöglichen es, Weine jünger zu trinken. Ich strebe nach der Typizität unserer alten Weine. Junge Weine machen Spass, aber sie lösen kaum Emotionen aus.» Stimmt: Wer erinnert sich schon an einen 2006er oder 2008er? Einen 1887er oder einen 1925er vergisst man jedoch nicht so schnell.
Warum Anne-Claude Leflaive kein Biodynamie-Label auf dem Etikett haben will? «Warum soll ich beweisen, dass ich mit natürlichen Produkten arbeite? Es wäre an den 80 Prozent der französischen Winzer, die immer noch synthetische Produkte verwenden, darüber zu informieren: ‹Dieser Wein stammt aus Rebbergen, die mit Unkrautvernichtungsmitteln und Pestiziden behandelt wurden.› Den Konsumenten interessiert doch, wer ihn vergiftet, und nicht, wer das nicht tut.
Anne-Claude Leflaive - Rar und gesucht
Die legendären Spitzenweine der Domaine Leflaive sind rar, gesucht und relativ teuer. Viel günstiger hingegen ist der Mâcon oder der «einfache» Bourgogne Blanc, der zu den Besten seiner Kategorie gehört. Wir haben sechs Weisse und einen Fremdgänger für Sie ausgesucht.
Weine des Winzers
1 Clau de Nell Cabernet Franc, Anjou (Loire) 2011
15.5 Punkte | 2014 bis 2018
Der Clau de Nell stammt aus Anjou (Loire), wo Anne Leflaive das Weingut von Claude Pichard übernommen hat. Schöne Cabernet-Franc-Würze, saftig im Mund mit bekömmlich-herbem Finale. Süffig, unkompliziert, sehr sauber gemacht.
2 Bourgogne 2010
16 Punkte | 2014 bis 2018
Würzige, aromatische Nase, leichter Eichentouch und Limone, saftig im Mund, gut gebaut für einen Bourgogne, hübsche Bitternote im Finale.
3 Mâcon-Verzé, Mâcon-Villages 2010
16 Punkte | 2013 bis 2020
Von zurückhaltender Würze, füllig, aber auch erfrischend und folglich sehr gut ausbalanciert. Macht schon Spass und kann doch reifen.
4 Puligny-Montrachet 2010
17 Punkte | 2015 bis 2022
Komplexer als der Bourgogne, gut strukturiert, dicht und saftig, hat Klasse. Ein Village mit Premier-Cru-Charakter.
5 Puligny-Montrachet Clavoillon Premier Cru 2010
17.5 Punkte | ab 2025
Wie immer mineralischer, kräftiger als Les Pucelles, mit ausgeprägter, markiger, aber nicht aggressiver Struktur, ganz ohne Bitterkeit, aber sehr, sehr lang. Unbedingt reifen lassen.
6 Puligny-Montrachet Les Pucelles Premier Cru 2010
18 Punkte | 2014 bis 2015 oder ab 2022
Zurückhaltende, delikate Aromatik, dicht, ungemein klar gezeichnet und mit tragender Struktur im Mund, besitzt Fülle und Rasse und damit grosse, einmalige Harmonie. Herrlich.